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ОглавлениеEPHRAIM II
SAMSTAG, 16. OKTOBER 2010, 13.30 UHR
Der Jaguar erreichte den Schotterweg, der den Hügel hinauf zum Turm führte. Zamir bremste den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit ab und zwang sich, ruhig zu bleiben.
Wahrscheinlich ist meine Angst unbegründet, wahrscheinlich liegt Esther oben auf der Couch und ist mit einem Buch in der Hand eingeschlafen, wie immer am Sabbat nach der Synagoge, dachte er. Aber wenn doch etwas passiert sein sollte, wollte er auf keinen Fall Verdacht erwecken.
Die Wolkendecke, die sich träge über dem Turm bewegte, riss hin und wieder auf. Dann brach die Sonne für wenige Sekunden durch und tauchte den Hügel in warmes, friedliches Licht, bis sich wieder eine Wolke vor die Sonne schob.
Ephraim parkte den Jaguar nicht wie üblich vor dem Portal, sondern an der Rückseite des Turms, wo sich eine Garage befand, von der aus ein separater Zugang direkt in den Turm führte. Das Rolltor öffnete und schloss sich automatisch.
Seligmann!, schwirrte es ihm durch den Kopf. Ich war zu schroff. Diese arme Frau, die sonst so viel Zivilcourage gezeigt hat, konnte absolut nichts dafür. Sobald ich mit Esther gesprochen habe, muss ich mich bei ihr entschuldigen.
Ephraim tippte den Zahlencode in ein Ziffernfeld neben der Wand. Lautlos schwang daraufhin die schwere Stahltür auf. Kaum war Ephraim hindurchgegangen, schloss sich die Tür wieder und es schalteten sich automatisch die Glühbirnen ein, die das steinerne Treppenhaus in ein kaltes Licht tauchten.
Er war jetzt ganz unten im Turm, eine Etage tiefer als der Haupteingang, der vom Portal aus in den Turm führte. Hier gab es keine Fenster, keine Wärme, nur Mauern und drei graue Holztüren, die rund um den steinernen Treppenaufgang in geräumige Kammern führten. Ephraim nutzte sie als Abstellräume, achtete aber immer darauf, dass die Türen verschlossen waren. Er überprüfte sie kurz und blickte dabei das schmale Treppenhaus hinauf. Es war kein Mucks zu hören.
Er rief laut: »Esther, ich bin in fünf Minuten bei dir!«
Gleichzeitig öffnete er mit einem Schlüssel eine der Holztüren. Das Licht musste er hier von Hand anknipsen. Eine Neonröhre surrte, blitzte zweimal kurz auf und erhellte den fensterlosen Raum. Die Decken waren ungewöhnlich niedrig und ließen sich mühelos mit der Hand berühren. Es dauerte eine Weile, bis Ephraim in einer Kiste fand, wonach er suchte. Es war eine Sprühdose, auf der »Felgenreinigung« stand. Er schaltete das Licht wieder aus, schloss die Tür und stieg die steinerne Treppe empor.
Im Hochparterre sah sich Ephraim kurz um, aber alles war wie immer. Auch die Eingangstür am Portal war ordnungsgemäß verschlossen. Esthers Mantel hing an der Garderobe. Langsam entspannte er sich. Wahrscheinlich war seine Angst vollkommen unbegründet …
Da fiel sein Blick auf einen faustgroßen Kieselstein, der neben den geschlossenen Flügeltüren lag. Sein Puls begann schneller zu werden. Für einen unbedarften Besucher mochte es nur ein Kieselstein sein, aber Ephraims geschulter Verstand schlug sofort Alarm.
O Gott, Esther, wieso habe ich dich allein gelassen?
Er kämpfte gegen den Drang an, sofort die Treppen hochzustürmen. Wer weiß, wer im Turm war, wie viele es waren und was sie mit Esther gemacht hatten. Seine Hand schloss sich fester um die Sprühdose.
Mit lauten Schritten, die im Treppenhaus nachhalten, durchquerte er auch den ersten Stock. Zwei Treppenwindungen weiter stand er schließlich vor der massiven Holztür, die den Übergang bildete vom kargen Treppenhaus in die heimelige Wohnlandschaft des oberen Turmbereiches. Die Holztür war nur angelehnt. Auch dies war ein sicheres Indiz dafür, dass etwas nicht stimmte.
Ephraim legte die linke Hand auf den Knauf der Holztür und atmete tief durch. Er war darauf vorbereitet, bereits hier angegriffen zu werden, doch er rechnete nicht damit. Der Gang hinter der Tür war zu schmal, um einen effektiven Hinterhalt ausführen zu können, und die enge Wendeltreppe am Ende des Ganges war ebenfalls hinderlich für einen Überraschungsangriff.
Mit einem kräftigen Ruck schob er die Tür auf, damit ein hinter der Tür verborgener Attentäter keine Chance hatte auszuweichen. Aber wie vermutet, schwenkte die Tür ohne Widerstand bis zur Wand auf. Der Gang vor ihm war bis zur Wendeltreppe menschenleer.
Gottfried und Udo hatten sich oben hinter dem Küchenblock postiert. Von Esthers Leiche war nichts mehr zu sehen.
Allerdings war die Zeit zu knapp gewesen, die Blutlache zu entfernen. Karls halbherziger Versuch mit einem Küchenlappen hatte den Fleck nur vergrößert. Zu ihrem Glück war die Lache aber vom Zugang zur Wendeltreppe aus nicht zu sehen.
Karl wartete geduckt hinter der Brüstung der Galerie über ihnen. Sein Blick war auf das Ende der Wendeltreppe gerichtet. Aus dieser erhöhten Position ließ sich der Zugang zum Dachgeschoss ideal überwachen, ohne dabei selbst gesehen zu werden.
Sobald Zamir im Dachgeschoss stand, sollte Karl in der Galerie Lärm machen, um ihn abzulenken. In diesem Augenblick würden Gottfried und Udo den alten Mann von hinten überraschen und überwältigen – so der Plan.
Zamirs Stimme drang von unten hoch.
»Esther, ich mache mich kurz frisch, ich bin sofort da!«
Karl nahm Blickkontakt mit Gottfried auf und zuckte mit den Schultern. Seine Lippen bildeten das Wort »Fuck«.
Gottfried wandte sich Udo zu, der grinsend neben ihm saß. Er schüttelte den Kopf über seinen Kameraden, der grundsätzlich grinste, wenn er nervös war.
»Soll ich runtergehen? Komm, lass mich runtergehen, ich erledige das!«
Udos zeigte all seine gelben Zähne.
»Nein. Wir warten«, befahl Gottfried und blickte wieder zu Karl hoch. Der schüttelte ebenfalls den Kopf als Zeichen dafür, dass sich am Ende der Wendeltreppe nichts tat.
Von unten hörte man plötzlich ein leises Rauschen. In ihrer Anspannung erkannten alle drei fast gleichzeitig die Ursache für das Geräusch.
»Scheiße, jetzt duscht der Kerl auch noch!«, flüsterte Gottfried.
Er erhob sich aus seinem Versteck und rieb sich den Nacken. Er hatte die Waffe in der Hand, mit der Thomas Esther erschossen hatte. Udo stand ebenfalls auf.
»Ist doch geil, Mann«, sagte Udo so laut, dass auch Karl ihn hören könnte.
»Spinnst du? Am besten, du schreist noch lauter rum!«, ermahnte ihn Gottfried.
»Hey, der Typ ist unter der Dusche, der hört keinen Ton.«
Karl hob beschwichtigend die rechte Hand, die in einem wuchtigen Schlagring steckte, und zuckte ratlos mit den Schultern.
Gottfried packte Udos Hand und zog sie nach oben, so dass Karl sie sehen konnte. Udos kleiner Finger war mit einem Geschirrtuchfetzen umwickelt worden, der sich blutrot gefärbt hatte und bereits tropfte. Ein Klebeband, das um die ganze Hand reichte, fixierte das Stück Stoff.
»Siehst du das? Wir haben nicht ewig Zeit!«, meinte Gottfried wütend.
Udo riss seine verletzte Hand aus Gottfrieds Umklammerung. »Mann, das ist ein alter Itzig, der nackt unter der Dusche steht. Scheiß auf den Finger, aber je früher wir hier wegkommen, desto besser.«
Gottfried nickte und sah seinem Kumpel in die Augen.
»Okay, packst du das?«
Udo nickte und grinste wieder.
Karl war außer sich vor Wut und klopfte mit dem Schlagring auf die Brüstung.
»Habt ihr sie noch alle? Wir könnten das hier jetzt einfach aussitzen, der duscht doch nicht ewig!«
»Schnauze, Karl! Du bist so eine Pussy im Knast geworden. Wir machen das Arschloch jetzt kalt, und du wartest hier oben, für den Fall, dass er es doch irgendwie schafft, uns zu entkommen.«
Er glaubte nicht an diese Möglichkeit, sondern wollte Karl nur ruhigstellen.
Udo hatte das Messer in die unverletzte linke Hand genommen und den Schlagstock, der am unteren Ende einen Griff hatte, in die Rechte. Der Schlagstock bildete eine Parallele zum rechten Unterarm. Selbst mit der Verletzung konnte er den Stock so als tödliche Waffe einsetzen und gleichzeitig Schläge abwehren. Udo war ein Experte mit dieser Waffe.
Er stand näher an der Wendeltreppe und ging voraus.
»Verdammt, warte, Udo!«, rief Gottfried ihm nach.
»Keine Chance, Steiner. Diesmal will ich den Job erledigen und nicht immer nur dein Assi sein.«
Gottfried schüttelte irritiert den Kopf, dann folgte er Udo so leise es auf der knarrenden Wendeltreppe eben ging. Karl kam die Treppe herunter und blickte ihnen nach. Ihm war bewusst, dass es nicht mehr darum ging, den alten Sack nur einzuschüchtern. Durch den Tod von Esther hatte Thomas auch das Todesurteil für Zamir gefällt.
Scheiße, wieso müssen die Dinge nur immer so aus dem Ruder laufen?
Der Schlagring begann mittlerweile zu schmerzen. Er zog die Waffe von der Hand und betrachtete die tiefen Abdrücke in seinen Fingern. Damit das Blut wieder besser zirkulieren konnte, öffnete und schloss er die Hand mehrmals, dann steckte er die Hand in die Seitentasche. Da war sie, die Visitenkarte, die ihm die Stresemann gegeben hatte. Scheiß auf sie. Alles war schiefgelaufen, aber shit happens. Hauptsache, Thomas war in Sicherheit. Wenn sie jetzt den Itzig kalt machten, würde wenigstens keine fucking Synagoge gebaut werden. Alles andere war erst mal egal.
Gottfried drängte sich an Udo vorbei und öffnete leise die schwere Holztür zum Treppenhaus.
»Fuck, was machst du?«, zischte ihn Udo leise an.
»Was, wenn der Alte gar nicht in der Dusche ist, sondern versucht abzuhauen?«, entgegnete Gottfried.
Udo schüttelte verständnislos den Kopf.
»Scheiße, Mann, du denkst immer so kompliziert!«
Gottfried reagierte nicht darauf, sondern verschwand im Treppenhaus, während er hinter sich die Tür offen stehen ließ.
Du mich auch, dachte Udo, und öffnete behutsam die Tür, die in die anderen Wohnräume führte. Er blickte in einen kleinen Vorraum, von dem links zwei große Schlafzimmer abzweigten, deren Türen weit geöffnet waren. Ihm gegenüber befand sich eine geschlossene Badezimmertür aus Milchglas. Das prasselnde Wasser der laufenden Dusche war nun sehr deutlich zu hören, ebenso wie die dumpfe Stimme eines Radiomoderators, der einen Song von U2 ankündigte.
Ich brech dir alle Knochen, alter Mann …
Udo drückte mit der rechten Hand ganz vorsichtig die Klinke der Glastür herunter. Vorsichtig schob er sie mit dem Fuß auf. Das Messer in der linken Hand war bereit, einen tödlichen Stich zu landen, während der Schlagstock in der Rechten einen Angriff parieren konnte. Alternativ konnte er auch mit dem Schlagstock dem Opfer den Kehlkopf zertrümmern.
Aber den alten Knacker könnte ich auch unbewaffnet ins Jenseits schicken!
Udo betrat ein großzügiges, weiß gefliestes Badezimmer mit zwei Waschbecken und einer Rundbadewanne, wie er sie im Leben noch nie gesehen hatte, und einer Duschkabine daneben, aus der heißer Dampf quoll.
Der Duschstrahl prasselte laut und gleichmäßig. Es dauerte einen Moment, bis Udo merkte, dass das Geräusch irgendwie merkwürdig war. Richtig, der Duschstrahl klang monoton. Entweder verharrte der Jude regungslos in der Dusche, oder sie war … leer!
Die Erkenntnis kam zu spät. Von hinten traf ihn ein heftiger Tritt in die rechte Kniekehle. Udo knickte ein und verlor das Gleichgewicht. Noch im Fallen versuchte er sich umzudrehen, um seinen Angreifer zu sehen, doch auch damit hatte Zamir gerechnet. Voller Wucht landete er mit dem Boden der Sprühdose einen Schlag in Udos Gesicht. Sein Hinterkopf schlug schmerzhaft auf den Fliesen auf, doch Udo war ein erfahrener Kämpfer und wusste instinktiv, dass er dem Schmerz keine Sekunde Zeit geben durfte. Noch während er auf dem Boden lag, riss er die linke Hand mit dem Messer hoch, um nach seinem Angreifer zu stechen, doch der trat ihm mit der Schuhspitze in den Schritt. Udo ächzte auf und ließ das Messer für ein Moment sinken. Das war der letzte Fehler, den er in diesem Zweikampf beging. Ephraim Zamir nutzte sein eigenes Körpergewicht und ließ sich mit den Knien auf Udos Brustkorb fallen. Udo schnappte nach Luft. Doch schon entriss ihm Zamir mit einer Hand den Schlagstock und packte mit der anderen die Messerhand am Gelenk. Lange hätte Zamir der Kraft des jungen Mannes nichts entgegenzusetzen gehabt, aber es reichte, um das gefährliche Messer für einen Augenblick auf Distanz zu halten, zumindest so lange, bis er Udo den Schlagstock an die Schläfe hämmerte. Udos Körper sackte in sich zusammen wie eine Luftmatratze, aus der die Luft entwich.