Читать книгу Als Jakob vom Himmel fiel - Peter Fuhl - Страница 8
Оглавление2. Musterung
Der 24. Juni kam schnell. Je näher der Tag rückte, umso mehr wurde darüber gesprochen. Über Zivildienst, Wehrdienst oder wie man sich am besten vor dem Ganzen drücken konnte. Über den Ablauf der Musterung an sich und den unvermeidlichen „EKG“. Dem sogenannten Eierkontrollgriff, bei dem der Arzt mit den beiden Murmeln seines Gegenübers in der Hand nach einem etwaigen Leistenbruch fahndete.
„Da nimmt dann der Typ deine Klöten in die Hand und du musst husten!“, wurde mit sadistischem Grinsen erzählt.
Unwissenheit, Halbwissen und maßlose Übertreibungen machten die Runde.
In seinem Bekannten- und Freundeskreis gab es fast nur langhaarige Zivildienstleistende oder Langhaarige, die ihren Zivildienst schon geleistet hatten. Alle waren sie auf äußerst pfiffige Art und Weise dem Kriegsdienst entronnen und jeder gab seine Geschichte zum Besten.
Die Nacht vor der Musterung hatten alle durchgemacht. Klar. Einer täuschte Angstzustände vor, einer hatte blutdrucksteigernde Medikamente eingenommen und einer konnte sich an die Musterung überhaupt nicht mehr erinnern, weil er auf LSD war. Jakob und alle, die ihre Musterung noch vor sich hatten, waren ein dankbares Publikum und hörten aufmerksam zu. Viel weiter brachten sie diese Geschichten aber nicht.
Ach ja, einem wurde vom Vater seiner Freundin, der Arzt war, ein Rückenleiden bescheinigt, obwohl er in einem Eishockey-Verein spielte. Wie langweilig.
Die einzige Person, die gerade ihren Wehrdienst ableistete, war Lutz, der jedes Wochenende am Baggersee verbrachte. In blauer Bundeswehrbadehose, die Hundemarke um den Hals und einen Kasten Bier neben sich.
Er erzählte von üblen Saufgelagen, vom Abseilen, wie hart das Soldatenleben doch sei und wie viele Tage es noch bis zu seiner Entlassung sind. Dann zeigte er stolz sein Maßband, dessen Länge genau die Anzahl der noch verbleibenden Tage anzeigte, blies in eine schwarze Trillerpfeife und grölte seine Lage. Ein lauter Rülpser beendete stets das Ritual.
Anschließend griff Lutz in der Regel mit ernster Miene in seinen Bierkasten und eine Flasche wurde von geübter Hand mit einem Feuerzeug geöffnet. Ein dunkles Plopp erschallte und eine Flaschenkrone flog in hohem Bogen in den Kies.
Das war zwar alles äußerst unterhaltsam, aber nicht sehr aussagekräftig, da Lutz schon als Schluckspecht bekannt war, bevor er eingezogen worden war.
Schließlich war es soweit. Es dämmerte, die Sonne ging auf und er quälte sich am Freitag, den 24. Juni, kurz vor sechs Uhr morgens aus seinem Bett. Er wusste immer noch nicht, was er genau wollte und fand es daher am ratsamsten, alles einfach auf sich zukommen zu lassen.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Schicksalsgenossen, mit denen Jakob geredet hatte. Die wollten eigentlich weder Zivildienst machen noch zum Militär. Hatten sich aber für den Fall, dass sie nicht ausgemustert werden würden, vorsichtshalber schon einmal nach einer Zivildienststelle umgesehen. Denn zur Bundeswehr wollte niemand. Auf keinen Fall.
Abgesehen von Burkhard und Fabian, die sich sogar über mehrere Jahre verpflichten wollten.
Weil aber Burkhard Epileptiker und Fabian blind wie und auch nicht sehr viel größer als ein Maulwurf war, gingen ihre Chancen in hübsches Natoolivgrün eingekleidet zu werden gegen Null.
Ahnungslos und völlig unbedarft fuhr er mit der Straßenbahn Richtung Stadtmitte und stieg am Theodor-Heuss-Platz aus. Die restliche Strecke ging er zu Fuß.
Die Kaserne, in der sich das Kreiswehrersatzamt befand, war ein altes Backsteingebäude, in welchem schon Soldaten der Reichswehr mit Pickelhaube und Säbel zu Hause waren.
Die Gänge waren sauber gewienert. Türen öffneten sich, Soldaten kamen heraus, liefen etwas die Gänge entlang und verschwanden wieder in einer Tür. Sie hatten Papiere oder Ordner in den Händen und bewegten sich weder langsam noch schnell. Es waren Bürosoldaten. Mit Oberlippenbart, viele mit Brille und Bauchansatz. Goldhamster in Uniform. Sie hatten nichts Gefährliches an sich.
Es war das erste Mal, dass Jakob deutsche Soldaten aus der Nähe sah und er betrachtete sie etwas verwundert. In der Stadt tummelten sich nur amerikanische Soldaten, die zu Tausenden hier stationiert waren. Kaugummi kauend, laut, selbstbewusst. Lebewesen aus einer anderen Welt. Deutsche Soldaten ließen sich außerhalb ihrer Kasernen so gut wie nie in Uniform blicken.
Der Weg zu dem Bereich im Gebäude, wo die Musterung stattfand, war gut gekennzeichnet, die Räumlichkeiten waren leicht zu finden und wenige Minuten später saß er bis auf die Unterhose ausgezogen mit einer Mappe in seinen Händen in einem muffigen Wartezimmer. Außer ihm waren noch zwei weitere junge Männer da. Die Mappe bekam man von einem Soldaten überreicht, der hinter einem Tisch saß, der vor dem Eingang des Wartezimmers stand.
„Wenn Sie aufgerufen werden, nehmen Sie diese Mappe mit zu den verschiedenen Stationen, die Sie durchlaufen. Es werden darin Ihre Daten vermerkt.“
Auf den Tischen im Wartezimmer lagen Werbeprospekte der Bundeswehr. An den Wänden hingen Poster der verschiedenen Teilstreitkräfte. Piloten, die sich vor Kampfflugzeugen in Pose warfen, Sanitäter, die zu einem Hubschrauber liefen, Marineoffiziere, die von der Brücke ihres Schiffes mit einem Fernglas auf das Meer hinausspähten. Panzerkommandanten durften natürlich auch nicht fehlen. Aber das Ganze richtete sich an Leute, die sich verpflichten und beim Militär Karriere machen wollten. Wehrpflichtige sah man auf den Hochglanzpostern keine.
Ein Unterhosenträger ging. Zwei junge Männer kamen mit ihren Mappen ins Zimmer und begannen sich auszuziehen. Dann ging es los.
Jakobs Name wurde aufgerufen und mit seiner Mappe in der Hand ging er von Station zu Station. Sein Körper wurde gewogen, vermessen, geprüft. Blutdruck, Seh- und Hörtest. Er musste Kniebeugen machen und seinen Mund öffnen, damit man die Plomben zählen konnte.
Es war wie auf dem Sklavenmarkt im alten Rom, nur dass die Kollegen damals nicht in weißen Feinripp-Unterhosen der Marke Schiesser auf dem Podest standen.
Die Untersuchung auf Leistenbruch mit dem sogenannten Eierkontrollgriff war unangenehm, aber eigentlich nicht der Rede wert. Unangenehm, weil eine fremde männliche Hand sich an einer Körperstelle befand, wo sonst nur Jakobs eigene Hand oder Frauenhände etwas zu suchen hatten. Ansonsten schien auch der Arzt kein großer Freund dieser Untersuchung zu sein. Er drückte Zeige- und Mittelfinger so verkrampft an den unteren Leistenbereich als wollte er eine Berührung mit Jakobs Sackhaaren um jeden Preis vermeiden.
„Husten Sie bitte mal,“ sagte er sichtlich bemüht um eine dienstlichsterile Stimme.
Jakob hustete.
„Noch einmal bitte“
Jakob hustete noch einmal.
„Danke“, sagte der Arzt.
„War doch halb so wild“, dachte sich Jakob und zog sofort wieder seine Unterhose über das Gehänge.
„Noch nicht. Ziehen Sie Ihre Unterhose noch einmal nach unten und drehen Sie sich um.“
Und während Jakob sich umdrehte, fügte der Weißkittel hinzu: „Beugen Sie jetzt bitte den Oberkörper nach vorn und spreizen Sie mit den Händen die Pobacken auseinander.“
„Die Pobacken auseinander!“ hallte es in Jakobs Schädel nach und eiserne Fragezeichen zerpflügten sein Gehirn. Wie in Trance begann er vorsichtig der Aufforderung des Arztes nachzukommen. Ein anderer Weißkittel hatte sich währenddessen Jakobs Mappe geschnappt.
„Hämorriden?“, fragte er.
„Nein“, sagte der Arzt, der gerade in Jakobs Allerheiligste spähte.
„Ansätze?“
„Nein, alles in Ordnung“, kam die Antwort.
„Sie können wieder normal stehen und sich anziehen. Die Mappe bleibt hier. Gehen Sie jetzt ins Wartezimmer 2, füllen Sie das dort ausliegende Formular aus und warten Sie, bis Sie wieder aufgerufen werden.“
Um ein Haar hätte sich Jakob für diese Demütigung noch bedankt, konnte es sich aber gerade noch verkneifen. Wortlos zog er sich an und ging zum Wartezimmer 2.
Auf dem Formular, welches dort auslag, konnte man seine Präferenzen ankreuzen. Heimatnah, heimatfern, Truppengattung. Ob man dann tatsächlich dorthin versetzt wurde, war eine andere Sache. Aber immerhin. Es gab dem Zwangsdienst einen freundlicheren Anstrich. Jakob las das Formular aufmerksam durch.
Nachschub. Dort konnte man den Führerschein Klasse II machen. Hm. Aber interessierte ihn das? Nein. Gebirgsjäger. Nach jahrelanger Mitgliedschaft im Deutschen Alpenverein? Nein, es sollte eine neue Erfahrung sein. Luftwaffe schloss sich aus. Es sollte etwas Militärisches sein. Wenn schon, dann richtig und keine halben Sachen. Marine? Er erinnerte sich an den Schüleraustausch mit England, wo er auf der Überfahrt von Oostende nach Dover die meiste Zeit über der Reling hing und die Nordsee vollkotzte. U-Boot-Flotte? Fern von Zuhause, bei Alarm würde er sich ständig den Kopf stoßen und wenn alle ihre Stiefel ausziehen oder jemand übel furzte, konnte man kein Fenster aufmachen. Nee. Panzergrenadier? Grübel. Luftlandetruppe.
Er ging noch einmal alles durch. Sein Auge blieb hängen. Luftlandetruppe. Fallschirmjäger. Er kreuzte an.
Es dauerte noch ein paar Minuten, bis er aufgerufen und ins gegenüberliegende Zimmer geführt wurde. Dort saßen zwei Uniformierte und ein Militärarzt hinter zwei zusammengeschobenen Tischen. An der Wand hing eine große schwarzrotgoldene Fahne mit Bundesadler. Der Soldat, der ihn ins Zimmer führte, nahm ihm das Formular aus der Hand und legte es zu Jakobs Mappe, die vor den Uniformierten auf dem Tisch lag. Dann zeigte er kurz mit ausgestrecktem Arm auf einen Stuhl, der in der Mitte des Zimmer stand, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Eine gefühlte Ewigkeit saß Jakob mutterseelenallein auf dem Stuhl, während die drei Männer vor ihm seine Mappe studierten. Nur das Rascheln von Papier war zu hören.
„Bei der spanischen Inquisition muss es ähnliche Szenen gegeben haben“, dachte sich Jakob und war beruhigt, da er ja nicht als Ketzer verbrannt, sondern nur im Falle eines Krieges als Wehrpflichtiger verheizt werden sollte.
Endlich räusperte sich jemand. Sechs Augenpaare waren auf ihn gerichtet und ein Mund mit Oberlippenbart begann langsam zu sprechen.
„Beabsichtigen Sie den Wehrdienst zu verweigern?“
„Nein“, klang es schüchtern aus der Mitte des Zimmers.
„Gut. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen, das Sie uns gerne mitteilen möchten?“
„Nein.“
„Dann sind Sie hiermit entlassen. Danke für Ihr Kommen. Sie werden von uns hören.“
Als Jakob am Abend ins Wohnzimmer ging, lief gerade die Tagesschau. Seine Mutter lächelte ihn kurz an und nickte ihm zu. Sein Vater saß mit einem Bier in der Hand auf dem Sofa und starrte höchst konzentriert mit einem Ich-will-jetzt-nicht-gestört-werden-Blick Richtung Bildschirm. Der Nachrichtensprecher berichtete, dass der PLO-Chef Jasir Arafat aus Syrien ausgewiesen wurde und im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg anlässlich des Luther-Jahres die Ausstellung „Martin Luther und die Reformation in Deutschland“ eröffnet wurde.
Seine Musterung interessierte kein Schwein.