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ESTHER

SAMSTAG, 16. OKTOBER 2010, SABBAT, 9.30 UHR

Es war ein regnerischer Morgen. Ephraim Zamir schlief wieder länger, ein gutes Zeichen. Es gab Zeiten, in denen war er unzählige Male schweißgebadet aufgewacht. Dagegen halfen selbst seine hochdosierten Schlaftabletten nicht. Die Albträume, die ihn quälten, hatten sich im Laufe der Jahre gewandelt. Aus dem Kind war in den Träumen ein Mann geworden, kein Gefangener, ein Rächer. Ein kaltblütiger Vollstrecker, der im Blut seiner Opfer watete. Es waren nicht mehr die leblosen Augen seiner Mutter, die ihn verfolgten, es waren die weit aufgerissenen Augen von SS-Offizieren, die nicht fassen konnten, dass er ihnen soeben die Kehle aufgeschlitzt hatte und ihnen beim Sterben zusah.

Doch seit Rabbi Moshe Esther Goldstein vor einem halben Jahr in seine Obhut gegeben hatte, verschwanden diese Bilder nach und nach, und Ephraim fand Frieden in der Nacht. Vor vier Wochen hatte ihm Esther schließlich die Schlaftabletten entzogen, hatte ihm seine Angst vor den Nächten mit einem bitter schmeckenden Kräutertee genommen und war bei ihm, wenn seine Schreie die Ruhe des Turms zerrissen. Wie ein Engel erschien sie dann neben seinem Bett, hielt seine zitternde Hand und kühlte sein Gesicht mit einem nassen Tuch, bis er wieder eingeschlafen war.

Längst war ihm klar geworden, dass nicht er Esther ein neues Zuhause gab, sondern Esther diesen Turm erst zu seinem neuen Zuhause machte. Mit ihrer Hilfe schien es fast so, als könnte er nach so vielen Jahren des Hasses endlich loslassen und ein neues Leben beginnen. Gleichzeitig war ihm aber bewusst, dass dieses liebliche, einzigartige Geschöpf wie eine verletzliche Pflanze auch auf seine Fürsorge angewiesen war.

Als vor zwei Jahren Ephraim erstmals wieder deutschen Boden betreten hatte, lernte er Rabbi Shlomo Moshe kennen. Wahrscheinlich war es Neugierde, die ihn an einem Sabbat in die provisorische Synagoge trieb, oder es war das Verlangen nach menschlicher Nähe, aber es war ganz sicher kein religiös motivierter Besuch, denn Ephraim war kein gläubiger Mensch. Im Gegenteil, er hatte mit Gott gebrochen und seiner tiefsten Überzeugung nach auch Gott mit ihm.

Doch Rabbi Moshe hatte eine Gabe. Diese Gabe bestand darin, Menschen zum Sprechen zu bringen, ohne ihnen Fragen zu stellen. Dabei blickte er ihnen tief in die Seele und baute etwas auf, was stärker war als bedingungsloser Glaube: Vertrauen.

Rabbi Shlomo Moshe empfand es als Fügung Gottes, dass Ephraim Zamir und Esther Goldstein in sein Leben getreten waren und er sie zusammengeführt hatte.

Alles begann mit einer unfassbaren Katastrophe.

Am 6. März 2008 war ein Palästinenser in die Religionsschule Merkas Harav in Jerusalem eingedrungen. Er war mit einer Kalaschnikow und einer Pistole bewaffnet und schoss rund zehn Minuten lang um sich. Ein Offizier der israelischen Armee, der zufällig die Schüsse hörte, eilte zu Hilfe, erschoss den Attentäter und bereitete dem Blutbad ein Ende. Neun Schwerverletzte und acht Tote waren das tragische Resultat des Massakers gewesen.

Unter den Opfern war die gesamte Familie einer fast taubstummen, einundzwanzigjährigen Frau sowie ein Rabbi, der diese Frau schützend zu sich riss, während sein Rücken von Kugeln zerfetzt wurde. Nach Bekanntwerden des Attentats strömten in Gaza tausende Palästinenser auf die Straße und feierten.

Zahlen haben etwas erschreckend Nüchternes. Ob neun Tote oder sechs Millionen Tote, Schreckensmeldungen werfen uns erst aus der Bahn, wenn eines der Opfer ein Bekannter ist, ein Freund oder ein Familienmitglied. Es war diese simple Tatsache, an die Rabi Moshe immer wieder denken musste, als er vom Schicksal seines Bruders erfuhr, der noch im Tod eine junge Frau gerettet hatte.

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er den Talmud infrage stellte, in dem stand: »Wer nur ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt.«

Sein Bruder hatte eine junge Frau gerettet – aber damit auch die ganze Welt? War das Leben seines Bruders weniger wert gewesen als das der taubstummen Frau?

Allein dass er sich in einem Moment der Schwäche diese Fragestellung erlaubt hatte, brachte den Glauben an sein heiliges Gelöbnis ins Schwanken. Wie konnte er nur an Gott zweifeln, wie konnte er aus reiner Selbstsucht auch nur für eine Sekunde darüber nachdenken, ob das aufopferungsbereite Dasein seines Bruders mehr wert war als das Leben dieser Frau?

Schließlich erkannte er für sich, dass diese schwere Stunde eine Prüfung war, auch wenn ihm der tiefere Sinn dahinter verborgen blieb. Er begann, Nachforschungen anzustellen, und schon bald hatte die junge Frau einen Namen: Esther Goldstein.

Mit dem Namen schwand die Distanz, Esther war nicht länger eine Unbekannte. Mit jedem Tag, den er damit verbrachte, mehr über dieses Mädchen in Erfahrung zu bringen, wurde sie ihm vertrauter: Esther. Esther, die sein Bruder gekannt hatte. Esther, für die sein Bruder gestorben war. Esther, deren Schicksal sich plötzlich unweigerlich mit dem seinen verknüpfte.

Esther war nach dem Anschlag in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die körperlichen Verletzungen beschränkten sich auf Schrammen, Prellungen und eine Gehirnerschütterung, die darauf zurückzuführen waren, dass der leblose Körper ihres Retters sie mit voller Wucht umgeworfen und unter sich begraben hatte. Fast eine Stunde dauerte es, bis die Rettungskräfte entdeckten, dass die regungslose Frau noch am Leben war. Eine Stunde, bis sie die Körper voneinander trennten. Es war nicht nur ihre Hörbehinderung, die verhinderte, dass Esther auf keine der Fragen von Ärzten oder Polizisten reagierte, es war die Tatsache, dass alle Menschen, die sie liebte und denen sie vertraut hatte, nun tot waren. Ausgelöscht. Unwiderruflich und endgültig. Als man sie drei Monate nach dem Attentat nach Hause brachte, hatte man zunächst das Gefühl, Esther wäre stabil und könnte mit psychologischer Hilfe wieder in ihr normales Leben zurückfinden. Noch bei der Verabschiedung an der Haustür des kleinen Einfamilienhauses hatte sie gelächelt und den Eindruck erweckt, als wäre sie auf einem guten Weg. Doch kaum war die massive Haustür ins Schloss gefallen, kauerte sich Esther in eine Ecke, zog die Knie fest an sich, während sie die vertraute Umgebung auf sich wirken ließ.

Die Zeit war an diesem Ort stehen geblieben.

Das Haus war genauso geblieben, wie sie es vor drei Monaten verlassen hatten, um Esther zu ihrer neuen Stelle in der Religionsschule zu bringen. Es war hektisch gewesen. Ein feierlicher Moment hatte bevorgestanden. Die fast taubstumme Esther, von der man angenommen hatte, dass sie nie eine Arbeitsstelle finden würde, hatte in der Religionsschule einen Job als Betreuerin bekommen. Ihre Eltern, ihr Großvater und ihre zwei Brüder hatten beschlossen, sie zu ihrem ersten Arbeitstag zu begleiten. David, der Jüngere, war erst elf Jahre alt. Er hatte beim Frühstücken vor lauter Aufregung eine Tüte Milch verschüttet. Ihr Stiefvater musste seine schimpfende Frau beruhigen und hielt sie schließlich davon ab, die Milchlache aufzuwischen. Es war spät geworden, und er hasste Unpünktlichkeit. Er trieb die Familie zur Eile, und als endlich alle in den Familienvan gestiegen waren, lagen im Hausflur verstreut Schuhe, eine Winterjacke und Davids Schulranzen, den man in der Hektik vergessen hatte.

Drei Monate waren vergangen. Nichts wirkte real. Es war, als würde sie ein Foto aus einer glücklichen Vergangenheit betrachten. Gerade noch schlug die Tür auf, sah sie David und konnte fast sein aufgedrehtes Lachen hören und ihren Stiefvater, der zur Eile mahnte.

Doch die Tür war geschlossen, für immer. Sie wartete, dass ihre Familie zurückkehren würde, starrte auf die Tür. Nichts rührte sich. Niemand würde Davids Schulranzen abholen oder die Schuhe aufräumen. Niemand würde ihn jemals wieder ermahnen, sie nicht zu hänseln, wie er es auch an jenem Morgen getan hatte. »Und fang bloß nicht an, am ersten Tag alle vollzuquatschen, Esther …« Sein frech grinsendes Gesicht erschien vor ihr und wurde plötzlich in einer Wolke aus rotem Blut zerfetzt.

Es mussten Stunden vergangen sein, die Esther reglos verbrachte, denn die Sonne stand bereits tief am Horizont und die Schatten des Schulranzens, der Schuhe und der umgefallenen Milchtüte rückten immer näher.

Dann schrie sie. Sie schrie minutenlang. Doch sie konnte ihren eigenen Schrei nicht hören und versuchte lauter zu schreien, bis ihre Kehle brannte und ihre Stimmbänder erlahmten. Schließlich stand sie auf, stieg über die eingetrocknete Milchlache, nahm das Obstmesser ihrer Mutter und schnitt sich die Pulsadern auf. Das Letzte, was sie dachte war: Endlich frei.

Rabbi Moshe traf Esther in Jerusalem in einer psychiatrischen Anstalt. Die Nachbarn hatten Esthers Schreie gehört und die Polizei alarmiert. Die Hilfe kam schnell, gerade noch rechtzeitig. Noch immer galt sie als stark suizidgefährdet. Als Rabbi Moshe sie zum ersten Mal besuchte, hatte man sie an ihr Bett fixiert. Behutsam versuchte er, ihr Vertrauen zu gewinnen. Mit Engelsgeduld erzählte er ihr seine eigene tragische Geschichte, von seinem eigenen Verlust – und davon, dass sein Bruder ihr das Leben gerettet hatte. Dabei bewegte er seine Lippen langsam, damit sie die Worte sehen konnte, sprach laut und untermalte jedes Wort mit Gesten oder schrieb komplizierte Wörter auf ein Stück Papier. Es dauerte zwei Wochen, in denen er täglich bei ihr war, bis Esthers glasiger Blick Rabbi Moshe wahrzunehmen schien. Es dauerte zwei weitere Wochen, bis sie ihm ein erstes Mal zunickte.

Rabbi Moshe hatte mittlerweile herausgefunden, dass sie in Israel keine weiteren Verwandten hatte und die nächsten Verwandten in Polen lebten. Diese hatten aber bereits zu ihrem Großvater den Kontakt abgebrochen und Esther nie kennengelernt. Rabbi Moshe hatten sie unmissverständlich klar gemacht, dass sie das behinderte Mädchen nicht haben wollten und auch nicht aufnehmen würden.

Es kam der Tag, da musste Rabbi Moshe Jerusalem wieder verlassen. Der Abschied von Esther fiel ihm schwer. Sie weinte stumm, Tränen liefen ihr über die Wangen, aber ihr Gesicht war wie versteinert. Er versprach, wiederzukehren, doch sie glaubte ihm nicht.

Genau zu dieser Zeit lernte der Rabbi in seiner deutschen Gemeinde Ephraim Zamir kennen. Er spürte sofort, wie alles zusammenpasste, wie sich alles zum Guten fügen ließ. Ja, Gott hatte einen Plan, und er war sein williger Gehilfe.

Nach geraumer Zeit und Dutzenden von Telefonaten, Anträgen und bürokratischen Hürden gelang es dem hartnäckigen Rabbi, Esther Goldstein nach Deutschland einreisen zu lassen. Sie selbst hatte eingewilligt, seine Hilfe und Fürsorge anzunehmen. Seit sie wusste, dass Rabbi Moshe ihr in Deutschland ein neues Zuhause schaffen wollte, stellten ihre Ärzte eine deutliche Verbesserung ihres Zustands fest und stimmten, wenn auch unter Vorbehalt, ihrer Entlassung zu.

Als der Schnee schmolz und der Frühling die Welt in ein kräftiges Grün tauchte, besuchte Rabbi Moshe Ephraim Zamir zum ersten Mal in seinem neuen Zuhause.

Der Umbau des Turms, den Zamir vor Monaten erworben hatte, lag in den letzten Zügen. Hätte er damals geahnt, wie streng die Auflagen bei einem denkmalgeschützten Gebäude waren, hätte er sich den Kauf des alten »Steinhaufens«, wie er ihn gerne nannte, zweimal überlegt. Doch nun war zumindest das obere Drittel des Turms in eine beeindruckende Dachwohnung umgewandelt worden, die einen weiten Blick auf die Umgebung bot.

Rabbi Moshe, der sonst eher wortkarg und zurückhaltend war, kam diesmal schnell zur Sache und berichtete ausführlich von Esther Goldsteins Geschichte. Er schmückte nichts aus, er dramatisierte nichts, sondern hielt sich an die Fakten. Egal, wie groß sein Wunsch auch war, Esther zu helfen, er wollte sie auf keinen Fall anpreisen wie eine Ware. Am Ende seines Monologs bat er Ephraim, Esther Goldstein als Haushälterin einzustellen und ihr eine Unterkunft zu geben.

Ephraim konnte später nicht mehr genau sagen, wie es geschah und was die Beweggründe für seine Entscheidung waren, aber kaum hatte der Rabbi seine Bitte ausgesprochen, willigte er ohne Wenn und Aber ein. Die beiden tranken daraufhin ihren Tee. Gesprochen wurde kaum mehr. Es war alles gesagt. Rabbi Moshe wusste, Gottes Wille war geschehen.

Seit dem Gespräch der beiden Männer war über ein halbes Jahr vergangen. Ephraim und Esther waren zusammengewachsen wie Vater und Tochter. Für Ephraim war es deshalb nur ein logischer Schritt, diese Bindung auch vor dem Gesetz zu vollziehen und Esther zu adoptieren.

Es war jener schicksalhafte 16. Oktober 2010, an dem er vorhatte, Esther nach dem Gottesdienst um ihre Einwilligung zu bitten. Der orkanartige Sturm der vergangenen Nacht hatte seine Spuren hinterlassen. Bäume waren entwurzelt worden, die Dachschindeln zahlreicher Häuser lagen auf der Straße, und vereinzelt hatte es Plakatwände aus ihren Verankerungen gerissen. Auf dem Weg zur Synagoge, oder genauer zu dem Gemeindesaal, der vorübergehend dem Rabbi als Ersatz diente, sprachen Esther und Ephraim kaum ein Wort miteinander. Er lauschte gebannt den Sondermeldungen im Radio, während sie aufmerksam die Sturmschäden betrachtete, an denen sie vorbeifuhren. Der Anblick erinnerte Esther an ein Kriegsgebiet, durch das sie als Kind einmal gefahren waren.

Ein junger Mann stand weinend vor seinem Motorrad, auf das ein Baum gestürzt war. Eine Familie kehrte im Vorgarten die Scherben eines großen Terrassenfensters zusammen. Die blauen Einsatzwagen des Technischen Hilfswerks rasten mit Blaulicht an ihnen vorbei und halfen bei den dramatischeren Fällen. Der Radiomoderator berichtete von einem Hochspannungsmast, der an einer Hanglage in die Tiefe gestürzt war und eine Scheune unter sich begraben hatte. Ein junges Pärchen war kurz zuvor in eben jene Scheune geflüchtet. Zum Glück hatten beide überlebt.

Wie üblich hatte der Gottesdienst am Samstagmorgen um halb zehn mit der festlichen Tora-Prozession begonnen. Rabbi Shlomo Moshe trug die in rotes Tuch gehüllte und mit silbernen Ketten verzierte Tora-Rolle zu einem Podium in der Mitte des Gemeindesaals, während ein Männerchor hebräischen Gesang anstimmte. Inzwischen war all das für Ephraim ein vertrautes Ritual geworden. Doch damals, als er das erste Mal an einer Sabbat-Feier in der Synagoge teilgenommen hatte, war es ihm irgendwie falsch und heuchlerisch vorgekommen. Nach dem Krieg und selbst in der Zeit, in der er in Israel gelebt hatte, war er nie in eine Synagoge gegangen oder hatte sich an Gott gewandt. Gott existierte für ihn schlechtweg nicht – zumindest kein Gott, der angeblich gütig und liebevoll sein sollte. Ein Gott, der zuließ, dass die Nazis sechs Millionen Juden hingeschlachtet hatten. Nein, es konnte keinen Gott geben. Doch nun saß er schon seit Wochen regelmäßig am Samstag in der Synagoge und feierte den Sabbat. Und jedes Mal, wenn er dort saß, blickt er auf Esther und konnte durch sie fühlen, was Glaube zu schaffen vermochte. Es war nicht so, dass er zum gläubigen Juden geworden war, aber er gewann Tag für Tag ein stärkeres Verständnis für alle jene, die Kraft aus ihrem Glauben schöpften und dadurch lernten, das Leben besser zu meistern oder gar ein besserer Mensch zu sein. Er sah Esther aus den Augenwinkeln an, wie sie Rabbi Moshes Lesung aus der Schriftrolle folgte und merkte, wie Erinnerungen an seine Mutter aus frühester Kindheit wach wurden. So lauschte auch er der Lesung der Parascha und fühlte, wie sich die Worte wärmend um seine Seele legten.

Zwei Stunden später folgten Esther und Ephraim dem Strom der Gläubigen hinaus aus dem Gemeindesaal. Ephraim trug den einzigen Anzug, den er besaß. Er war dunkelblau und saß an den Schultern deutlich zu eng, was auch an dem beigefarbenen Pullover aus grober Schurwolle lag, den er darunter trug.

Der geteerte, graue Vorplatz war übersät von abgebrochenen Ästen und Zweigen.

Noch immer wehte ein starker Wind. Esther schlug den Kragen hoch, während Ephraim seinen Arm schützend um sie legte. Rabbi Moshe war ihnen mit schnellen Schritten gefolgt. Etwas außer Atem rief er Ephraims Namen.

»Ephraim Zamir, bitte … Haben Se noch enen kurzen Augenblick für misch?«

Ephraim und Esther drehten sich zu ihm um. Ephraim konnte später nicht mehr genau sagen, warum er Esther fortschickte, aber es erschien ihm richtig, dem Rabbi die Möglichkeit zu geben, ihn unter vier Augen zu sprechen.

»Esther, willst du schon mal vorgehen? Ich glaube, Rabbi Moshe und ich brauchen noch ein paar Minuten.«

Esther antwortete in Gebärdensprache. Ihre Mimik zeigte Verständnis für die Situation.

»Ja, das ist eine gute Idee«, antwortete Ephraim. »Herr Salzberg wird dich sicher mitnehmen und bei uns zu Hause absetzen.«

Sie lächelte, blickte sich um und entdeckte einen älteren Herren, der hastig versuchte, seinen Hut zu fangen, den der Wind durch die Luft wirbelte. Esther blickte den Rabbi an und vollführte hektisch einige Zeichen, dann reichte sie ihm die Hand und eilte Herrn Salzberg zu Hilfe.

Der Rabbi lächelte und blickte ihr nach.

»Was hat sie gesagt?«

»Oh, sie bedankte sich für die wunderbare Predigt und freut sich schon auf die neue Synagoge.«

Moshe verstand den Wink, ging aber nicht weiter darauf ein. »Sie ist ein gutes Kind. Und Gott sei gedankt für den Tag, an dem du sie aufnahmst wie dein eigenes Kind. Macht se gut Ihnen den Haushalt?«

Ephraim nickte.

»Es scheint ihr von Tag zu Tag besser zu gehen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so schnell eingewöhnt hier in Deutschland, nach allem, was sie erlebt hat.«

»Das, was Sie sehen, ist nur äußerlich. Aber die Wunden in ihrem Herzen werden noch lange brennen.«

Ephraim hätte ihm viel davon erzählen können, wie sie ihm half, seine Vergangenheit zu überwinden, aber er schwieg und nickte nur verständnisvoll.

»Ich weiß, Rabbi, ich weiß. Ich werde immer da sein für sie, ich verspreche es.«

Der Rabbi hegte keinen Zweifel an Ephraims Absicht, aber die Ungewissheit über die Herkunft und die Vergangenheit dieses Mannes nagte an ihm. Geduldig hatte er gewartet, dass Ephraim sich ihm eines Tages öffnen würde. Doch nichts dergleichen war geschehen. Nun aber waren Dinge im Gange, die ihn dazu bewegten, deutlicher zu werden.

»Lieber Herr Zamir, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie sind nun seit über einem Jahr Mitglied unserer kleinen Gemeinde, kommen regelmäßig zum Sabbat, aber keiner aus der Gemeinde kennt Sie – keiner kennt Ihre Familie, keiner kennt Ihre Geschichte. Und dann nehmen Sie Esther auf wie eine Tochter und wollen der Gemeinde das fehlende Geld für den Bau unserer Synagoge stiften.«

Ephraim hatte gewusst, dass das eines Tages zur Sprache kommen würde; trotzdem traf es ihn unvorbereitet. Er war noch nicht so weit. Er wusste auch nicht, ob er je so weit sein würde.

»Herr Zamir, wir müssen Ihnen vertrauen, Sie müssen uns vertrauen. Es gibt viele Mitglieder, die für den Bau der neuen Synagoge etwas gespendet haben. Manche wenig, manche etwas mehr. Aber es ist das Geld von Menschen, die wir kennen, es ist … Bitte verstehen Sie mich nicht falsch …«

Ephraim merkte, wie unangenehm dem Rabbi dieses Gespräch war.

»… aber es ist gutes Geld. Der Gemeinderat sagt, solange wir nicht wissen, wer Sie sind und woher das Geld kommt, können wir es nicht annehmen. Verstehen Sie, Herr Zamir?«

Ephraim verstand nur zu gut, aber er glaubte auch, dass der Gemeinderat das Geld nicht nehmen würde, wenn er ihnen ehrlich sagen würde, wer er wirklich war und wie er zu seinem Vermögen gekommen war.

In der Ferne beobachtete er, wie Esther Herrn Salzberg seinen Hut brachte und dieser sie mit zu seinem Wagen nahm. Zamir wandte sich wieder dem Rabbi zu. »Rabbi Moshe, es wird der Tag kommen, da werde ich Ihnen alles erklären. Aber nicht jetzt, nicht morgen und auch nicht diese Woche. Sie müssen Geduld haben, bitte … Geduld und Vertrauen.«

Doch so leicht gab sich der Rabbi nicht geschlagen.

»Geduld braucht Zeit, Herr Zamir, Geduld braucht Zeit – und Zeit scheinen wir nicht mehr zu haben.«

Ephraim hatte in keiner Weise damit gerechnet, dass der Rabbi ihm weiter zusetzen würde. Es war überhaupt nicht dessen Art, weder nach der Predigt einem seiner Gemeindemitglieder nachzulaufen noch derartigen Druck auszuüben.

Nervös nestelte der Rabbi an seinem langen grauen Bart.

»Was ist los, Rabbi Moshe?«

Der Rabbi atmete tief durch, so als müsste auch er sich überwinden, die Frage seines Gegenübers zu beantworten. Der Wagen von Herrn Salzberg verließ soeben den Gemeindeparkplatz. Es schien fast so, als hätte der Rabbi auf dieses Zeichen gewartet.

»Etwas Grauenvolles ist geschehen. Ich weiß, es ist Sabbat, aber ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten in das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder.«

Ephraim schüttelte den Kopf. »Begleiten? Ich verstehe nicht …«

Für einen Moment öffneten sich tausend Türen zur Vergangenheit in seinem Kopf. Würde er denn nie zur Ruhe kommen, hatten ihn seine Taten nun bis hierher verfolgt?

»Frau Dr. Seligmann liegt dort. Sie wurde gestern überfallen.«

Ephraim höre den Namen und war erleichtert, zugleich aber auch besorgt. Ungläubig wiederholte er den Namen.

»Frau Seligmann, die Stadträtin?«

Der Rabbi nickte.

Herr Salzberg setzte Esther kurz nach zwölf Uhr vor dem Portal des Turms ab und winkte ihr durch das Seitenfenster. Er hatte ein gütiges, pausbackiges Lächeln. Sein eingedrückter Hut saß nun wieder fest auf seinem Kopf und brachte Esther zum Schmunzeln. Sie sah dem klapprigen Wagen mit den vielen Roststellen noch eine Weile nach, als er den Schotterweg wieder hinunterfuhr und schließlich in der angrenzenden Siedlung verschwand.

Der Wind war hier oben auf dem Hügel deutlich stärker zu spüren und pfiff um den Turm. Esther stieg die Stufen des Portals empor. Dabei musste sie sich gegen die starken Böen stemmen, bis sie schließlich den Eingang erreichte. Der Wind zog so heftig an ihr, dass sie das Summen des Handys in ihrer Manteltasche nicht spürte.

Nach Eingabe der Zahlenkombination am Sicherheitsschloss öffneten zwei starke Servomotoren mit einem lauten Surren die Flügeltüren und schlossen sie auch wieder automatisch, nachdem Esther hindurchgeschritten war. Die Tore schnappten laut in das Schloss, dann war es gespenstisch leise.

Esther hängte ihren Mantel an die Garderobe am Fuß der Treppe und vergaß das Handy in der Tasche, auf dem soeben eine zweite SMS von Ephraim ankam.

Ihre Schuhe klackten auf dem Steinboden, bis sie im dritten Stockwerk unter dem Dach ankam. Eine massive, helle Holztür mit edel geschwungenem Beschlag markierte den Übergang zum luxuriös ausgestatteten Wohnbereich des Turms, in dem sich Kirschholzparkett, Messingleuchter, handgemalte Aquarelle und altenglische Möbel abhoben vom nüchternen, kalten Treppenhaus, das seit der Entstehung des Turms wohl nicht verändert worden war. In dieser Ebene gab es zwei großzügige Schlafzimmer, ein Badezimmer und Ephraims Arbeitsraum, die alle durch einen schmalen Gang miteinander verbunden waren. Von hier aus führte eine schmale Wendeltreppe direkt in den ausgebauten Dachstuhl, der so hoch war, dass er zusätzlich eine Galerie enthielt, die man über eine schmale, gewundene Holztreppe erreichte. Stand man erst einmal auf der Galerie, konnte man den gesamten Dachstuhl überblicken.

Kaum hatte Esther das Dachgeschoss betreten, störte ein lauter Signalton die Ruhe des Turms. Gleichzeitig begann die rote Warnleuchte über dem freistehenden Küchenblock grell zu blinken. Freudig, dass Ephraim heimgekehrt war, aktivierte Esther das Touchpad an der Wand neben der Wendeltreppe.

Gerade als sie den Türöffner betätigen wollte, stellte sie überrascht fest, dass nicht Ephraim am Portal stand, sondern ein schmächtiger Junge mit einer braunen Schirmmütze, der mit verweintem Gesicht in die Kamera über ihm blickte.

Esther war verunsichert. Sie berührte den Touchscreen, der ihr verschiedene Antwortmöglichkeiten anbot. Sie wählte: Guten Tag, was kann ich für Sie tun?

Eine mechanische Stimme ertönte am Eingang und stellte die Frage. Der schmächtige Junge wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ich hatte einen Fahrradunfall, und der Akku von meinem Handy ist leer … und … ich muss meine Eltern anrufen … und … ich wollte fragen, ob ich bei Ihnen …, also, ob ich meine Eltern anrufen kann?«

Die Antwort des Jungen wurde durch die Spracherkennung als Text auf dem Touchscreen wiedergegeben, allerdings unvollständig und daher für Esther nur schwer verständlich.

Sie wählte erneut eine vorgegebene Frage aus.

Bitte sprechen Sie langsamer und wiederholen Sie Ihr Anliegen.

Wieder ertönte die mechanische Stimme am Eingang. Der Junge schluckte und versuchte nun, sehr langsam und deutlich zu sprechen.

»Ich hatte einen Unfall, ich muss telefonieren, ich mache auch nichts dreckig.«

Diesmal übertrug die Spracherkennung die Worte korrekt. Esther war unschlüssig, was sie nun tun sollte. Ephraim hatte ihr immer wieder eingebläut, keine fremden Menschen in den Turm zu lassen, wenn er nicht anwesend war. Aber das hier war doch nur ein harmloser Junge, der sich verletzt hatte und ihre Hilfe brauchte. Sie schaltete am Touchscreen auf Multiview. Der Bildschirm unterteilte sich in vier Kameraperspektiven, die nun die Umgebung rund um den Turm zeigten. Es war weit und breit kein Mensch zu sehen.

Esther war so darauf konzentriert, das Richtige zu tun, dass sie den Anruf ignorierte, der über die Festnetzleitung des Hauses ankam. Schließlich betätigte sie die Sensortaste. Die schweren Flügeltüren am Portal öffneten sich.

Ephraim schwitzte. Auf Esthers Handy hatte er es schon mehrmals probiert, auch auf dem Festnetz hob sie nicht ab. Der Wagen stand an einer leeren Kreuzung. Die rote Ampel wollte einfach nicht umschalten. Der Wind wirbelte eine Zeitschrift durch die Luft, die mit einem lauten Klatschen direkt auf seiner Windschutzscheibe landete und wieder fortgeweht wurde. Er trommelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad, sah hektisch nach links und nach rechts, dann gab er Vollgas. Die Reifen drehten durch, der Motor heulte auf, und der Jaguar schoss über die rote Ampel. Es blitzte, aber Ephraim war das vollkommen egal.

Im Krankenhaus hatten sie die Stadträtin Dr. Seligmann getroffen. Sie hatte sehr mitgenommen ausgesehen. Die Nase war bandagiert und ein Auge mit einem Pressverband abgedeckt. Schwer atmend hatte sie dem Rabbi und Ephraim von dem grausamen Überfall berichtet und nur mit großer Mühe über die Lippen gebracht, dass der Überfall nur einem Zweck gedient hatte: Ephraims Identität zu erfahren. Unter Schluchzen hatte sie zugegeben, dass sie den Tätern seinen Namen verraten hatte.

Fluchend war Ephraim sofort aufgebrochen. Seligmanns Ausflüchte hatten ihn nicht mehr interessiert. Diese schwache, dumme Frau! Was wollte sie von ihm? Absolution? Dafür war er nicht der Richtige. Ihm hatte auch niemand Absolution erteilt – auch wenn es dafür genug Gründe gab. Ephraim malte sich das Schlimmste aus. Er hatte unbeschreibliche Angst um Esther. In Situationen wie dieser behielt er normalerweise einen kühlen Kopf, erwog alle möglichen Optionen, doch jetzt warf er seine Erfahrung und seine hervorragende Ausbildung über den Haufen. Es war kurz nach dreizehn Uhr, als er wie ein Wahnsinniger den Stadtring entlang raste. Diesmal ging es nicht um sein Leben, diesmal ging es um das Leben des einzigen Menschen, den er noch hatte.

Die Flügeltüren öffneten sich vor Thomas Worch. Es erschien ihm fast wie ein Wunder. War ja fast zu einfach, die Judenschlampe zu überlisten, dachte er voller Vorfreude auf das, was sie nun mit ihrem Opfer anstellen würden. Mit einem Griff in die Innentasche seiner Jacke löste er eine vorbereitete SMS an seine Kameraden aus: Bin drin, ihr könnt kommen.

In der anderen Hand hielt er einen schweren, großen Kieselstein, den er in den Rahmen der geöffneten Tür legte, dann betrat er das Treppenhaus. Schon begann sich die Tür wieder zu schließen. Kurz bevor die Tür in das Schloss einrastete, gab es ein lautes Knacken. Thomas befürchtete schon, der Stein wäre zerbrochen, doch der Plan ging auf.

Erst jetzt nahm Thomas Notiz von seiner Umgebung. Das hier war keine Villa, das sah eher nach dem dunklen Verlies einer mittelalterlichen Burg aus. Nirgendwo war ein Fenster zu sehen. Das Licht kam von einer nackten Glühbirne, die von der Decke hing. Neben den Treppenstufen stand ein geschwungener Kleiderständer, an dem ein Mantel hing, sonst war nur schroffer, nackter Stein zu sehen. Das passte so gar nicht in das Bild des reichen Juden, den man ihm auf dem Treffen der Kameradschaft präsentiert hatte. Unsicher stieg Thomas die kargen Treppen empor, die nur durch einen schmalen Handlauf aus verrostetem Metallrohr gesichert war.

Esther wollte gerade ihrem Gast entgegengehen, da bemerkte sie, dass das Licht für einen eingehenden Anruf blinkte, doch das Telefon lag einige Meter entfernt auf dem Couchtisch. Sie ging hinüber, um abzuheben, als das Klingeln verstummte und die Warnleuchte erlosch.

Das Display zeigte Ephraims Gesicht.

Sie würde zurückrufen, dachte sie, und eilte mit dem Telefon in der Hand die Wendeltreppe hinunter in den steinernen Wohnbereich. Kaum war sie an der schweren Holztür angekommen, öffnete sie sich auch schon langsam. Der Junge mit der Mütze kam lächelnd herein. Sie erwiderte das Lächeln und reichte ihm das schnurlose Telefon.

»Elefon, bidde.«

Der Junge nahm es entgegen.

»Danke, vielen Dank.«

Hektisch tippte er eine Nummer ein und hielt sich den Hörer ans Ohr. Esther fiel auf, dass seine Finger zitterten und sich ein Schweißtropfen unter der Kappe löste, der die Schläfe hinunter lief. War er vielleicht schwerer verletzt, als er zugab?

Der Junge senkte den Hörer. »Es hat keinen Empfang …«

Natürlich nicht, fiel Esther ein. Das Telefon funktionierte nur oben im Dachstuhl, hier waren die Mauern des Turms zu dick. Sie ging die Wendeltreppe hinauf und zeigte ihm an, ihr zu folgen.

»Ich vergach, zu sdaage Mauern … Hier oben geh es besser …«

Kaum waren sie oben angekommen, blieb Thomas wie angewurzelt stehen. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. »Wow, und hier wohnen Sie? Wie abgefahren ist das denn?«

Esther fühlte sich plötzlich unbehaglich. Irgendetwas stimmte nicht, doch sie konnte nicht sagen, was es war.

»Etzt aanrufen, un dann ieder geen«, stammelte sie.

Der Junge tippte erneut eine Nummer in das Telefon. Er hielt den Hörer ans Ohr und nickte ihr zustimmend zu.

»Es geht.«

Ein merkwürdiger, hoher Ton drang an Esther Ohr. Er war kaum wahrnehmbar. Doch er war da, pulsierend, immer wiederkehrend. Bildete sie sich das nur ein? Aber wenn sie ihn hörte, musste der Ton für jeden anderen Menschen ziemlich laut sein.

»Ören Sie das?«, fragte sie den Jungen.

Aber der Junge schüttelte nur nervös den Kopf. Der Rand seiner Kappe hatte sich inzwischen dunkel verfärbt.

»Nein … nein, gar nichts … Ich höre gar nichts …«, las Esther von seinen Lippen ab. Und plötzlich wusste sie, wovor sie die ganze Zeit Angst gehabt hatte: Der Alarm für die Schließanlage war ausgelöst worden. Der Junge musste das hören! Ein panischer Blick auf den Touchscreen an der Wand bestätigte ihre Vermutung. In dicken Buchstaben blinkte dort ein Warnhinweis:

ERROR: DOOR NOT LOCKED

Doch es war zu spät. Sie hatte einen kapitalen Fehler gemacht, den ihr Ephraim nie verzeihen würde.

Der Junge grinste sie höhnisch an und ließ das Telefon sinken. Im selben Moment sah sie den ersten Glatzkopf in schwarzer Montur die Wendeltreppe heraufkommen.

Ihr fast lautloser Schrei entsprang der bitteren Erkenntnis, dass sie allein und schutzlos dem Grauen ausgeliefert war. Sie stürzte zur Küchentheke und riss ein Fleischermesser aus dem Messerblock. Die Klinge war gut 25 Zentimeter lang und extrem scharf. Wild fuchtelnd brachte sie die Theke zwischen sich und die Eindringlinge.

Zwei weitere Glatzköpfe waren die Stufen emporgestiegen, doch Esther brannte sich am meisten das Gesicht des teuflisch grinsenden Jungen ins Gedächtnis, den nun einer der Männer auf die Seite schob und sich vor ihn stellte. Der bulligere der beiden Männer kam auf sie zu, er hielt ein Kampfmesser mit einer zweischneidigen Klinge in der Hand, die auf einer Seite geriffelt war, der Hagere trug in der einen Hand ein Klappmesser, in der anderen einen Schlagstock. Sie bewegten sich von beiden Seiten wie Häscher mit weit ausgebreiteten Armen auf den Küchenblock zu. Dabei kreischten und johlten sie, um ihrem Opfer noch mehr Angst einzujagen. Sie wussten nicht, dass Esther ihre Laute nicht hören konnte und nur ihre verzerrten Gesichter wahrnahm. Der Schmalere von beiden sprang einen Schritt nach vorne und versuchte, sie durch einen Schnitt in den Unterarm zu entwaffnen.

Er konnte nicht wissen, dass Esther über viele Jahre hinweg eine hervorragende Degenfechterin gewesen war und noch immer gut trainierte Reflexe besaß. Sie parierte den Angriff blitzschnell. Der Glatzkopf schien aufzuschreien – zumindest konnte sie das an seinem Gesicht erkennen. Er ließ sein Messer fallen, taumelte zurück und blickte entsetzt auf seine rechte Hand. Esthers Klinge hatte das vordere Glied seines kleinen Fingers abgetrennt.

»Diese Schlampe … Diese Schlampe! Ich bring sie um … ich bring sie um …«

Der Kräftigere von beiden war zunächst erschrocken, brach dann aber in tierisches Gelächter aus.

»O Scheiße, Udo, lässt dich voll kalt machen …«

Da schoss Esther schon auf ihn zu und verfehlte nur um Haaresbreite mit der Klinge sein Gesicht.

»Wow wow wow!« Er hob beschwichtigend die Hände und ging auf Distanz, während Esther wieder hinter den Küchenblock zurückwich.

»Scheiße, Mann, das Girly ist echt gefährlich, wir sollten …«

In diesem Augenblick unterbrach ein lauter Knall Steiners Satz.

Plötzlich war es ganz still.

Esthers Mund stand weit offen. Langsam blickte sie an sich hinab und entdeckte einen roten Fleck auf ihrer weißen Bluse.

Wieder fiel ein Schuss, dann noch einer und noch einer.

Zwei Schüsse verfehlten ihr Ziel, der dritte und vierte trafen Esther in Hals und Brust und warfen sie um. Das Fleischermesser schlitterte über den Boden.

Udo Rennicke hatte seinen blutenden Finger vergessen und blickte zu Karl Rieger, der zu Eis erstarrt war. Es war nie Teil des Planes gewesen, das Mädchen umzubringen. Entsetzt drehte Karl sich zu Thomas um, der immer noch mit ausgestrecktem Arm eine kleinkalibrige Waffe hochhielt. Mit einer kräftigen Rückhand schlug er dem Jungen so heftig ins Gesicht, dass sich dieser um die eigene Achse drehte und zu Boden stürzte.

»Bist du wahnsinnig geworden?! Thomas … Thomas, du verdammter Idiot!«, schrie er ihn an. Dann kniete er sich nieder, packte den heulenden Jungen und drückte ihn an seine Brust.

Steiner schüttelte den Kopf. »So eine verdammte Scheiße.«

Udos Augen zuckten nervös, dann ging er aufgekratzt zu Esthers Leiche hinüber und tat so, als würde er eine Pistole in Händen halten.

»Wow, o Mann! Der Kleine hat die Judensau einfach abgeknallt! Boom, boom und nochmals boom! Richtig geil, der Kleine!«

Blut aus dem verletzen Finger lief seinen Arm hinab.

Thomas versuchte schluchzend, sich zu verteidigen. Er verstand die Welt nicht mehr. Warum waren denn die anderen nicht stolz auf ihn?

»Ich, ich … Was sollte ich denn tun, ich … Es war doch nur eine Jüdin … Es war doch nur eine Jüdin …«

Karl atmete tief durch und rang um Fassung. Er drückte Thomas eine Armlänge von sich weg.

»Woher hattest du die Waffe?«

Thomas’ Lippe und Nase bluteten.

»Aus deiner Wohnung … Ich krieg doch jetzt keinen Ärger, oder, Karl? Ich krieg doch keinen Ärger, oder?«

Karl schüttelte den Kopf. Er holte ein Taschentuch aus seiner Jacke und drückte es Thomas an die blutende Nase.

»Nein … Nein, du bekommst keinen Ärger. Ich mach das schon …«

Langsam beruhigte sich Thomas und nahm das Taschentuch selbst in die Hand. »Bist du jetzt nicht mehr mein Freund?«

Steiner mischte sich ein und unterbrach die beiden.

»Schick den Kleinen jetzt nach Hause wie abgemacht. Wer weiß, wann der alte Jude hier auftaucht. Udo, such dir was und kleb dir die Scheißwunde ab. Danach müssen wir das Mädchen aus dem Weg räumen.«

Karl rappelte sich auf und zog Thomas hoch.

»Thomas, du gehst jetzt wie geplant zu mir nach Hause. Hast du mich verstanden?«

Thomas nickte.

»Du machst keine Umwege, gehst direkt zur S-Bahn und fährst zu mir. Wie wir es besprochen haben – erinnerst du dich? Du rufst niemanden an und gehst auch nicht ans Telefon. Du wartest einfach auf mich, bis ich zu Hause auftauche. Kapiert?«

Thomas nickte mehrmals, während Karl seine Klamotten zurechtzupfte.

»Du musst jetzt stark sein, Thomas. Hast du mich verstanden Kleiner? Wir kriegen das hin, wir kriegen das alles hin … du musst nur genau tun, was wir ausgemacht haben. Verstanden?« Wieder nickte Thomas.

Karls Blick fiel auf das Sturmfeuerzeug auf dem Boden, es war ihm wohl während des Sturzes aus der Tasche gerutscht. Er hob es auf und drückte es Thomas in die zitternden kleinen Hände.

»Ich bin immer da für dich, Thomas, aber du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren. Schaffst du das?«

Thomas’ Stimme versagte, und so nickte er erneut.

Karl löste sich von ihm und schob ihn zur Wendeltreppe.

»Morgen ist alles vorbei – dann reden wir.«

Thomas stieg langsam die Stufen hinab, das Feuerzeug hielt er fest umschlossen. Dabei wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Und vergiss den Stein nicht!«, rief ihm Steiner laut hinterher. Noch immer gab das Sicherheitssystem in regelmäßigen Abständen einen lauten, hohen Warnton von sich.

»Ich weiß nicht, Steiner, vielleicht wäre es besser, der Junge bleibt hier … Der macht sich doch in die Hosen, der kleine Scheißer.«

»Halt’s Maul, Udo. Der Kleine schafft das schon.«

Wie auf ein Zeichen brach der Warnton ab und der Touchscreen leuchtete grün auf.

DOOR LOCKED – SECURITY SYSTEM RESTORED

Turmschatten

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