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3. Silberkordel

Auf das Kreiswehrersatzamt war Verlass.

„Sie werden von uns hören“ waren die letzten Worte des Oberlippenbartträgers gewesen und tatsächlich lag nach zwei Jahren ein Einberufungsbescheid im Briefkasten.

Die Fleischbeschau und das anschließende Vorstellungsgespräch mussten demnach -obwohl Jakob nur zwei Worte, nämlich zweimal „Nein“ gesagt hatte -erfolgreich gewesen sein. Sehr erfolgreich sogar. Denn der Einberufungsbescheid war weitaus höflicher als die damalige schroffe Aufforderung zu Musterung.

„Sehr geehrter Herr!“, stand darauf. „Nach dem Musterbescheid vom 18.07.1983 stehen Sie für den Grundwehrdienst zur Verfügung. Sie werden gebeten, sich am

01.10.1985 bis 18: 00 Uhr bei 5./Fallschirmjägerbataillon 251 in Calw, Graf-Zeppelin-Kaserne zum Dienstantritt zu stellen. Mit dem Betreten der Kaserne bzw. mit Eintreffen beim Sammeltransport, spätestens aber zum obengenannten Zeitpunkt beginnt gemäß §2 des Soldatengesetzes Ihr Wehrdienstverhältnis als Soldat.“

Es folgten noch ein paar Drohungen, falls man die Einladung ausschlagen sollte, eine Rechtsbelehrung und zuletzt ein „Hochachtungsvoll Der Leiter“.

Mit diesem Einberufungsbescheid und seinem Personalausweis in der Tasche, stand er am frühen Nachmittag des ersten Oktobers vor den Toren der Graf-Zeppelin-Kaserne und rauchte seine letzte zivile Zigarette. Es war ein schöner Herbsttag. Jakob schloss seine Augen, streckte sein Gesicht der Sonne entgegen und atmete tief durch. Wie eine Sonnenblume. Gedankenleer, seine ganze Existenz nur aus Körper und Sonne bestehend. Seine Atmung wurde schwächer und schließlich hörte er ganz auf zu atmen. Er wurde zur Pflanze.

Dieser harmonische Zustand dauerte solange, bis die Glut der Zigarette den Filter anfraß und seine Finger verbrannte. Jäh wurde er in die Welt der Menschen zurückgerissen. Halb warf, halb ließ er die Kippe auf den Boden fallen und drückte sie mit dem Schuh aus. Hastig sah er sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte und ging dann, als dies nicht der Fall war, zielstrebig Richtung Kasernentor.

Links befand sich ein Wachhäuschen mit dem Eingang für Fußgänger, rechts davon regelte eine Schranke die Ein- und Ausfahrt von Fahrzeugen. Den Eingang fest im Blick lief er auf das Kasernentor zu. Wie ein Marathonläufer, der auf seinen letzten Metern die Ziellinie fixiert. Nur umgekehrt. Denn für einen Marathonläufer ist danach alles vorbei. Für Jakob aber begann es erst damit.

Die letzten Schritte bis zum Wachhäuschen zählte er mit und als er dem Soldaten Einberufungsbescheid und Personalausweis überreichte, war es ihm, als würde er sich und sein ganzes Leben überreichen.

„Jetzt bin ich Soldat! Es beginnt ein völlig neues Leben!“, schoss es ihm durch den Kopf.

Seine Papiere wurden kontrolliert. Worte drangen an sein Ohr, aber er verstand sie nicht. Er sah nur, wie die Lippen des Soldaten sich bewegten, nickte und ging dann einfach weiter.

Zum „Jetzt bin ich Soldat! Jetzt beginnt ein völlig neues Leben!“ gesellte sich irgendwann ein „Aber halt! Wo muss ich eigentlich hin?“ Er blieb stehen und sah sich um.

In dreißig Meter Entfernung kam ihm ein Soldat mit einer Art roten Baskenmütze auf dem Kopf entgegen. Jakob ging ein paar Schritte auf ihn zu.

„Entschuldigung, wo geht es hier zur 5. Kompanie?“

„Sie gehen hier vorne den Weg rechts hoch. Der führt Sie direkt zum Gebäude der 5. Kompanie“, antwortete der Soldat mit ausgestrecktem linkem Arm in die Richtung weisend und sah Jakob dabei direkt in die Augen.

„Danke“, sagte Jakob.

„Keine Ursache“, sagte der Soldat, zuckte kurz mit seinem rechten Arm, als ob er salutieren wollte, salutierte dann aber doch nicht und ging seines Weges.

Keine drei Minuten später stand Jakob vor dem Dienstgebäude der 5. Kompanie. Um es den neuen Rekruten einfach zu machen, hatte man rechts neben dem Eingang ein etwa ein Quadratmeter großes Schild mit dem Kompaniewappen aufgestellt.

Ein weißer Fallschirm auf olivgrünem Hintergrund, unter dem eine silberfarbene Faust zu sehen war. Die eiserne Faust einer Ritterrüstung. Darüber stand 5./Fsch Jg Btl 251.

Jakob betrat das Gebäude, ließ sich von zwei Soldaten, die hinter einem Tisch im Eingangsbereich saßen, registrieren und ging dann die Treppe hinauf in den zweiten Stock. In das Zimmer am Ende des Ganges, wo man ihn einquartiert hatte.

Im Zimmer standen drei schmale Stockbetten mit dünnen Matratzen, an deren Fußenden weiße Leintücher und graue Decken lagen. Sechs etwa zwei Meter hohe Spinde, die noch schmaler als die Betten waren, standen an der Wand. In der Mitte des Zimmers waren zwei zusammengeschobene Tische und sechs Stühle. Nackte Wände. Keine Blumen, keine Bilder, keine Poster. Nichts. Neben dem Fenster hingen leblos zwei ausgewaschene hellblaue Vorhänge herunter.

Jakob stellte sein Gepäck auf den Boden und während er das Zimmer vor seinem inneren Auge etwas gemütlicher einrichtete und sich umsah, bemerkte er, dass das Stockbett, das am weitesten von der Zimmertür entfernt war, schon belegt war. Sowohl oben als auch unten.

Im unteren Stockbett lag ein Vollbartträger mit kariertem Hemd und auf dem oberen saß ein blondes Kindergesicht mit vielen Pickeln. Beide hatten sich völlig ruhig verhalten.

„Die Betten da drüben sind alle noch frei“, sagte jetzt der Vollbartträger und richtete sich auf. Jakob drehte sich um und entschied sich für die untere Pritsche des Stockbetts, welches dem Fenster am nächsten war. Er legte seine Lederjacke auf die graue Decke, schob das Gepäck unter das Bett und prüfte sein neues Schlafgemach.

Jakobs Urteil war schnell gefällt und fiel vernichtend aus. Die Matratze war zu hart und zu schmal, die Decke zu dünn, die Privatsphäre gleich null. Ob er hier schlafen konnte? Er verzog seinen Mund und wandte sich seinen beiden Zimmergenossen zu, die jetzt am Tisch saßen.

Das blonde Pickelgesicht warf seine Stirn in Falten und fischte sich mit seinen Wurstfingern, deren Nägel alle extrem abgekaut waren, eine Zigarette aus einer Schachtel, die in der Brusttasche seines Hemdes steckte.

„Ach ne, nicht im Zimmer rauchen!“, maulte der Vollbart und das Pickelgesicht klemmte sich mit leidender Miene die Zigarette hinter sein rechtes Ohr, verschränkte die Arme und schmollte.

„Das sind richtige Stimmungskanonen“, dachte sich Jakob und verließ mit einem „Ich sehe mich mal ein bisschen um, bis später“ schnell das Zimmer.

Er ging langsam durch das Gebäude, pinkelte zum ersten Mal in seinem Leben in das Urinal eines Kasernenklos und warf neugierige Blicke in Zimmer, deren Türen offen standen. Die Zimmer sahen alle ähnlich aus. Alles machte einen überraschend gepflegten Eindruck.

Die Toiletten waren sehr sauber und die Gemeinschaftsduschen gefliest. Am Boden hellbraun und die Wände bis zur Decke hinauf weiß. Entweder war das Gebäude nicht sehr alt oder es war erst kürzlich renoviert worden.

Auf der Treppe kamen ihm zwei Rekruten entgegen, die ihre Stuben suchten. Vor dem Tisch im Eingangsbereich standen sechs junge Männer und warteten darauf registriert und eingewiesen zu werden. Jakob lief an ihnen vorbei ins Freie, zündete sich eine Zigarette an und ging spazieren.

Aus dem Walkman schrie ihm Annette Humpe hektisch und laut in seine Ohren, dass sie auf Berlin steht. Er sah sich um, schaltete den Walkman aus und nahm den Kopfhörer ab. Irgendwie passte diese Musik nicht hierher.

Als er wieder zurück im Zimmer war, saßen zwei Personen mehr am Tisch. Ein Typ mit Stiernacken und einem Kinn wie ein Nussknacker sowie ein schwarzhaariger Rheinländer mit Oberlippenbart und sympathischen dunklen Augen. Nur das Bett über Jakob war noch frei. Er überlegte, ob er sich zu den anderen an den Tisch setzen oder sich auf seinem Bett lang machen sollte, als Harry ihm die Entscheidung abnahm.

„Servus, ich bin der Harry. Ich komme aus München und werde mit meiner Anwesenheit euer Zimmer verschönern“, sagte Harry, stellte sein Gepäck neben der Tür ab und setzte sich an den Tisch. Dann griff er in seine Jacke und steckte sich eine Zigarette in den Mund.

„Ach ne, nicht im Zimmer rauchen!“, maulte der Vollbart wieder. Diesmal ohne Erfolg.

Harry zündete die Zigarette an, öffnete das Fenster und setzte sich breitbeinig auf das Fensterbrett. Sofort nahm das Pickelgesicht seine Zigarette vom Ohr, lief zum Fenster und bat Harry um Feuer. Jetzt war es der Vollbart, der schmollte.

„Und? Habe ich bis jetzt was verpasst?“, fragte Harry und sah mit einem selbstgefälligen Lächeln in die Runde.

„Raus! Alle raustreten! Aber dalli!“ schrie eine Stimme im Gang, bevor ihm jemand antworten konnte. Sie kam immer näher, schrie in jedes Zimmer und plötzlich stand ein Soldat in der Tür.

„Raus jetzt mit euch! Und die Kippen aus! Aber dalli!“

„Scheiße, nicht mal ausrauchen kann man“, fluchte Harry, schnippte seine Zigarette aus dem Fenster und rannte den anderen hinterher. Das Pickelgesicht ebenso und knallte fast gegen den Türstock.

In jedem Stockwerk standen an der Treppe Soldaten und brüllten. Im Eingangsbereich auch.

„Los, raus zum Antreten! Schneller!“

Und vor dem Gebäude auch.

„Da lang! Schneller! Dalli!“

Alles rannte. Aus dem Gebäude, einen Weg entlang, eine Betontreppe hinunter. Dann standen etwa sechzig Gestalten außer Atem auf einem Exerzierplatz, der aussah wie ein Parkplatz ohne Autos. Kein Fahnenmast. Nichts. Nur ein großes geteertes Viereck.

Ein halbes Dutzend Soldaten kam langsam die Treppe herunter.

„In Dreierreihe aufstellen! Aber ein bisschen plötzlich!“, schrie einer mit einer silberfarbenen Kordel an der rechten Schulter seiner Uniform.

Es dauerte eine ganze Weile, bis so etwas ähnliches wie eine Dreierreihe zustande gekommen war. Ein Sportlehrer an einer Realschule wäre mit dem Resultat zufrieden gewesen. Silberkordel war es aber nicht. Er verzog sein Gesicht und gab den anderen Soldaten ein Handzeichen, die daraufhin sofort vor, hinter und zwischen den Reihen umherschwirrten, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Körpergröße spielte anscheinend eine entscheidende Rolle.

„Sie stellen sich hier hin!“ „Und Sie gleich dahinter!“ „Sie gehen ans Ende der Reihe!“

Bald hatte auch Jakob seinen Platz gefunden. Erste Reihe, fünfter Mann.

„Abstände! Rechten Arm ausstrecken und die Hand an die Schulter des Nebenmannes!“

Die Sonne stand schon sehr tief und zog lange groteske Schatten über den Asphalt. Die ausgestreckten Arme waren viel zu dick und die Schatten der Körper so sehr in die Länge gezogen, als ob sie vom Exerzierplatz fliehen wollten, aber nicht konnten. Eine schwarze Menschenkette, die von einer Betonwalze überrollt und in den Asphalt gedrückt worden war. Alles andere wurde von den letzten Sonnenstrahlen in ein dunkelgelbes Licht getaucht.

Als die Abstände endlich stimmten, musste sich ein jeder seinen Platz und seine Neben-, Vorder- und Hintermänner merken. Die Soldaten stellten sich hinter Silberkordel in einer Reihe auf.

„Ihr werdet eure Mutter vergessen“, fing der jetzt an. „Und ihr werdet euren Vater vergessen.“

Dann folgte eine wohl einstudierte rhetorische Pause.

„ABER MICH WERDET IHR NIE VERGESSEN!“

Ein netter Versuch, der aber nicht im geringsten die gewünschte Wirkung zeigte. Einige der Rekruten lachten sogar und selbst die Soldaten hinter Silberkordel konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Silberkordel beschloss noch einen draufzusetzen. Langsam ging er die erste Reihe entlang.

„Wenn ich die Haare sehe, die an euren Schädeln herumhängen, kommt mir das kalte Kotzen! Bei Fallschirmjägern gibt es nur zwei Frisuren! Eine Langhaar- und eine Kurzhaarfrisur. UND ICH HABE DIE LANGHAARFRISUR! KAPIERT!!?“

Jetzt lachte niemand mehr. Wenn Silberkordel die Langhaarfrisur hatte, musste die Kurzhaarfrisur aussehen wie eine gut polierte Billardkugel. Auch ein Blick auf die Frisuren der anderen Soldaten gab keine Entwarnung. Im Gegenteil. Es drohte Ungemach.

Jakob sah sich um. Nur ein paar Rekruten waren schon beim Friseur gewesen. Ihre Ohren lagen frei, die Matte darüber war überschaubar. Vier oder fünf Mann. Aber das war es auch schon. Ansonsten viele Vokuhila-Frisuren. Dem Rest sah man an, welche Musik sie hörten. NDW, New Wave, Punk oder Reggae.

„Mit so einem Haarschnitt komme ich doch in keinen Klub mehr rein!“, jammerte ein gestylter New Wave Anhänger mit weißen und blauen Strähnchen in der ananasförmigen Haarpracht.

Silberkordel sprang jetzt der Draht aus der Mütze. Er ging auf die Ananas zu, baute sich keinen halben Meter vor ihr auf und brüllte los, dass sich die bunten Strähnchen waagerecht nach hinten legten und zitterten.

„EIN DEUTSCHER FALLSCHIRMJÄGER KOMMT IN JEDEN NACHTKLUB HINEIN! AUCH JENSEITS DES URALS!!“

Damit waren Jakob zwei Dinge klar geworden. Erstens, dass er sich von seinen schulterlangen dunkelblonden Locken verabschieden musste und zweitens, dass Ananas auf keinen Fall eine Perücke trug. Denn diese würde jetzt vor den Füßen seines Hintermannes liegen.

„Auf die Stuben wegtreten!“, schrie Silberkordel und die Herde setzte sich in Bewegung. Die anderen Soldaten trieben wieder an.

„Los! Schneller! Schlaft nicht ein hier!“

Auf der Stube zündete sich Harry sofort eine Zigarette an und setzte sich wieder auf das Fensterbrett. Er nahm zwei, drei tiefe Züge und auch Pickelgesicht machte Anstalten, ein Lungenbrötchen zu sich zu nehmen, als es wieder losging.

„Los, alles raus zum Antreten! Aber dalli! Raus hier!“

„Jetzt nervt es aber“, sagte Harry, nahm noch zwei hastige Züge und schnippte die soeben angezündete Zigarette wieder aus dem Fenster. Alles rannte. Aus dem Gebäude hinaus, den Weg entlang, die Betontreppe hinunter. Mittlerweile war es dunkel geworden, was das Antreten erschwerte.

Als alle endlich in Reih und Glied standen, ging es sofort im Laufschritt zurück auf die Stube. Nur, um von dort gleich wieder zum Exerzierplatz zu rennen und erneut anzutreten. Nach dem vierten Mal war Schluss und die neuen Rekruten wurden durch das nächtliche Kasernengelände vom Exerzierplatz in die Mannschaftskantine zum Abendessen geführt. Es gab Gulaschsuppe und Brot. Dazu warmen Tee.

„Beeilen Sie sich mit dem Essen! In dreißig Minuten beginnt im Kompaniegebäude die Ausgabe der Wäsche!“, sagte einer der beiden Soldaten, die sie zur Kantine geführt hatten, während er von Tisch zu Tisch ging.

„Gemütlichkeit sieht anders aus“, sagte Harry mit breitem Grinsen und sah sich am Tisch um. Als aber niemand darauf einging, hielt er die Klappe und schaufelte wie die anderen so schnell es ging die Gulaschsuppe in sich hinein.

Irgendwann war Schluss. Nachdem sie im Laufschritt zum Kompaniegebäude zurückgelaufen waren. Nachdem sie ihre Socken, Unterwäsche, Hemden, Krawatten, Schuhe und ihre Hosen bekommen hatten. Nachdem sie geduscht waren und jemand auf den Lichtschalter gedrückt hatte.

Irgendwann war plötzlich Ruhe.

Jakob lag wach im Bett. Die Vorhänge verdunkelten nicht richtig. Die Helligkeit, die von draußen durch sie hindurchfiel, war noch so stark, dass Tisch und Stühle deutliche Schatten über den Boden und an die Wand warfen und das Auge, sobald es sich angepasst hatte, alles genau erkennen konnte.

Die Spinde sahen aus wie Särge, die jemand an die Wand gestellt hatte.

Harry, der über ihm schlief, redete im Schlaf. Am anderen Ende der Stube schnarchten im unteren Stockbett der Rheinländer und über ihm der Nussknacker um die Wette. Vollbart lag auf dem Bauch, das Gesicht nach unten. Vielleicht war er tot. Das Pickelgesicht rauchte heimlich eine Zigarette am gekippten Fenster.

Jakob drehte sich um zur Wand, starrte sie eine Weile an und schloss dann die Augen.

Als Jakob vom Himmel fiel

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