Читать книгу Als Jakob vom Himmel fiel - Peter Fuhl - Страница 11
Оглавление5. Stubenbesuche und gelebte Demokratie
„Stillgestanden! Die Augen-Links!“, brüllte Harry, der sein Barett ähnlich wie der Schallplattendieb zusammengedrückt und aufgesetzt hatte. Scholz, der Rheinländer und Roland, der Skinhead aus Lübeck, standen stramm da und folgten den Kommandos so übertrieben, dass ihnen fast die Schiffchen vom Kopf flogen. Scholz hatte sich mit Kreide je einen Punkt auf seine Schulterklappen gemalt und war jetzt „Leutnant Scholz“. Roland machte Meldung bei Lt Scholz, Lt Scholz bei Harry und so ging es hin und her.
Nussknacker und Jakob saßen am Tisch und lachten. Vollbart lag auf seinem Bett und las. Manchmal sah er über den Bücherrand herüber und schüttelte den Kopf. Pickelgesicht stand am offenen Fenster und rauchte. Die ganze Gruppe war auf der Stube.
Bis auf die beiden Offizierssöhne, die sich für vier Jahre verpflichtet hatten und mehr die Nähe der Offiziersanwärter suchten.
Den ganzen Tag war Antreten und Grüßen geübt worden. Militärisches Grüßen. Ellenbogen genau auf Schulterhöhe, Unterarm und Hand eine Gerade, Handrücken nach oben. Grüßen aus dem Stand und aus der Bewegung. Der ganze Tag bestand aus Kommandos und Befehlen. „Stillgestanden!“, „Die Augen-Links!“, „Rührt euch!“ usw.
Eine Stunde vor Dienstschluss hatte Fhj Berger noch zwei Bogen Papier verteilt, Vollbart zum Stubenältesten bestimmt und erklärt, was ein Stubendurchgang ist. Die Regeln waren nicht schwer. Sobald der oder die Stubendurchgänger die Tür öffneten, hatte der Stubenälteste „Achtung!“ zu brüllen und alle Anwesenden mussten stramm stehen.
Dann meldete der Stubenälteste dem Besuch, dass die Stube gereinigt und die Bettchen ordentlich gemacht waren. Der Besuch wiederum war misstrauisch und inspizierte jetzt die Stube, um sicherzugehen, dass der Stubenälteste nicht geflunkert hatte.
Damit es auch jeder kapiert, wurden eine paar Probedurchgänge durchgespielt. Alle zehn Minuten kam Fhj Berger zur Tür hereingeschneit. Mal allein, mal mit einem anderen Unteroffizier. Aber immer ohne vorher anzuklopfen, um es spannender zu machen. In der Zeit dazwischen musste gelernt werden, was auf den zwei Bogen Papier stand, die verteilt worden waren.
Einer der Bogen war mit Dienstgradabzeichen bedruckt. Beidseitig. Ein Schrägstrich auf der Schulterklappe bedeutete Gefreiter, zwei Obergefreiter, ein offenes U Unteroffizier, ein geschlossenes U Stabsunteroffizier. Ein geschlossenes U mit Winkel Feldwebel, mit zwei Winkeln Oberfeldwebel. Frisch eingezogene Rekruten mit völlig blanker Schulterklappe wie Jakob und die anderen hießen offiziell Jäger, wurden aber inoffiziell Rotärsche, Krummfinger oder Muschis genannt.
„Achtung!“ rief Vollbart. Wie von der Tarantel gestochen standen alle auf und machten Männchen. Vollbart meldete, dass die Stube gereinigt und zur Abnahme bereit sei.
Von wegen.
Fhj Berger sah sich nur kurz in der Stube um und wurde sofort fündig.
„Hier sieht es ja aus wie bei den Tschechen!“, brüllte er los und zeigte auf Pickelgesichts Spind, auf dem Schlafsack und Gasmaske falsch angeordnet lagen.
„Die Mängel sind sofort abzustellen!“
Dann verließ er die Stube und knallte die Tür zu.
Pickelgesicht ordnete die Sachen auf seinem Spind. Alle überprüften noch einmal ihre Betten und Spinde. Der Boden war nass gewischt, der Papierkorb geleert.
Als alle überzeugt waren, dass es wirklich nichts mehr zu beanstanden gab, sahen sie sich den zweiten Bogen Papier an, auf dem ein Lied stand, dessen Text auswendig gelernt werden musste. Lt Scholz las laut vor:
„Gäb es nur eine Krone, wohlan ich schenkte sie,
der Tapferkeit zum Lohne der deutschen Infanterie“
„Achtung!“, rief Vollbart und machte Meldung, während der Rest die Atmung einstellte und blitzschnell Haltung einnahm. Fhj Berger stand mit einem anderen Unteroffizier in der Tür.
„Die Stube gereinigt und zur Abnahme bereit?“, wiederholte Fhj Berger Vollbarts Meldung.
„Soso.“ Ein sadistisches Grinsen in Richtung des anderen Fahnenjunkers folgte. Dann fuhr er mit seinem Mittelfinger den Türstock entlang, hielt sich den Finger vor den Mund und blies in Vollbarts Richtung.
„Können Sie mich noch sehen? Mängel abstellen!“
Und wieder knallte die Tür zu.
Schweigen folgte dem Knall der Tür. Enttäuschung machte sich breit. Lange Gesichter, wohin man sah. Außer bei Harry, der die Situation rettete.
„Mann, ist das vielleicht ein geiles Programm! Das erlebt man wirklich nur hier! Und wir kriegen noch Geld dafür!“
„Geld?“, maulte Vollbart. „Das ist nicht mal ein Trinkgeld, was wir als Sold kriegen!“
„Geld ist Geld“, sagte Harry. „Außerdem werden wir auch verpflegt! Und wenn man immer nur mit einer miesepetrigen Fresse herumläuft, wird es auch nicht besser. Jetzt genießt das mal, Leute! Unsere Fahnen-Junkies geben sich doch auch richtig Mühe!“
Lt Scholz und der Nussknacker nickten zustimmend.
„Achtung!“
Fhj Berger betrat das Zimmer, Vollbart machte Meldung und fünf zufriedene Gesichter strahlten im Stillgestanden und harrten erwartungsvoll der Dinge, die da kommen mögen. Es waren die zufriedensten Gesichter, die es im Fallschirmjägerbataillon 251 während eines Stubendurchganges je gegeben hatte. Das machte keinen Spaß mehr.
Fhj Berger nahm Vollbarts Meldung entgegen, wünschte eine gute Nacht und schloss hinter sich leise die Tür. Wenige Minuten später warfen Tisch und Stühle ihre Schatten, Harry redete im Schlaf, Lt Scholz und der Nussknacker schnarchten wieder um die Wette und Pickelgesicht rauchte mit traurigem Gesicht aus dem Fenster.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Antreten, das jetzt vor dem Kompaniegebäude stattfand, ging es geschlossen in einen Schulungssaal. Da der Saal zu klein war, saßen manche Rekruten auf den Fensterbrettern oder am Boden. Oder sie lehnten sich an die Wand.
Dann betrat ein Leutnant den Raum. Ein echter Leutnant. Die Punkte auf seinen Schulterklappen waren nicht wie bei Lt Scholz mit Kreide aufgemalt. Er räusperte sich kurz und laut. Obwohl es ganz ruhig war und ihn alle ansahen.
„Sie haben jetzt die Gelegenheit, einen Vertrauensmann zu wählen, der Ihre Interessen als Rekruten wahrnimmt und sich bei eventuellen Problemen direkt an die Vorgesetzten wenden kann. Dabei kann er auch Hierarchien überspringen. Außerdem trifft er sich ab und zu mit dem Kompanieführer, also dem Hauptmann, um sich auszutauschen. Wir lassen Sie jetzt allein, um sich in Ruhe abzusprechen und Vorschläge zu machen. In dreißig Minuten wird dann gewählt.“
Sprach‘s und machte Anstalten zusammen mit den Unteroffizieren, die zuvor die Rekruten in den Saal geführt hatten, diesen wieder zu verlassen.
Aber dazu kam es nicht mehr, weil Harry plötzlich anfing zu brüllen.
„JAKOB! JAKOB!“
Lt Scholz stimmte sofort mit ein, dann der Rest der Stube. Die Rufe breiteten sich schnell aus und schließlich riefen alle „JAKOB! JAKOB!“
„Wer ist Jakob?“, fragte der Leutnant.
Jakob meldete sich.
„Gibt es Gegenvorschläge?“
Gab es nicht.
„Nehmen Sie die Wahl an?“
Jakob sah sich um. Alle sahen Jakob an. Außer den Leuten aus seiner Gruppe, die alle -inklusive Pickelgesicht und Vollbart -mit einem Grinsen im Gesicht auf ihren Stühlen saßen, kannte er niemanden. Lt Scholz flüsterte Harry etwas ins Ohr und beide kicherten.
„Nehmen Sie die Wahl an?“, fragte der Leutnant nochmal.
„Ja“, sagte Jakob so leise, dass man es gerade noch hören konnte und Harry und Lt Scholz fingen wieder an „JAKOB!“ zu rufen. Sie wurden aber mit einer Handbewegung schnell abgewürgt.
„Es muss auch noch ein Stellvertreter gewählt werden“, fuhr der Leutnant fort. „Gibt es Vorschläge? Will sich jemand zur Wahl stellen?“
„GÜNTER! GÜNTER!“-Rufe waren von hinten zu hören. Das Beispiel hatte Schule gemacht. Günter stand auf.
„Gibt es noch andere Vorschläge?“
Niemand meldete sich.
„Günter, rauchst du?“, unterbrach Harry die Stille.
„Ja, warum?“, antwortete Günter verdutzt.
Und sofort brüllte Harry in voller Lautstärke „GÜNTER! GÜNTER!“ und alle -außer Vollbart -brüllten mit.
Als auch der Leutnant brüllte, wurde es schlagartig ruhig.
„Gut, dann wäre das erledigt“, sagte er kopfschüttelnd und wandte sich an die anwesenden Unteroffiziere. „Lassen Sie vor der Waffenkammer antreten und beginnen Sie mit der Waffenausbildung!“
Bevor jedoch das neue Arbeitsgerät begutachtet werden konnte, bekam jeder am Eingang des Schulungssaales noch seine Empfangsberechtigungs-Karte ausgehändigt, die unterschrieben werden musste. Erst danach ging es geschlossen zur Waffenkammer, vor der man in langer olivfarbener Reihe weitere zwanzig Minuten wartete, bis die Waffenausgabe endlich begann. Die Reihe wurde kürzer, das Fenster der Waffenausgabe größer und schließlich hielt auch Jakob ein G3 mit ausfahrbarer Schulterstütze in den Händen.
Schwer, hart, kalt. Deutscher Stahl. Heckler & Koch. Keine Liebe auf den ersten Blick, aber eine fremdartige Faszination ausstrahlend. Als Zugabe gab es noch ein leeres Magazin und ein paar Platzpatronen obendrauf.
Wie hypnotisiert starrte Jakob auf das Gewehr in seinen Händen, sodass er auf dem Weg zurück zur Stube fast auf der Treppe stürzte, weil er nicht auf die Stufen geachtet hatte.
Auf der Stube angekommen, nahm Lt Scholz sofort eine Kamera aus dem Spind und ließ sich mit Waffe fotografieren. Schneidig blickte er ins Objektiv.
Dann wurden Gruppenbilder gemacht. Harry und Jakob mit Zigarette im Mund, das G3 mit Lauf nach oben, Finger am Abzug. Nussknacker und Roland, jeder mit einem Fuß auf einem Stuhl, das G3 lässig auf dem Knie ruhend, den Finger am Abzug. Pickelgesicht und Vollbart die Gewehre stolz vor der Brust, den Finger am Abzug. Die Gesichter, die in die Kamera blickten, waren ernst, furchtlos und zu allem entschlossen.
Eine angsteinflößende Truppe!
„Achtung!“
Fhj Berger kam wie immer ohne vorher anzuklopfen in die Stube hereingeschneit. Ausgerechnet jetzt. Vollbart machte schnell Meldung und Peinlichkeit breitete sich langsam in der Stube aus. Dabei hatte Fhj Berger kein einziges Wort gesagt. Sein Blick und sein Lächeln reichten völlig aus.
„Rührt euch! Die Kippen aus, einen Poncho auf dem Tisch ausbreiten und mit den Waffen herantreten!“, unterbrach er endlich die Stille. Die Peinlichkeit verschwand aus der Stube.
Dann nahm er das Gewehr von Lt Scholz und erklärte, wie die Waffe funktioniert.
„Hier kann man Einzeloder Dauerfeuer einstellen und so wird die Waffe gesichert und entsichert. Das Magazin führt man folgendermaßen ein …“
Es klickte.
„Noch Fragen? Sehr gut. Dann probieren Sie es jetzt mal selbst. Danach werden wir die Waffen in ihre einzelnen Teile zerlegen und wieder zusammenbauen.“
Ohne hinzusehen zog er das Magazin wieder heraus und gab das G3 wieder Lt Scholz zurück.
„Entsicherte Waffen mit eingeführtem Magazin und ohne pseudo-martialische Verrenkungen sehen übrigens auf Fotos gefährlicher aus als umgekehrt“, schob er noch hinterher und schon war sie wieder in der Stube.
Die Peinlichkeit.