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ОглавлениеKARL II
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
Es war Mittag, als Karl sich auf dem Weg zur »Kameradschaft« machte. Irgendwo in der Ferne läuteten Kirchenglocken. In dieser gottverdammten Gegend, die von den schwindenden deutschen Anwohnern gehässig »Klein-Istanbul« genannt wurde, hörte man sonst nie Kirchenglocken.
Wenn wir schon dabei sind, Synagogen in Brand zu stecken, könnten wir mit den Moscheen eigentlich gleich weitermachen, dachte Karl.
Die Zentrale der Kameradschaft genau in diesem Viertel anzusiedeln war Kalkül gewesen. Hundertfünfzig solcher Kameradschaften gab es in Deutschland, allein in Sachsen vierzig mit knapp zweitausend Mitgliedern. Als 1995 die »Freiheitlich Deutsche Arbeiterpartei« als verfassungswidrig erklärt und aufgelöst wurde, organisierte sich die extreme Rechte in »privaten« Vereinen, den »Kameradschaften«. Es war damit deutlich schwerer geworden, neonazistische Täter zu belangen. In einem Zivilprozess beispielsweise hätten alle Mitglieder einer Kameradschaft genannt und verklagt werden müssen. Ein raffiniert gesponnenes Organisationsnetz ermöglichte den Führern der rechten Szene, die nach außen völlig autonom agierenden Kameradschaften wie eine geschlossene Vereinigung zu steuern. Und dass diese Führungsspitze sich in der NPD organisierte, war offensichtlich, aber schwer nachweisbar. Karl hing seinen Gedanken nach, während er einen kleinen Park durchquerte, der nachts von Strichern und Junkies bevölkert war. Bei schönem Wetter spielten hier kleine Kinder, die hin und wieder benutzte Kondome und versifftes Drogenbesteck fanden.
Eine absolute Sauerei, und keiner schert sich darum, und die Bullen schon zweimal nicht.
Auch das verpatzte Treffen mit Stresemann ließ Karl keine Ruhe, und so bemerkte er die jungen Türken nicht, die auf einem verwahrlosten Kinderspielplatz herumlungerten.
»Hey … Glatze!«, rief ein breitschultriger Kerl, der auf einer Schaukel gesessen hatte, nun aber mit Schwung auf den Sand sprang und seine Zigarette wegschnippte.
»Hey, ich rede mit dir … Hörst du mich, Glatze?«
Sofort war Karl in Alarmbereitschaft. Langsam drehte er sich um und zählte vier junge Männer, alle wahrscheinlich jünger als er selbst. Mit zweien hätte er es aufnehmen können, aber vier waren eindeutig zu viel. Da er auf der einen Seite keine Lust hatte, mit blutendem Gesicht in der Kameradschaft anzukommen, und auf anderen nach seiner Meinung ein Deutscher in seinem eigenen Land niemals vor Kanaken wegrennen sollte, blieb ihm nur eine Wahl.
Behutsam griff er nach hinten an seinen Hosenbund, wo seine Kleinfeuerwaffe steckte – ohne Seriennummer und geladen.
Die Umgebung war ruhig. Soweit er auf die Schnelle sehen konnte, waren die Balkone leer. Weit und breit sah er keine Fußgänger. Noch immer rauschte der Wind durch die Bäume, und dunkle Regenwolken zogen am Himmel.
»Hast du was auf den Ohren, du Scheiß-Nazi?«
Der Breitschultrige kam bedrohlich auf ihn zu, war aber immer noch etwa zwanzig Meter entfernt. Es war also noch genug Zeit, sich vorzubereiten. Karl entsicherte die Waffe, ließ sie aber im Bund stecken. Dann kramte er aus seiner Seitentasche eine schwarze Strickmütze und stülpte sie sich über den Kopf. Sollte es später doch Zeugen geben, würde man es mit der Identifikation schwerer haben. Eines war klar, er musste sie alle vier kriegen.
Der Breitschultrige zog ein Klappmesser, ließ es aufspringen und ging weiter auf Karl zu. Irgendetwas stimmte da nicht. Warum lief der bescheuerte Nazi nicht weg? Ganz automatisch verlangsamte er seine Schritte.
Die anderen Türken hatten bisher nur lachend zugesehen und ihm aufmunternd zugerufen. Nun aber stand der Glatzkopf einfach so da und zog sich in aller Ruhe eine Mütze auf. Hatte er sie noch alle?
Der Spaß war offensichtlich zu Ende. Keiner von den Türken riss nun mehr starke Sprüche oder lachte. Aber ihr Stolz war zu groß, um den Typen einfach gehen zu lassen oder klein beizugeben.
»Was guckst du so blöd, Nazifresse?«, schrie ihm der Breitschultrige entgegen, der stehen geblieben war.
Karl verharrte regungslos und wartete den richtigen Augenblick ab. Mit einer kleinkalibrigen Waffe konnte man nur aus nächster Distanz wirklich gut treffen.
Ein langer, hagerer Typ hatte seinen Freund inzwischen eingeholt.
»Mach keinen Quatsch, Cevat! Spinnst du?«, sagte er leise zu ihm und hoffte, dieser Tag würde nicht blutig enden.
»Hey Mann, weißt du, was die Schweine mit meiner Schwester …?«
»Ich weiß, ich weiß … Aber wenn wir den jetzt fertigmachen, haben wir nicht nur die Bullen am Hals.«
Ein halbes Jahr lag es zurück, als Cevats Schwester Irem mit ihrem deutschen Freund auf dem nächtlichen Heimweg von einer Gruppe Skinheads angepöbelt worden war. Ihren Freund hatten sie als Rassenschänder beschimpft und festgehalten, während zwei von ihnen Irem zwangen sich hinzuknien, und auf sie urinierten. Allein die Vorstellung machte Cevat noch immer so wütend, dass er sich nicht um die Argumente seines Freundes Namik scherte, sondern wild entschlossen mit gezücktem Messer auf den Neonazi zuging. Er sollte büßen für diese Schandtat.
Karl sah den Breitschultrigen weiter auf sich zukommen. Seine Freunde folgten ihm in leichtem Abstand. Sie redeten laut auf ihn ein. Karl verstand zwar nur ein paar Brocken türkisch, aber auch so war es offensichtlich, dass sie versuchten, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Es waren vielleicht noch knapp zehn Meter, die die Gruppe noch von ihm trennte. Wenn er wollte, konnte Karl die Waffe ziehen und einen Warnschuss abfeuern. Mit etwas Glück würden sich die Türken dann verziehen. Was aber, wenn sie ebenfalls eine Waffe hatten? Er spürte, wie seine Handfläche am Griff seiner Pistole feucht wurde. Keine Sekunde dachte er über die Konsequenzen einer Bluttat nach. Seine Angst vor dem Gefängnis oder davor, Thomas erneut im Stich zu lassen – alles lag hinter einem dichten Schleier verborgen. Er war einzig und allein darauf fokussiert, zu überleben und notfalls zu töten.
Der Breitschultrige würde als Erster dran glauben müssen, aber er würde die Nerven behalten und abwarten, bis er unmittelbar vor ihm stand, dann würde er die Waffe ziehen und ihm eiskalt zwischen die Augen schießen. Karl spürte Regentropfen auf seinem Gesicht.
Namik packte den wütenden Cevat von hinten an den Schultern und versuchte ihn aufzuhalten.
»Cevat, lass dieses Arschloch, was hat deine Schwester davon, wenn du im Gefängnis sitzt?«
Cevat sah nur noch die funkelnden, blauen Augen seines Gegners. Er spürte, wie dieser ihn verhöhnte, ganz als würde er ihm entgegenrufen: Komm doch her du Kanake – ich werd dich anpissen, so wie ich deine Schwester angepisst habe.
Reflexartig riss er mit aller Kraft den Ellenbogen nach hinten, um sich aus dem Griff des Freundes zu befreien. Er traf ihn dabei mit enormer Wucht am Hals. Namik spürte einen stechenden Schmerz, als sein Adamsapfel in den Hals gedrückt wurde und ihm die Luft abschnitt. Röchelnd brach er zusammen.
Cevat drehte sich um, streckte dem am Boden liegenden Freund sein Messer entgegen und schrie: »Namik, ich werde dieses Schwein aufschlitzen, und wenn ich dafür in den Knast wandere, ist mit scheißegal!«
Karl wusste, so eine Gelegenheit würde er nicht noch einmal bekommen. Der Breitschultrige hatte sich von ihm abgewandt, der Hagere lag am Boden und die beiden anderen eilten gerade zu ihm. Sein Herz pochte wie wild.
Jetzt ganz cool bleiben. Ruhig und zielstrebig auf die Opfer zugehen und die Schussdistanz auf wenige Meter minimieren. Dann Waffe ziehen, Arm durchstrecken und vier gezielte Schüsse abfeuern.
In Gedanken ging er die Reihenfolge durch.
Den Breitschultrigen als Erstes, den am Boden Liegenden als Letztes. Nicht die Nerven verlieren. Nach dem ersten Schuss, spätestens nach dem zweiten, wird Panik ausbrechen. Einen klaren Kopf behalten, ruhig zielen und den Fliehenden in den Rücken schießen.
Die vier Türken bemerkten kaum, dass Karl sich in Bewegung setzte. Ihr Freund lag am Boden und röchelte. Namik lief blau an, er bekam keine Luft mehr. Cevat konnte es nicht fassen. Sein bester Freund lag am Boden und drohte, durch seine Schuld zu ersticken. Geifer rann aus seinem Mund, seine Augen verdrehten sich, sein Körper zuckte im Todeskampf.
Cevat ließ das Messer fallen, kniete sich neben Namik in den Schlamm und betete zu Gott, er möge Namik nicht für seine Sünden bestrafen. Auch die Augen seiner beiden Freunde waren nur noch auf Namik gerichtet.
Karl hatte seine Schussposition erreicht. Jetzt war die optimale Gelegenheit, alle vier Kanaken erbarmungslos zu liquidieren … aber er zögerte.
Der Breitschultrige war tief über seinen Freund gebeugt und weinte. Er schrie irgendetwas auf Türkisch, während Namik langsam das Bewusstsein verlor.
»Ihr müsst ihn beatmen«, rief Karl.
War das seine Stimme, die das eben gesagt hatte?
Die Türken reagierten nicht.
Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder Herr seiner selbst zu sein. Was zum Teufel tat er hier? War er gerade dabei, vier Menschen zu ermorden? Er musste an Thomas denken. Was, wenn Thomas hier röchelnd am Boden läge?
Ohne weiter nachzudenken, packte er den Breitschultrigen und zerrte ihn von seinem Freund herunter. Es gab keine Gegenwehr, weder von Cevat noch von seinen verzweifelten Freunden.
Karl hielt Namik mit den Fingern die Nase zusammen und presste seinen Mund auf den des sterbenden Türken. Er blies so fest er konnte Sauerstoff in dessen Mundöffnung, aber der Gegendruck war zu groß. Er ließ ab, holte tief Luft und blickte nach oben in versteinerte Gesichter.
»Scheiße, was glotzt ihr, ruft einen Notarzt, euer Freund krepiert hier!«
Dann setzte er erneut an und presste mit aller Kraft Sauerstoff durch Namiks verengte Kehle. Wenn Namik nicht bald wieder zu sich kommen würde, müssten sie einen Luftröhrenschnitt machen. Erlebt hatte er das auf einer Demo, als Antifas einen Kameraden am Boden in den Hals getreten hatten. Ein Sanitäter rettete ihm durch einen Schnitt in die Kehle das Leben. Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass einer der beiden Türken hektisch telefonierte. Und wieder presste er seinen Mund auf den Mund des anderen. Er spürte, dass die Beatmung ihm nun leichter fiel. Und tatsächlich, der Türke öffnete die Augen.
Cevat versuchte Karl zur Seite zu stoßen, aber Karl ließ nicht von Namik ab, seine Hände hatten sich in dessen Jacke verkrallt. Die Blicke der Kontrahenten prallten aufeinander.
Karls Stimme klang gepresst: »Du musst weitermachen. Verstehst du? Weitermachen, bis der Notarzt da ist.«
Cevat zögerte. Karl lockerte seinen Griff und wich zurück. »Los, mach schon!«
Cevat kniete sich über seinen Freund, holte tief Luft und blies Namik lebensspendenden Sauerstoff in die eingequetschte Luftröhre.
Keiner sagte mehr ein Wort. Karl stand auf und betrachtete eine Weile, wie Cevat um das Leben seines Freundes kämpfte. Dann stahl er sich wortlos davon, während er in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens hörte.
Er hatte einem Menschen das Leben gerettet. Und er hatte soeben all seine Ideale verraten! Er sollte sich dreckig und leer fühlen, aber er war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zufrieden mit sich selbst.
–
»Klein-Istanbul«: Die Ladenzeile, die Karl vollkommen durchnässt im Regen entlangging, war fast ausschließlich von türkischen Geschäften flankiert. Metzger, Gemüsehändler, Import-Export, Friseurläden, sie alle warben in türkischer Sprache. Die Fassaden der Häuser wirkten verwahrlost, Bauzäune waren in dutzenden Schichten mit türkischer Werbung und Event-Plakaten zugepflastert. Der Geruch von gebratenem Fleisch mit Knoblauch kam mit einer dampfenden Rauchwolke aus dem Küchenabzug eines Döner-Imbisses, den gerade eine verschleierte Frau mit drei kleinen Kindern verließ. Sie überquerte die menschenleere Straße und verschwand in einem Hauseingang mit zerbrochener Glastür, die ein schwarzer Graffiti-Penis zierte. Irgendwo aus einem offenen Fenster im dritten Stock drang Oud-Musik, während sich an einem anderen Fenster lauthals ein türkisches Pärchen zoffte. Wind und Regen hatten das Viertel fast leergefegt, aber an sonnigen Tagen erwachte das Leben in »Klein-Istanbul«. Dann verwandelte sich die Straße in einen Basar mit dutzenden von Händlern, die lauthals ihre Ware anpriesen, spielenden Kindern, die zwischen den Beinen der Käufer umherjagten, und alten Männern, die an Klapptischen an ihrem schwarz gebrühten Mokka nippten und das lebendige Treiben verfolgten.
Mitten in dieser Enklave hatte die Kameradschaft Germania ihren Hauptsitz in einer Kneipe, oder, wie Karl es Neulingen gerne blumig beschrieb: »Hier brechen sich die Integrationsbemühungen der deutschen Regierung wie die Gischt an einer felsigen Küste, hier sticht die Kameradschaft Germania heraus wie ein roter Pickel auf einem Türkenarsch.«
In weißer Frakturschrift auf schwarzem Grund markierte der Schriftzug den Eingang zu einer gänzlich fremdenfeindlichen Welt. Auch das auf Hochglanz polierte, schwarze Mercedes S-Klasse Coupé mit kleinem NPD-Logo, das davor parkte, setzte ein eindeutiges Zeichen.
Ein glatzköpfiger Hüne stand mit breiten Beinen an der geöffneten Tür der Kameradschaft und beobachtete die Umgebung, als könnte es jeden Augenblick einen Großangriff der Muslime geben. Trotz der Kälte trug er nur ein schwarzes Muskelshirt, das sich über der Brust spannte und ungeniert auf dem rechten Bizeps ein Hakenkreuz entblößte. Auf dem Shirt stand »Troublemaker Germany« – und das war ganz sicher als Warnung zu verstehen, denn am Türstock neben dem Muskelprotz lehnte ein Baseballschläger, der schon einige Kerben hatte. Türkische Anwohner wechselten in der Regel die Straßenseite vor der Kameradschaft. Wer dennoch der Meinung war, auf sein Recht pochen zu müssen und die Frechheit besaß, das Revier der Kameradschaft zu missachten, der konnte im wahrsten Sinn des Wortes sein blaues Wunder erleben.
Karl näherte sich mit schnellen Schritten dem Hünen, dessen furchteinflößender Gesichtsausdruck bei seinem Anblick schlagartig ein breites Grinsen annahm. Kaum standen sich die beiden gegenüber, umarmte der Hüne ihn heftig und küsste ihn auf die Wange. Dann schob er Karl wieder von sich und betrachtete ihn wohlwollend.
»Karl Rieger! Ich glaub’s nicht. Alte Hackfresse!«
Karl war erschöpft, aber er bemühte sich, die Begrüßung respektvoll zu erwidern.
»SS-Rudi! Hast dich nicht verändert«, sagte er anerkennend.
»Meinst du? Schau dir das an!« Rudi zog sein Hemd hoch, grinste und zeigte Karl eine frisch verheilte Stichwunde. »Hat mir ein Antifa verpasst, hat mich fast die Leber gekostet.«
»Du meinst, was davon noch übrig war.«
Beide lachten laut und klatschten sich ab.
»Und?«, fragte Karl
»Hab ihm seinen Kiefer gebrochen und die Nase zertrümmert. Wenn der von der Intensiv runter ist, braucht er erst mal ein neues Passfoto.«
»Au Scheiße«, schloss Karl das Ritual vorzeitig ab, denn die ewige Prahlerei dieser hirnlosen Kampfmaschinen langweilte ihn, obwohl er natürlich wusste, dass die Bewegung Typen wie SS-Rudi unbedingt brauchte.
Karl zeigte auf den Mercedes. »Thielen schon lange da?«
Rudi nickte. »Hat schon zweimal nach dir gefragt. Hat sich schon heiß geredet da drin.«
»Na dann … Halt die Straße sauber!«
Mit diesen Worten ging Karl an Rudi vorbei ins Innere der Kneipe. Die schneidende, laute Stimme von Thielen drang an seine Ohren, und er tauchte ein in einen Dunst aus Schweiß, Rauch und Hass.
Der Versammlungsraum war größer, als man von außen vermuten mochte. Einst war es eine Wirtschaft, in der es traditionelle deutsche Küche und Bier vom Fass gab, aber aufgrund der Lage blieb irgendwann die Kundschaft aus, und die Brauerei, der das Anwesen gehörte, versuchte vergeblich einen Pächter zu finden, der in diesem Stadtteil auch weiterhin auf »deutsche Gemütlichkeit« setzen wollte. Bei einer Anfrage durch einen seriösen Mittelsmann verpachtete man schließlich die komplett renovierungsbedürftige Kneipe zu überhöhten Preisen an die Wilhelm-Tietjen-Stiftung, einer Tarnfirma der rechten Szene, und vereinbarte eine Mindestabnahme an Bierlitern pro Monat. Vor der Tatsache, dass ein rechtsradikaler Verein die Räumlichkeiten bezog, verschlossen die konservativen Kräfte der Brauerei die Augen und freuten sich insgeheim sogar, dass es an diesem »Schandfleck« der Stadt bald Ärger geben würde.
Man hatte sich sogar schon eine PR-Strategie zurechtgelegt und wollte sich im Notfall als »vorsätzlich getäuscht« aus der Affäre ziehen.
Aber seit Übergabe der Immobilie vor mehr als zwei Jahren hatte es keine lokale Zeitung gewagt, diesen Tatbestand zu erwähnen. Es war eben die größte Brauerei der ganzen Region und damit ein bedeutender Anzeigenkunde in jedem Tagblatt. Und so störte sich auch niemand daran, dass direkt über dem Eingang neben dem Schriftzug KAMERADSCHAFT GERMANIA das leuchtende Logo der Brauerei prangte.
Den typischen Charakter einer traditionellen deutschen Wirtschaft hatten die Kameraden ganz bewusst erhalten. Schließlich hatte auch Hitlers Karriere in den Bierkellern der Hauptstadt der Bewegung begonnen.
Bis zu achtzig Neonazis konnten hier an rustikalen Bierbänken und Tischen, die auch die eine oder andere Keilerei aushielten, bewirtet werden. Kulinarisch beschränkte sich der neue Pächter auf Bockwürste, Leberkäse, Kartoffelsalat und Semmeln, aber das Bier kam noch immer aus dem Fass.
Karl musste sich durch die Leiber der Kameraden quetschen, um Thielen sehen zu können, der mit einem Mikrofon in der Hand auf einem Schemel stand und sich im Applaus seiner Anhänger aalte.
Thielen trug heute über seinem Anzug einen langen schwarzen Ledermantel, in Anlehnung an die Mäntel der SS, der ihm eine dominante Aura verlieh. Neben ihm, an einem separaten Tisch, saß Thielens hagerer Parteikollege Helge Eckl in einem dunkelblauen Anzug. Eckl war knapp dreißig und hatte einen stoischen Gesichtsausdruck, der nur selten emotionale Regungen zeigte. Er bediente einen Laptop, der mit einem Beamer verbunden war, und passte so gar nicht in diese martialische Szenerie. Eckl war so etwas wie der IT-Beauftragte der Partei. Er hatte ein Händchen für Computer und besaß ein paar Grundkenntnisse für Webprogrammierung. Ansonsten galt er als schwieriger Typ, mit dem man keinen Spaß haben konnte und der allein schon dadurch verdächtig auffiel, dass er Vegetarier war und Alkohol verabscheute. Eckl war in der Runde der Kameradschaft akzeptiert, aber nicht mehr und nicht weniger.
Der Lichtstrahl des Beamers warf im dicken Rauch der Kneipe den Schriftzug KAMERADSCHAFT GERMANIA mit dem Logo einer Wolfsangel auf die Leinwand. Die Wolfsangel war ein beliebtes Ersatzlogo für das Hakenkreuz und erinnerte mit ihrer zackigen Form stark an die SS-Runen. Mittlerweile gehörte es aber auch laut Strafgesetzbuch zu den in Deutschland verbotenen Zeichen.
Thielen hob selbstgefällig und beschwichtigend die rechte Hand und wartete, bis sich die Menge wieder beruhigt hatte.
Der Schankraum war voll wie noch nie. Diesmal waren es sicher mehr als fünfzig Kameraden – und zu seiner Überraschung war auch sein junger Freund Thomas Worch anwesend und klatschte begeistert Beifall.
Wieder setzte Thielen theatralisch mit einer ausholenden Geste an, um seine Gefolgsleute auf ihre gemeinsame Ideologie einzuschwören.
»Und genau wie in jenen ersten Tagen der Bewegung unseres geliebten Führers müssen wir nun noch wachsamer sein und jeden weiteren Schritt noch sorgfältiger planen. Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben. Der Feind ist stark, und er ist überall. Vielleicht sitzt er sogar hier unter uns? Nein, Kameraden, ich möchte keine Zwietracht sähen, denn das Gift des Misstrauens sitzt tief und zerfrisst auch die stärksten Bündnisse. Aber genau das ist das Ziel dieser Regierung, sie verbreiten ihre Lügengeschichten über uns, spucken auf die Ideale unserer Väter und Großväter und unterwandern unsere Reihen. Aber das lassen wir nicht zu. Kameraden! Das lassen wir nicht zu!«
Thielen muss vorsichtiger sein, dachte Karl. Als offizieller Vorsitzender einer demokratischen Partei durfte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Schon die Floskel »unser geliebter Führer« konnte ihm politisch den Hals kosten. Öffentlich würde er es auch niemals wagen, sich als waschechter Neonazi zu outen, aber hier, unter seinen Brüdern im Geiste, ging ihm gerne mal der Gaul durch. Er liebte es dann, ganz in Goebbels-Manier die altbekannten Phrasen zu dreschen und seine wahre Gesinnung zu zeigen. Aber auch hier war das nicht ganz ungefährlich.
Karl blickte in die Reihen seiner Kameraden und fragte sich, ob unter ihnen ein Spitzel war. Seit 2001 der Verfassungsschutz beim ersten Verbotsverfahren zugeben musste, sogar V-Leute in der Führungsspitze der NPD zu haben, war ein gewisses Misstrauen unter ihnen entstanden. Nur eine falsche Bemerkung, nur eine leichte Kritik an der Bewegung – und schon konntest du in den Verdacht kommen ein V-Mann zu sein. Der Rauswurf aus der Kameradschaft war dann noch das kleinste Übel. Was dachte sich Thielen also dabei, hier solche Reden zu schwingen? Dafür gab es die Anheizer in der Kameradschaft. Typen wie ihn, die reden konnten – und eben nicht in der Partei waren. Der Verfassungsschutz wartete doch nur darauf, dass hochrangige NPD-Mitglieder genau solche Dummheiten begingen – und dann? Menschen wie Thielen lernten einfach nicht dazu. Selbst Hitler hatte nach seinem misslungenen Putschversuch 1923 eingesehen, dass der einzige Weg an die Macht ein legaler sein musste. Und was Thielen hier gerade abzog, war alles andere als legal. Oder gehörte es zu einem Plan, den er bislang noch nicht durchschaut hatte?
»Und ich sage euch, sollten sich hier in unseren ehrenvollen Reihen dreckige Ratten verstecken, die uns ausspionieren, dann werden wir nicht nur dieses Ungeziefer gnadenlos ausmerzen, sondern auch ihre Brut – ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Gesinnung!«, schloss Thielen, deutete mit dem Daumen vor seiner Kehle einen Schnitt an und schwieg.
Ekstatisch johlten und applaudierten die Kameraden und trommelten mit den Fäusten auf die Tischplatten. Es entstand ein ohrenbetäubender Lärm, der durch Mark und Bein ging, begleitet von Rufen wie »Bringt die Schweine um!«.
Thielen hob wieder die Hand, aber es dauerte eine Weile, bis sich auch der letzte Hitzkopf beruhigt hatte und Stille einkehrte.
»Meine Kameraden, meine Blutsbrüder! Ich kenne euch alle und liebe euch wie mein eigen Fleisch und Blut.« Er legte eine Hand auf sein Herz. »Ich weiß, dass in euren Reihen kein Einziger ist, der unseren Bund verraten würde. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Dafür würde ich mein Leben geben!«
Was hat Thielen vor?, überlegte Karl. So theatralisch hatte er ihn selten erlebt. Erst jagte er ihnen eine Höllenangst ein, dann baute er sie wieder auf.
»Angst lähmt, meine Freunde. Aber wir dürfen keine Angst haben, denn vor uns liegen große Aufgaben, für die unser Schulterschluss enger sein muss als jemals zuvor!«
Thielen nickte leicht, und Eckl wechselte zur nächsten Folie in der Präsentation. Die Leinwand zeigte eine 3D-Animation der geplanten Synagoge. Sofort begann das erregte Publikum zu pfeifen und zu buhen. Eine Bierflasche krachte gegen die Leinwand und brachte sie zum Wanken, während sich das Bier über das Bild der Synagoge ergoss. Das Publikum lachte.
Thielen brachte das Mikrofon näher an seinen Mund und übertönte den Lärm. »Wollt ihr so einen Schandfleck in unserer deutschen Stadt haben? Wollt ihr das?«
Als Antwort erhielt er Pfiffe und Buh-Rufe. Aber Thielen war das noch nicht genug. Laut schrie er in das Mikrofon: »Ich kann euch nicht hören!«
Die Neonazis standen nun nacheinander auf, stampften mit den Springerstiefeln auf den Boden und schrien sich die Kehle aus dem Hals.
Thielen lächelte zufrieden. Ja, das waren seine Jungs, das war seine Armee! Wie ein Pfarrer bei der Segnung streckte er beide Hände nach ihnen aus, bis sich die Menge beruhigt und wieder hingesetzt hatte.
Nun senkte er auch seine Stimme und vermittelte wieder ganz den Eindruck eines gemäßigten Politikers.
»Bislang konnten wir den Bau dieses zionistischen Tempels erfolgreich vereiteln, aber nun … Nun haben die Juden einen privaten Finanzier gefunden. Einen Juden, der so viel Geld in der Tasche hat – ich möchte nicht wissen, woher –, dass der Bau in absehbarer Zeit fortgesetzt werden könnte.«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Glatzköpfe.
Eckl wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann wechselte er erneut die Folie. Thielen fuhr fort.
»Dieser alte Mann …«, er zeigte auf ein schlechtes Foto von Ephraim Zamir, »… ist der jüdische Geldsack, der unsere deutsche Stadt in einen Schandfleck verwandeln wird, auf die andere Kameradschaften angewidert mit dem Finger zeigen werden!«
Der Zwischenruf einer Kinderstimme erntete laute Zustimmung: »Lyncht die Judensau!«
Es war Thomas gewesen, der nun selbst auf einem Stuhl stand und aus voller Kehle den Satz immer wieder wiederholte, bis die Kameraden irgendwann zu lachen begannen und Thielen den Jungen anwies, nun leise zu sein.
Kaum hatte Thomas sich wieder gesetzt, zeigte Thielen auf Gottfried Wegener und winkte den bulligen Kerl mit der Schlangentätowierung am Hals zu sich.
»Ich glaube nicht, dass wir den alten Mann gleich umbringen müssen. Wir sind doch keine Unmenschen, oder, Steiner?«
Alle lachten, und Karl wunderte sich darüber, wie wenig die meisten hier verstanden, dass man sie gerade vorgeführt hatte. Es war so leicht, diese zornige Masse zu manipulieren.
Gottfried stand nun mit finsterem Gesicht neben Thielen, der ihm eine Hand vom Schemel herab auf die Schulter legte.
»Es wird völlig ausreichend sein, wenn Steiner und Kamerad Udo dem Itzig einen Besuch abstatten und ihm ganz … vernünftig … unsere Argumente unterbreiten.«
Dabei zeigte sein Gesicht ein teuflisches Grinsen.
»Und damit sich dieser Jude unsere Argumente auch anhört, wird unser jüngster Kamerad den beiden dabei helfen.«
Alle Blicke richteten sich auf Thomas Worch, und die Kameraden klopften anerkennend mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatten.
Thomas platzte fast vor Stolz, doch Karl schnürte es die Kehle zu.
Was sie da vorhatten, war höchst gefährlich. Der Jude war ihm egal, sollten Steiner und Udo mit ihm machen, was sie wollten, aber warum musste Thomas mitkommen?
Karl stand auf. Kaum einer hatte ihn bis jetzt bemerkt, und nun waren die meisten überrascht, ihn wiederzusehen. Karl war so etwas wie ihr heimlicher Anführer, nicht so ein geleckter Parteibonze wie Thielen. Karl war einer von ihnen. Sofort wurde es mucksmäuschenstill im Raum.
»Thielen, das kannst du nicht bringen. Thomas ist noch ein Kind, und ich kann mir nicht vorstellen, wobei er Steiner und Udo helfen könnte«, sagte Karl.
Thomas konnte den Zorn auf seinen Freund nicht verbergen.
»Ich bin kein Kind mehr, du Arschloch! Ich bin fast vierzehn!«
Noch bevor Karl etwas sagen konnte, übertönte Thielen ihn mit dem Mikrofon.
»Mit vierzehn haben unsere Väter bereits mit Panzerfäusten russische Panzer vernichtet. Karl, extreme Zeiten erfordern extreme Maßnahmen.«
Aber so leicht wollte sich Karl nicht geschlagen geben.
»Was zum Henker kann Thomas denn schon machen, was Steiner und Udo nicht können?«
Thielen sah kurz seinen Assistenten an und nickte leicht. Ein Bild von Zamirs Turm erschien auf der Leinwand. Es musste erst vor kurzem gemacht worden sein. Vor dem Turm lagen überall große Äste herum.
»Hier in diesem alten Turm lebt dieser Itzig. Der einzige Eingang ist eine erhöht liegende Pforte – und zwar hier.«
Thielens Hand warf einen Schatten auf die Stelle, an der die beiden geschwungenen Treppen vor der Eingangstür endeten.
»Die ersten Fenster beginnen in einer Höhe von vier Metern«, fuhr er fort. »Denkst du, der Jude öffnet den beiden so ohne Weiteres die Tür? Ich meine, ich kann Steiner gut leiden, aber er sieht nun mal nicht aus wie einer der Zeugen Jehovas, oder?«
Nun musste auch Steiner lachen.
»Thomas wird unser trojanisches Pferd sein in dieser Festung!« Daraufhin gab es lauten Beifall.
Karl wusste, an dieser Stelle hatte er keine Chance mehr. Man hatte längst einen Plan, und den hatten sie ohne ihn gemacht. Noch vor fünfzehn Monaten wäre das undenkbar gewesen. Es war erstaunlich, wie schnell sein Einfluss geschwunden war. Um Thomas zu beschützen gab es nur noch eine Möglichkeit.
»Dann komme ich mit!«
Die Menge verstummte.
Thomas’ Wut war sofort verflogen. Karl bei einer so spannenden Aktion dabei zu haben – etwas Schöneres konnte er sich nicht erträumen.
Thielen reagierte zurückhaltend.
»Das ist keine gute Idee. Du bist auf Bewährung draußen. Es reicht, wenn dich irgendwer mit den beiden sieht – und schon locht man dich wieder ein. Und wie ich dir gesagt habe, wir haben andere Pläne mit dir.«
Steiner sprach nicht viel, und Diplomatie war auch nicht seine Stärke, aber jetzt sagte er: »Mensch Karl, wir sind keine Amateure. Der alte Jude wird hundertpro niemanden erkennen – und wenn doch, wird er eine Scheißangst haben und sein Maul halten.«
Karl blieb standhaft: »Ich komme mit, oder Thomas bleibt hier. Das ist mein letztes Wort.«
Damit setzte er alles auf eine Karte. Kein anderer hätte es gewagt, so mit Thielen zu reden, ihn vor versammelter Mannschaft derart herauszufordern.
Thielen überlegte. Er konnte Karl nicht mehr einschätzen. War er noch der Alte, oder hatte der Knast ihn verändert wie viele andere gute Männer vor ihm?
Er setzte das Mikrofon wieder an den Mund.
»Vielleicht ist es gar nicht so dumm, dich mitzunehmen. Ich meine, reden kannst du immerhin – und wenn wir Glück haben, muss Steiner von seinen Überzeugungskünsten gar keinen Gebrauch machen. Also gut – du bist dabei!«
Karl atmete tief durch. Zumindest war gesichert, dass er bei dieser Aktion in Thomas’ Nähe war. Und sobald sie im Turm waren, könnte er den Kleinen nach Hause schicken, bevor es wirklich brenzlig wurde.
Auch die Kameradschaft war offensichtlich erleichtert, dass sich ihre beiden Anführer so schnell geeinigt hatten. Es wurde gelacht und gefeixt, und einer schlug vor Übermut Thomas kräftig auf die Schulter. Thomas steckte den Schmerz weg und lachte gezwungen.
Thielen meldete sich nochmals zu Wort und hob den rechten Arm, gestreckt zum Hitlergruß.
»Kameraden!«
Wie auf ein geheimes Zeichen verebbten die Gespräche, die Glatzköpfe standen auf, stellten sich stramm nebeneinander und erwiderten den Hitlergruß. Dann begannen sie wie üblich zum Abschluss der Zeremonie die Parteihymne der NSDAP zu singen. »Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! SA marschiert mit mutig festem Schritt. Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschiern im Geist in unsern Reihen mit.«
Karl hatte sich unbemerkt in die letzte Reihe verzogen. Heute war ihm nicht danach, das Horst-Wessel-Lied zu singen. In Gedanken war er wieder bei der Bewährungshelferin.
Er wartete das Ende des Liedes nicht ab, sondern machte sich auf den Weg, ohne sich von seinen Kameraden zu verabschieden. Er wusste nun, was zu tun war.