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SELIGMANN I

DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010

Stadträtin Dr. Seligmann war einen Kopf größer als der junge Anzugträger an ihrer Seite, mit dem sie soeben die Tiefgarage des örtlichen Rathauses betrat.

Seligmann war Mitte fünfzig. Die grauen Haare trug sie modisch kurz, eine randlose Brille unterstrich den Ausdruck ihrer wachen Augen. Sie hatte ihr ganzes Leben der Politik gewidmet. Der Fall der Mauer war wie eine Initialzündung gewesen. Die Bürger der ehemaligen DDR schöpften damals wieder Hoffnung und vor allem in ihrer Gemeinde führte dies in den ersten Jahren zu einem spürbaren Aufschwung. Gleichzeitig lockte jedoch der Westen mit Luxus, höherem Lebensstandard und besser bezahlten Arbeitsplätzen. Knapp eine Million Menschen waren seit dem Mauerfall in den Westen gezogen, aber langsam besserte sich die Situation, woran vor allem die Kommunalpolitik der Gemeinden und Städte einen großen Anteil hatte. Trotz der positiven Prognosen konnte jedoch das rechte politische Lager Profit aus der Not vieler Menschen schlagen und mit seinen Hetzparolen Zuspruch in der Bevölkerung finden.

Für Seligmann war die Politik nicht nur ein Beruf, es war eine Lebensaufgabe, der sie sich bis an ihre Leistungsgrenze verschrieben hatte. Es war ihr nie daran gelegen, Karriere in der Politik zu machen, sondern Dinge zu verändern und zu verbessern. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die Bemühungen, die Gemeinde als Industriestandort attraktiver zu machen, waren in etwa vergleichbar mit dem Bestreben einer Prostituierten, Jungfrau zu bleiben. Arbeitsplätze ja, aber Ausbeutung? Nein! Die Not »des Ostens« war für viele Konzerne verlockend, sie erinnerten Seligmann an Aasgeier, die die letzten Fetzen Haut von den Knochen reißen wollten.

Die letzten fünfzehn Jahre hatten sie zu einer harten, unbarmherzigen Kämpferin werden lassen und ihr den Posten der Oberbürgermeisterin eingebracht. Ihr Einfluss und ihre Macht war gestiegen, so wie auch die Furcht vor ihr. Selbst die Vorstände großer Konzerne hofierten die »First Lady«, wie man sie gerne nannte, und buhlten um ihre Gunst.

Für die Ernennung zur Spitzenkandidatin der SPD für die Landtagswahl 2004 hatte sie den Bürgermeisterposten geräumt. Doch trotz guter Prognosen schnitt ihre Partei schlechter ab als in der vorhergehenden Wahl. In ihren Augen war es eine blamable Niederlage, denn zum ersten Mal zog die NPD mit zwölf Sitzen in den Landtag ein, und das mit nur einem Sitz weniger als die SPD. Für Seligmann und viele Parteigenossen war dies nicht mehr und nicht weniger als ein Messerstich in das Herz der Demokratie.

Sie hatte die braune Gefahr unterschätzt, hatte deren Aufmärsche und Versammlungen nur herablassend belächelt und zu keiner Zeit wirklich ernst genommen. Es gab andere Themen, die ihre wertvolle Zeit dringender in Anspruch nahmen als Glatzköpfe in Springerstiefeln und »Ausländer Raus«-Schmierereien. Sie hatte sich getäuscht. Der Erfolg der NPD war nicht nur die größte Demütigung ihrer gesamten Karriere, sie empfand ihn auch als persönliche Niederlage, an der sie sich eine Mitschuld gab.

Bei einer Fernsehdebatte gelang es dem NPD-Vorsitzenden Thielen, sie derart zu provozieren, dass sie sich zu einigen lautstarken Beleidigungen hinreißen ließ. Ihre Schimpftirade ging wie ein Lauffeuer durch die sozialen Medien. Über YouTube war der Wutausbruch von Rechtsradikalen verbreitet worden, wodurch sich ihr Sympathie-Index bei jungen Wählern erdrutschartig verschlechterte.

»Facebook, Twitter, YouTube. Meinungsbildung im Netz, was für ein Unsinn«, hatte sie noch während des Wahlkampfs behauptet. Danach musste sie sich eingestehen, dass sie das digitale Zeitalter verschlafen hatte. Die bundesweite Presse hatte den Blick auf das Wahlergebnis ihres Bundeslandes gerichtet und zeigte mit dem Finger auf diesen braunen Schandfleck. Nach fünf Jahren erfolgloser Oppositionsarbeit trat sie 2009 nicht mehr zu den Landtagswahlen an, sondern suchte einen Weg zurück in die Kommunalpolitik. Sehr zum Unmut des neuen Bürgermeisters hatte man ihr zähneknirschend einen ehrenamtlichen Sitz im Stadtrat zugebilligt. Sie war wieder im Rennen.

War sie zu alt geworden für diesen Job? O nein, eine Kämpfernatur wie Seligmann gab sich nicht so leicht geschlagen. Und eines würde sie nie wieder tun: die Macht der digitalen Medien unterschätzen. Sie hatte erreicht, dass man extra für diese Aufgabe einen Referenten eingestellt hatte, der sich um die Social-Media-Aktivitäten des Stadtrats kümmern sollte und der, wenn auch nicht offiziell, de facto durch sie gesteuert wurde. Außerdem hatte sie sich bei Amtsantritt vor einem Jahr für das stagnierende Projekt des Synagogen-Neubaus eingesetzt und war damit zum Sprachrohr der jüdischen Gemeinde im Stadtrat geworden. Tatsächlich sah es nun danach aus, als würde der Spatenstich mitten im Zentrum der Stadt in wenigen Monaten stattfinden.

Sie selbst war Jüdin, aber nicht besonders gläubig. Ihr ging es nicht um den Bau eines neuen Gotteshauses, ihr ging es um eine »Antwort«, die weit über die Landesgrenzen hinaus gehört werden sollte, und darum, der rechten Szene einen schweren Schlag zu verpassen.

Mit leicht gesenktem Kopf folgte Sven Götze, Seligmanns neuer Social-Media-Experte, seiner Chefin, vorbei an leeren Parkplätzen quer durch die Tiefgarage des Rathauses. Mit seinen gerade mal sechsundzwanzig Jahren war der Job als Referent an der Seite dieser berühmten Politikerin für ihn besonders aufregend. An ihren ruppigen Ton hatte er sich sofort gewöhnt, nicht aber an ihre langen schnellen Schritte, denen er kaum folgen konnte, weshalb er immer leicht hinter ihr ging wie ein Hotelpage.

»Und wieso dauert die Programmierung so lange?«

Seligmann hatte geplant, ein eigenes Online-Magazin der Stadt zu etablieren, mit dem sie von nun an die sozialen Kanäle wirkungsvoller befeuern konnte und dessen erstes großes Thema der Bau der Synagoge sein würde.

»Nach den Bestimmungen des BGG müssen alle neuen Webseiten staatlicher Einrichtungen barrierefrei sein. Also behindertengerecht«, antwortete Götze.

»Und?«

»Das bedeutet skalierbare Texte, Navigationsmöglichkeit ohne Maus, Sprachsteuerung …«

»Götze!«, unterbrach ihn Seligmann und bliebt abrupt stehen. »Ich wusste schon, was Barrierefreiheit bedeutet, da haben Sie noch nicht mal Internet buchstabieren können. Also, ich will wissen, wie viel Zeit wir dadurch verlieren?«

»Vier Wochen. Maximal zwei Monate«, antwortete Götze zögerlich.

»Götze! Gerade aufgrund Ihrer hohen Sachkenntnis halte ich Ihre undifferenzierte Angabe für inakzeptabel. Finden Sie einen Weg, um die Seite schneller online zu setzen. Ich habe keine zwei Monate. Von mir aus pfeifen Sie auf die Barrierefreiheit.«

»Das lässt uns die IT-Abteilung niemals durchgehen!«

»Lassen Sie das mal meine Sorge sein.«

Ein gelangweilter Sicherheitsmann beobachtete die beiden über einen von vier Monitoren, als sich ein Audi A4 den Schranken näherte, die er durch eine große Glasscheibe zu kontrollieren hatte. Um diese Uhrzeit war es meist ruhig, denn kaum jemand in dieser Behörde arbeitete so lange wie Frau Seligmann.

Seine Nachtschicht hatte gerade begonnen. In einer halben Stunde würde er die Tiefgarage für heute dichtmachen und dann in dreistündigen Abständen seinen Rundgang durch das Rathaus antreten. Er war autorisiert worden, eine kleinkalibrige Waffe und einen Schlagstock mitzuführen. Beides hatte er im Leben noch nie einsetzen müssen.

Die Gemeinde hatte erst kürzlich beschlossen, einen privaten Sicherheitsservice mit der Bewachung zu beauftragen, nachdem bereits zweimal eingebrochen worden war und sensible Akten verschwunden waren.

Der Audi blieb an der Schranke stehen, doch sie öffnete sich nicht automatisch. Offensichtlich niemand vom Haus, denn die hatten alle eine elektronische Plakette, und private Besucher durften nur während des »Parteiverkehrs« einfahren. Um diese Zeit verweigerte der Ticketautomat bereits seinen Dienst, und der Wachmann hatte die unangenehme Pflicht, seinen warmen Glaskasten zu verlassen und den Fahrer zum Umkehren zu bitten. Schon jetzt hasste er den Fahrer des Audi, der bereits zweimal die Klingel betätigt hatte, die in seinem Kontrollraum schellte und für seinen Geschmack viel zu laut eingestellt war. Er raffte sich auf, ließ aber aus Bequemlichkeit den Halfter mit Schlagstock und Pistole an der Stuhllehne hängen.

Griesgrämig blieb der rundliche Sicherheitsmann neben dem Auto stehen, hinter dessen automatisch öffnendem Seitenfenster ein junger Mann mit Anzug erschien.

»Parteiverkehr ist seit zwei Stunden vorbei, kehren Sie bitte um und kommen Sie morgen wieder«, spulte der Sicherheitsmann monoton seinen Text ab.

»Ich arbeite hier, ich habe nur meine Chip-Karte vergessen!«

Der Sicherheitsmann sah sich den Fahrer nun genauer an. Irgendwie sah der nicht aus wie ein Politiker. Der breite Nasenrücken war das beste Zeichen für eine gebrochene Nase, und das zerknitterte Sakko spannte sich rund um die Schultern und Oberarme. Er kannte solche Typen und bedauerte es jetzt, den Gurt mit Schlagstock und Pistole an der Stuhllehne vergessen zu haben.

»Ihren Ausweis bitte!«, forderte er den Fahrer auf. Der Typ im Sakko grinste nur.

»Ich habe meinen Ausweis zusammen mit der Chip-Karte zu Hause liegen lassen, müsste aber dringend noch mal ins Büro.«

»In Ordnung, dann geben Sie mir bitte Ihren Namen, und ich werde Ihre Personalien und das Kennzeichen des Wagens überprüfen.«

Er zückte einen Notizblock und entfernte sich ein kleines Stück vom Wagen, um sich das Kennzeichen zu notieren.

Der Fahrer wurde sichtlich nervös.

»Hören Sie, ich bin mit einem Leihwagen unterwegs, mein Dienstwagen ist in der Werkstatt.«

Der Sicherheitsmann steckte misstrauisch den Notizblock wieder in die Jackentasche und schüttelte den Kopf.

»Hören Sie, ich würde Ihnen ja wirklich gerne helfen, aber so kann ich Sie auf keinen Fall passieren lassen. Ich muss Sie also bitten, die Einfahrt wieder frei zu machen. Ich werde noch anderweitig gebraucht.«

Das stimmte, denn während der ganzen Zeit waren die Kontroll-Monitore der Tiefgarage unbeobachtet geblieben – und allein das war das Ziel des unbekannten Fahrers gewesen.

Der Überfall geschah schnell und brutal. Zwei bullige Gestalten mit schwarzen Sturmmasken hatten sich Seligmann und Götze lautlos von hinten genähert. Einer der beiden trat Götze in die Kniekehlen, der so überrumpelt war, dass er den Schmerz kaum spürte und machtlos auf die Knie sank, wo ihm sein geübter Angreifer mit voller Wucht von hinten in das Kreuz trat. Götze kippte wie ein Sack nach vorne und knallte mit der Stirn auf den Betonboden.

Seligmann hatte gerade per Funkschlüssel die Türen des schwarzen Mercedes entriegelt und den Überfall zunächst überhaupt nicht mitbekommen.

Aus den Augenwinkeln nahm sie nur einen Schatten wahr, hörte den Aufschrei, bevor Götze mit dem Kopf aufschlug, und drehte sich überrascht um. Die breite Faust des zweiten Angreifers schlug ihr mitten ins Gesicht. Die randlose Brille zerschnitt Nasenrücken und ein Augenlid. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie verlor das Gleichgewicht, schwankte gegen die Seitentür des Mercedes und rutschte auf den Boden.

Während Götze heulend am Boden lag und sich die blutende Stirn hielt, erlebte sie die nächsten Minuten wie durch einen roten Schleier. Der Schock lähmte jegliches Gefühl.

Die beiden Täter packten den verzweifelt um Hilfe schreienden Götze und warfen ihn in den Kofferraum des Mercedes. Einer der beiden ließ ein Messer aufschnappen und hielt es Götze millimeternah vor das rechte Auge.

»Noch einen Ton und ich schneid dir den Augapfel raus.«

Götzes Wehklagen verwandelte sich in ein leises Wimmern. Es roch nach Urin, als der Kofferraumdeckel einschnappte.

Einer der beiden Angreifer zerrte Seligmann hoch, stieß sie auf den Rücksitz und setzte sich hinter das Steuer, während der zweite Mann neben ihr Platz nahm.

Langsam regte sich in ihr der Wille zum Widerstand. Sie musste sich Dinge einprägen, musste trotz der Schmerzen und des blutverklebten Auges versuchen, sich Merkmale oder Sprache der Täter zu merken.

Der Wagen sprang an, und der Mann neben ihr packte sie brutal an den Haaren, um sie nach unten zu drücken. Er selbst nahm ebenfalls eine gebückte Haltung ein. Seine schwarze Sturmmaske mit den funkelnden Augen war nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt. Seine Stimme flüsterte fast, und sein Atem roch nach Rauch und Bier.

»Hör genau zu, Judensau. Wir wollen nur eine klitzekleine Information von dir. Wenn du nur einen Mucks machst, wenn wir hier rausfahren, werden sie nicht mal eure Leichen finden. Hast du mich verstanden?«

Er zog stärker am Haarbüschel in seiner Hand. Erneut schoss eine Welle von Schmerz durch ihren gepeinigten Körper.

»Hast du mich verstanden?«

Seligmann nickte.

Der Fahrer des Audi war inzwischen lauter geworden und stand neben der Autotür.

»Das ist eine Sauerei! Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich da anlegen. Sie geben mir auf der Stelle Ihren Namen, damit ich Sie bei Ihrem Vorgesetzten melden kann.«

Der Sicherheitsmann war zutiefst irritiert, aber die Vorschriften waren eindeutig und der Typ war ihm nicht geheuer. Auf der anderen Seite wollte er aber nicht seinen Job riskieren. Mitten in diesem Dilemma winkte er die schwarze Limousine von Frau Seligmann durch die automatisch geöffnete Schranke, ohne das Gesicht des Fahrers wahrzunehmen.

Er wollte gerade anfangen, den breitschultrigen Anzugträger zu besänftigen, da stieg dieser plötzlich in seinen Audi, legte den Rückwärtsgang ein und gab so viel Gas, dass die Reifen auf dem glatten Boden durchdrehten. Dann verschwand auch dieses Auto aus dem Zuständigkeitsbereich des Wachmannes.

Es dauerte vierundzwanzig Stunden, bis er schließlich von der Polizei zu den Vorkommnissen verhört wurde. Er war fassungslos, dass er das Opfer einer Ablenkung geworden war. Und er war ebenso fassungslos, als man ihm eine Woche später die Stelle aus betrieblichen Gründen kündigte.

Gottfried Wegener, der in der rechten Szene nur Steiner genannt wurde, hatte die Entführung der Politikerin Seligmann genauestens vorbereitet. Er war nicht nur kaltblütig und brutal, sondern ein gerissener Stratege, der Risiko und Kalkül genau abzuschätzen wusste. Er war sozusagen die »Exekutive« der rechten Szene, den die bundesweiten Kameradschaften für die schmutzigen Jobs anheuern konnten, vorausgesetzt, die Bezahlung stimmte.

Schon als kleines Kind hatte Gottfried Wegener eine nationalsozialistische Erziehung genossen. Sein Vater, ein ehemaliger Luftwaffen-Pilot, schickte ihn schon als Fünfjährigen zur Wiking Jugend, die in Nordrhein-Westfahlen unter dem Deckmantel einer demokratischen Jugendorganisation die Tradition der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädel ungehindert fortführte. In der rechten Szene galt die »Wiking Jugend« als die herausragende Kaderschule des europäischen Rechtsextremismus und nahm eine Schlüsselstellung in einschlägigen Organisationen und Netzwerken ein.

Gottfried liebte die paramilitärischen Übungen mit seinen Altersgenossen, das Marschieren, Exerzieren und das Leben auf den Zeltplätzen in den Schulferien. Für ihn brach eine Welt zusammen, als 1994 der Bundesinnenminister die Wiking Jugend als nationalsozialistische Organisation einstufte und verbot. Zu diesem Zeitpunkt war sie die größte neonazistische Jugendorganisation Europas gewesen.

Aufgrund verschiedener Delikte wurde Gottfried schließlich zu sechs Jahren Haft verurteilt, kam aber schon nach knapp drei Jahren wegen guter Führung und »günstiger Sozialprognose« wieder auf freien Fuß. Dann verschwand er spurlos vom Radar des BND.

Gottfried Wegener lenkte den schwarzen Mercedes an den Stadtrand in ein stillgelegtes Kieswerk. Für die Fahrt hatte er seine Sturmmaske gegen ein Toupet und eine dicke Hornbrille mit Fensterglas getauscht, um auf keiner Überwachungskamera verwertbare Aufnahmen zu hinterlassen. Nach seinen Berechnungen hatte er mindestens zwei Stunden Zeit, bis die Fahndung nach Seligmann einsetzen würde.

Sein Kamerad Udo Rennicke presste Seligmann immer noch den Kopf auf die Ledersitze, richtete sich nun aber langsam auf, nachdem Gottfried den Motor abgestellt hatte. Draußen war es finsterste Nacht, und der Herbstwind hatte sich zu einem regelrechten Orkan entwickelt. Regen, Blätter und kleinere Äste peitschten gegen den Wagen und zeichneten sich im Lichtkegel der Scheinwerfer ab, die eine unwirtliche Gegend aus Kiesbergen und Gestrüpp beleuchteten. Aber dann erloschen auch sie, und trotz der wild pfeifenden Böen des Sturms war nun deutlich Seligmanns gepresster Atmen zu hören. Sie hyperventilierte, ihr Puls raste, und die Schmerzen in ihrem Gesicht hatten kein definierbares Zentrum mehr. Der Schmerz war einfach überall. Aus dem Kofferraum kam ein leises Wimmern. Götze schien am Leben, aber wie lange noch? Ihre Gedanken kreisten panisch um einen möglichen Rettungseinsatz. Wann würde man sie als vermisst melden? Sie arbeitete oft lange, ihr Mann würde wahrscheinlich ins Bett gehen, ohne auch nur den geringsten Verdacht zu schöpfen. Eine Fahndung würde also nicht vor morgen früh beginnen. Was immer diese brutalen Verbrecher mit ihnen vor hatten, sie konnten sich Zeit damit lassen.

Plötzlich wurde Seligmann an den Haaren hochgerissen. Das verletzte Auge war gänzlich zugeschwollen und mit einer dicken Blutkruste bedeckt. Mit dem anderen Auge konnte sie in der Dunkelheit nur schemenhaft die Köpfe der beiden Entführer erkennen. Gottfried hatte wieder seine Sturmhaube übergestreift, knipste die Innenbeleuchtung an und drehte sich zu seiner Gefangenen um, während Rennicke sie mit dem linken Arm umfasste und seine rechte Hand unter ihrem Kleid auf ihren Oberschenkel legte. Die Sturmmasken zeigten zwar nur die Augen ihrer Entführer, aber Seligmann konnte förmlich spüren, wie der Mann neben ihr sadistisch grinste.

Seligmann hatte keine Kraft mehr, hatte jeden Widerstand aufgegeben. Der schwarze Mercedes, gepeitscht von düsteren Naturgewalten, war zur gottverlassenen Folterkammer geworden.

»Was … Was wollen Sie?«, stammelte sie leise.

Die raue Hand des Mannes wanderte langsam unter dem Rock zwischen ihre Schenkel. Verzweifelt packte sie mit beiden Händen die kräftig behaarte Hand, um ihn aufzuhalten. Da hörte sie deutlich ein Klicken neben ihrem Gesicht und ein Klappmesser blitzte in der linken Hand des Mannes auf.

»Ganz schön wild, die Kleine. Wenn du nicht artig bist, verpass ich dir ein Gesicht wie Scarface.«

»Mach dir die Finger nicht schmutzig an dieser jüdischen Schlampe«, sagte der Entführer vor ihr.

»Meinst du, diese jüdischen Weiber haben auch eine Muschi?«

Seligmann wimmerte und flehte den Mann verzweifelt an. »Bitte, bitte. Tun Sie das nicht …«

Der Schmerz schien nicht mehr existent. Es war diese Ohnmacht, in der Gewalt dieser Bestien zu sein und so abgrundtief gedemütigt zu werden, die ihr den Verstand raubte. Ohne weiteren Widerstand hatte die Hand des Mannes schließlich ihre Scham erreicht.

»Bitte, hören Sie auf. Bitte … Was wollen Sie?«

Ein größerer Ast krachte donnernd gegen die Windschutzscheibe, so dass selbst die Entführer erschreckt auffuhren. Dabei verrutschte Gottfrieds Sturmhaube ein wenig und entblößte am Hals den Ansatz eines Tattoos. Seine Stimme war nun ganz ruhig und einfühlsam.

»Was wir wollen? Die Frage ist doch, was ihr wollt! Unsere schöne deutsche Stadt schänden, das wollt ihr doch!«

»Was meinen Sie? Was meinen S…«

Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter. Die Wunde am Auge hatte wieder zu bluten begonnen.

Der Mann neben ihr wurde ungeduldig und schrie sie an.

»Die jüdische Synagoge, du Schlampe!«

Mit einer kleinen Handbewegung zeigte Gottfried seinem Kameraden an, sich zurückzuhalten, aber auch seine Stimme nahm nun einen strengeren Tonfall an.

»Ihr wolltet 2,5 Millionen an Steuergeldern lockermachen für diesen Schandfleck. 2,5 Millionen! Von braven deutschen Bürgern! Doch dann habt ihr euch verzettelt, und die Kohle wurde auf Eis gelegt. So ein Jammer, das hätte sicher ein nettes Feuer gegeben.« Gottfrieds Stimme wurde bedrohlich. »Jetzt muss ich hören, dass ein stinkreicher Itzig den Bau der Synagoge mit seiner eigenen Kohle zahlen will!«

Seligmann hatte endlich verstanden. Ihre Peiniger wollten den Namen des privaten Geldgebers haben, den ihr Rabbi Moshe heute Nachmittag vorgestellt hatte. Aber das konnten sie doch unmöglich schon wissen.

»Ich weiß nichts von einem privaten Geldgeber. Sie müssen mir glauben. Ich …«

Gottfried wandte sich kurz ab und brachte ein Foto zum Vorschein, das er unter das Deckenlicht hielt. Dabei zeigte seine verrutschte Sturmmaske noch mehr von dem Tattoo am Hals, doch Seligmann hatte keinen Blick mehr dafür.

Auf dem Foto waren zwei süße Mädchen zu sehen, die eine junge Frau gerade vom Kindergarten abholte. Selbst die Hand zwischen ihren Beinen und der donnernde Orkan waren nun weit fort, denn inmitten dieser grausamen Szenerie erkannte sie das süße, unschuldige Lächeln ihrer beiden Enkelinnen.

Süffisant kommentierte Gottfried das Bild: »Zwei widerliche kleine jüdische Bastarde. Findest du nicht?«

Die Stadträtin schnappte nach Luft, ihr Schluchzen wurde hysterisch und laut.

»Nein, nein! Was sind Sie nur für Menschen?«

Langsam begann er, kleine Fetzen von dem Foto abzureißen.

»Genau. Wir sind Menschen, aber Ihre kleinen Bastard-Mädchen sind nur verschmutztes arisches Blut. Weißt du, du zitternde Judenschlampe, ich sehe da keine kleinen, niedlichen Kinder. Sondern nur zwei kleine brennende Leiber.«

Gottfried trennte mit einem Riss die Köpfe von den Körpern der Kinder, hob die Sturmmaske an und stopfte sie sich in den Mund.

»Ja, das würde mich glücklich machen!«

Udo gluckste, als er sah, wie Seligmann endgültig zusammenbrach. Sie begann heftig zu zittern, und für einen kurzen Augenblick hatte er Angst, dass die alte Frau einen Herzinfarkt bekommen könnte. Doch dann würgte sie ein Wort hervor.

»Ephraim …«

»Ich versteh dich nicht. Sprich lauter oder deine Judenbrut wird den morgigen Tag nicht erleben. Das schwör ich dir!«

»Ephraim. Ephraim Zamir.«

Die Stadträtin sackte laut weinend zusammen und senkte den Kopf, sie konnte es nicht ertragen, die letzten Fetzen des Bildes ihrer Enkelinnen zu betrachten.

Rennicke zog seine Hand unter dem Rock hervor und roch angewidert an seinen Fingern.

Gottfried griff der Frau nochmals unter das Kinn, hob ihren Kopf an, um ihr tief in die verquollenen und blutverschmierten Augen zu sehen.

»Wenn du gelogen hast, töten wir die Kleinen. Wenn du uns die Bullen auf den Hals hetzt, töten wir die Kleinen. Wenn du weiterhin versuchst, den Bau der Synagoge fortzusetzen, dann töten wir die Kleinen.«

Doch Seligmann hörte kaum mehr seine Stimme und starrte unbewusst auf das Tattoo am Hals des Mannes. Es waren Schlangenköpfe mit herausgestreckten Zungen, die über dem Rundausschnitt des T-Shirts hervorblickten. Das Tattoo an Gottfrieds Hals prägte sich in ihrem Gedächtnis ein.

Grober Sand spritzte auf, als der schwarze Mercedes mit hoher Beschleunigung die Kiesgrube verließ. Am nächtlichen Tatort blieben zwei am Boden kauernde Gestalten zurück, auf die der tobende Herbststurm keine Rücksicht nahm. Seligmann wollte nur noch sterben. Götze nahm seine gebrochene Chefin fest in den Arm und weinte leise mit ihr.

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