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KARL I

SONNTAG, 23. AUGUST 1992

Die Vorhänge im zweiten Stock des Altbaus waren zugezogen, damit die Bewohner am Sonntagmorgen nicht allzu früh durch die Sonne geweckt wurden. Das Mehrfamilienhaus lag in Anklam, östlich vom Zentrum im Stadtteil Schanzenberg, dort, wo es keine Plattenbauten gab. Trotz aller Abwanderungsprobleme siedelte sich hier nach dem Fall der Mauer der wohlhabende Mittelstand an. Karl Riegers Vater hatte nach der Wende den richtigen Riecher gehabt und einen Telefonladen im Ort eröffnet. Anfangs hielten ihn seine Bekannten und Freunde für verrückt, doch mittlerweile boomte der Laden. Anfang des Jahres konnten sie sich endlich eine bessere Wohnung leisten und die verhasste Plattenbausiedlung verlassen.

Es würde wieder ein heißer Sommertag werden. Da Karls Zimmer nach Osten gerichtet war, bekam er schon in aller Frühe die Kraft der Sonne zu spüren, die sich auch durch die dünnen Vorhänge seiner Fenster kaum abhalten ließ.

Karl wälzte sich unruhig im Bett und schlug schließlich die Augen auf. Verdammte Hitze!

Es war Sonntag, sein letzter freier Tag. Fast sechs Wochen Ferien lagen hinter ihm. Sechs Wochen Langeweile und Einöde in diesem grauenvollen Kaff am Arsch der Welt.

Karl setzte sich verschlafen auf die Bettkante und fuhr sich mit beiden Händen über die kurz rasierten Haarstoppel, rieb sich das pickelige Kinn, auf dem ein erster heller Bartflaum wuchs. Die hohen Wangenknochen und dunklen Augen verliehen seinem Äußeren eine bedrohliche Aura. Er trug ein weißes Unterhemd, unter dem sich ein sehniger Körper abzeichnete, der dem regelmäßigen Karatetraining geschuldet war. In ein paar Wochen würde er die Prüfung zum Erhalt des braunen Gürtels ablegen – ungewöhnlich für einen Jungen, der gerade sechzehn geworden war.

Karls Blick streifte seinen Schulranzen mit Camouflage-Muster. Morgen würde die Schule wieder losgehen. Er hatte kein Problem damit, im Gegenteil, er war der Beste seiner Klasse am Lilienthal-Gymnasium und wusste, dass ein guter Abschluss seine Fahrkarte in eine bessere Welt war.

Ach, Scheiße. Eine bessere Welt? Eine Welt voll mit Schwulen, Asylanten und Juden.

Er griff nach der Schachtel Zigaretten, die er auf seinem Nachttisch deponiert hatte, dann ging er zum Fenster und öffnete es. Die Sonne blendete ihn, doch er genoss die warmen Strahlen und zündete sich eine Zigarette an. Er schloss die Augen. Ein tiefer Zug füllt seine Lungen, bis schließlich weißer Rauch langsam aus seiner Nase stieg.

Er musste an seinen Opa Alois denken, der immer nach Zigaretten gerochen hatte. Ein tapferer, alter Kriegsveteran, der viel zu früh gestorben war. Es waren seine Soldatengeschichten, die ihm schon als kleiner Junge mehr Freude bereitet hatten als alles andere auf der Welt.

Er erinnerte sich gut an die Besuche bei Oma und Opa in Stralsund. Das war jedes Mal eine zeitraubende Reise mit dem Zug gewesen. Einen Trabbi konnten sich seine Eltern nicht leisten. Belohnt wurde der kleine Karl bei der Ankunft immer mit Erdbeeren aus Omas Garten und mit Opas Kriegsgeschichten.

Eine sehr steile und enge Treppe führte hinauf in Opas kleines Reich. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals wieder solch eine abenteuerliche Treppe gesehen zu haben. Seine Mutter hatte immer furchtbare Angst um den kleinen Karl gehabt, wenn er mit seinen kurzen Beinchen die Treppe emporstieg. Versuchte sie zu helfen, kam sofort von oben die mahnende Stimme des Vaters. »Der Bengel wird nie ein Mann, wenn du ihn nicht mal allein die Treppe hochsteigen lässt!«

»Und wenn er stürzt?«, entgegnete sie besorgt.

»Na und? Ein paar Schrammen haben noch niemanden umgebracht!«

Opa war selbst mit siebzig Jahren noch ein rüstiger Mann mit borstigem, silbergrauem Haar gewesen, im Nacken und über den Ohren militärisch korrekt abrasiert. An der linken Schläfe hatte eine breite Narbe die Haare wie ein Seitenscheitel geteilt. Wegen seiner hängenden Wangen und großen Tränensäcke hatte er Karl an die traurig dreinblickende Dogge seines Onkels erinnert. Kaum vorstellbar, dass dieser liebevolle Opa, der mit ihm gespielt und Panzermodelle zusammengebaut hatte, einst der kernige Oberfeldwebel gewesen war, den er aus Omas vergilbten Fotoalben kannte. Das Bild, auf dem er in Ausgehuniform, umringt von seiner Frau, seinem erwachsenen Sohn und seinen zwei kleinen Töchtern, stolz sein »Eisernes Kreuz erster Klasse« präsentierte, gefiel dem kleinen Karl ganz besonders. Auf seinem Schoß sitzend, eng an seinen Brustkorb geschmiegt, folgte er gebannt Opas Geschichten, in denen er Partisanenstellungen in die Luft jagte oder den Angriff russischer Einheiten praktisch im Alleingang abwehrte.

Als Karl zwölf Jahre alt und zu schwer für Opas Schoß geworden war, fuhr dieser eines Tages mit ihm an die polnische Grenze und nahm ihn mit auf einen winterlichen Spaziergang. Opa war nicht der Typ, der gerne spazieren ging. Gewöhnlich saß er in seinem Zimmer und ging nur selten aus dem Haus. Aber an diesem kalten Wintermorgen wurde aus dem liebevollen Opa ein Mann mit einem Namen, ein Mann mit einer Botschaft, der seinem Enkel die Tragödie erklärte, in der sich Deutschland, ja sogar die ganze Welt befand. In Karl fand dieser Mann einen willigen Schüler, der alles begierig aufsaugte, was der Mentor von sich gab.

»Die Juden sind an allem schuld!« Das war der Satz, der sich Karl tief ins Bewusstsein brannte, genauso wie die Geräusche des knirschenden Schnees unter ihren Füßen und Alois’ verbissene Miene.

Alois erzählte ihm von der Weltverschwörung des »jüdischen Bolschewismus«, der nicht nur die Weltherrschaft anstrebte, sondern auch verantwortlich war für den Ersten und sogar den Zweiten Weltkrieg. Er klärte ihn darüber auf, dass Hitler gar nicht anders konnte, als Russland anzugreifen, um einem Angriff zuvorzukommen. Alois erzählte ihm vom Holocaust. Davon, dass diese Gräueltaten nie geschehen seien, dass der Holocaust eine Erfindung der Siegermächte war, um die Deutschen kleinzuhalten und sie gnadenlos ausbeuten zu können. Und er erzählte ihm vom Schicksal seiner Familie, die ursprünglich aus Ostpreußen stammte, wohlhabend war und ihres ganzen Besitzes beraubt wurde, als sie vor den russischen Eroberern flüchten musste.

Sie waren eine Stunde durch kniehohen Schnee gestapft und Alois hatte nicht eine Sekunde lang aufgehört zu reden, während Karl sich anstrengen musste, mit ihm Schritt zu halten. Schließlich waren sie an einem Fluss angekommen, und Alois streckte den Arm Richtung Osten aus.

»Das ist die Oder, Karl. Und dahinter liegt heute Polen. Früher einmal gehörte das alles zu Deutschland. Vor dem Krieg, vor dem Zweiten Weltkrieg.«

Dann schwieg er. Sein Blick hing fest am Horizont, fast so, als könnte er die Vergangenheit vor seinem inneren Auge wieder zum Leben erwecken. Ihr Atem bildete in der Kälte neblige Wolken.

Alois holte ein Stofftaschentuch aus seiner Manteltasche hervor, schnäuzte sich laut und fuhr schließlich mit ruhiger, tiefer Stimme fort: »Unsere Heimat, der Ort, an dem ich und deine Großmutter geboren wurden, liegt heute in Polen, weil die Russen nach dem Krieg den Polen ein riesiges Gebiet abgenommen und ihnen dafür unser Land als Entschädigung gegeben haben.«

Minutiös erklärte er Karl, dass nicht nur die Teilung Deutschlands großes Unrecht war, sondern auch die Abtretung dieser Gebiete, die, völkerrechtlich gesehen, niemals hätte passieren dürfen.

»Krieg hin oder her«, seine Hand erhob sich wieder gen Osten, »hier hat die Welt tatenlos zugesehen, wie der Iwan tausende von Deutschen ermordet und vertrieben hat, um unser Land zu stehlen.«

Karls Hände begannen zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es wegen der Kälte oder der Wut über diese Ungerechtigkeit war.

Der Großvater packte ihn schließlich an den Schultern, dann kniete er sich vor ihn in den eisigen Schnee.

»Wir dürfen dieses Unrecht niemals vergessen, Karl.«

Seine Augen hatten jegliche großväterliche Wärme verloren.

»Du darfst das niemals vergessen! Deine Generation muss zu Ende bringen, was wir nicht geschafft haben. Verstehst du das?«

Karl nickte, auch wenn er nicht wirklich verstand, was Alois damit gemeint hatte.

Auf dem Rückweg durch den Schnee sprach Alois kein einziges Wort. Karl hatte so viele Fragen und konnte doch keine einzige aussprechen. Die Menge der neuen, schockierenden Erkenntnisse schwirrte in seinem Kopf umher wie ein wild gewordener Schwarm Bienen. Nur ein Satz zeichnete sich immer wieder klar vor seinem geistigen Auge ab:

»Die Juden sind an allem schuld!«

Es war das letzte Mal, dass Karl seinen Opa sah. Nur wenige Monate später starb er, noch bevor die Mauer fiel.

Karl zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann schnippte er den Stummel weit von sich, der in hohem Bogen auf die Straße flog. Langsam trottete er in Unterhose und Unterhemd in die Küche. Normalerweise war seine Mutter um diese Uhrzeit schon wach und brutzelte für »ihre Jungs« Eier mit Speck, aber der Speck lag unangetastet auf einem Brett neben der kalten Pfanne.

Dann hörte er den Fernseher aus dem Wohnzimmer – ungewöhnlich um diese Uhrzeit, da seine Eltern den Fernseher eigentlich nur am Abend einschalteten. Neugierig betrat er das Wohnzimmer. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass nicht nur seine Mutter, sondern auch sein Vater gebannt auf den Fernseher starrte.

Die Bilder zeigten nächtliche Krawalle, Demonstranten warfen Steine auf Polizisten, die offensichtlich versuchten, ein Asylantenheim vor der Menge zu schützen. Es war von zweitausend Bürgern die Rede, die am vergangenen Abend gegen das Asylantenheim in Rostock-Lichtenhagen demonstriert hatten.

Karls Augen funkelten vor Erregung.

»Deutschland erwacht!«, rief er aus und erntete dafür Applaus von seinem Vater. »Ich muss Kai anrufen! Es geht los, es geht endlich los …«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und stürzte zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen.

Seit Wochen war klar gewesen, dass es in Rostock irgendwann krachen würde. Das Auffanglager für Asylbewerber in Lichtenhagen war vollkommen überfüllt. Es lag in einem elfgeschossigen Plattenbau und belegte dort einen von zwölf Hauseingängen. Über dreihundert Neuankömmlinge kampierten in Decken und Plastiksäcken gehüllt auf den angrenzenden Grünanlagen und mussten ihre Notdurft an der Mauer des Plattenbaus verrichten. Die Stadt weigerte sich, mobile Toiletten aufzubauen, um die Situation nicht zu »legalisieren«. Der Zorn der Anwohner wurde von Tag zu Tag größer. Es hatte sich nur um eine Frage der Zeit gehandelt, bis dieses Pulverfass explodierte. Sogar die Zeitungen hatten über die Drohungen der rechten Szene geschrieben, aber die Behörden hatten weiterhin tatenlos zugesehen.

Karl und sein bester Freund Kai hatten die Entwicklung mit Spannung verfolgt. Ihr Plan war ganz einfach: Sobald die ersten Steine flogen, würden sie sich auf den Weg machen, um endlich den Anschluss zur Szene zu bekommen.

Gerade als Karl seinen Freund anrufen wollte, läutete das Telefon. Kai war am Apparat.

»Hast du es gesehen?« Er atmete schnell und seine Stimme vibrierte vor Aufregung.

»Und wie ich es gesehen habe. Ist das geil!«

»Wie schnell kannst du fertig sein?«

»Ich bin fertig!« Karl blickte auf seine Unterhose. »Ich bin fertig, wenn du da bist. Hast du das Auto?«

»Alles organisiert. Nach Rostock sind’s eineinhalb Stunden. Aber was machen wir, wenn die Sache länger dauert? Morgen ist Schule.«

Karl grinste. »Scheiß auf die Schule!«

18 JAHRE SPÄTER – DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010

Die Wohnung in der Großstadt befand sich in einem der schmucklosen Häuser, die man nach dem Krieg dank »Großsiedlungsbau« aus dem Boden gestampft hatte, und die in ihrer Uniformität kaum zu überbieten waren. Kleine Fenster in niedrigen Räumen hinter ebenso kleinen Balkonen gaben den Bewohnern der Sozialwohnungen, die man in den Sechzigern und Siebzigern in Trabantenstädten am Rande der Ballungszentren zusammengepfercht hatte, unmissverständlich zu verstehen, dass sie Menschen zweiter Klasse waren.

Der Bestand von hunderttausend Wohnungen des staatlichen Konzerns »Neue Heimat« hatte sich damals in kürzester Zeit auf das Doppelte gesteigert. Die Profitgier der Verantwortlichen kannte keine Grenzen, denn mit der staatlichen Subventionierung war mit Immobilien in den sozialen Brennpunkten der Städte mehr Geld zu verdienen als mit Luxus-Villen und Golfplätzen. Als der »Spiegel« in den Achtzigern nachweisen konnte, dass sich der Vorstand des Konzerns über Jahre hinweg an den Mieteinnahmen bereichert hatte, löste dies zwar einen großen Skandal aus, für die Betroffenen änderte sich aber letztendlich nichts.

Ironischerweise hatten einst die Nationalsozialisten bei ihrer Machtübernahme 1933 den Konzern aus enteignetem Gewerkschaftsbesitz gegründet und ihm 1939 den Namen »Neue Heimat« gegeben.

All das wusste Karl Rieger jedoch nicht, als er vor einigen Jahren diese Wohnung bezogen hatte. Hätte er es gewusst, hätte er die Wohnung deutlich mehr geschätzt und sich darin bestätigt gefühlt, dass wieder einmal eine starke nationalsozialistische Idee zur Verbesserung des Volkskörpers vom Geschwür des demokratisch-kapitalistischen Staates mit Füßen getreten worden war.

So aber war dieses dunkle Loch nur ein von dreckigen Ausländern verseuchtes, notwendiges Übel, das er zutiefst verabscheute.

Die Sonne war fast untergegangen, und der Computerbildschirm tauchte die Einzimmerwohnung in gespenstisches Licht. Der Computer stand an der Wand direkt unterhalb einer Hakenkreuzfahne. Ansonsten gab es kaum Wandschmuck, bis auf ein großes Banner, auf dem in Frakturschrift ein Zitat des einstigen Propagandaministers Joseph Goebbels prangte:

WIR DENKEN MIT UNSEREM BLUT!

Auf einem Sideboard waren fein säuberlich Bilderrahmen mit Porträts von Hitler, Himmler, Göring und Heß aufgereiht. Davor lag auf einem weinroten Samtkissen ein Offiziersdolch mit den SS-Runen. Überhaupt war jeder Gegenstand und jedes Foto mit Bedacht platziert, und auch die Nazi-Relikte und Spielzeugpanzer der deutschen Wehrmacht in einer Glasvitrine waren exakt symmetrisch ausgerichtet und vollkommen staubfrei.

Selbst seine Hemden hatte Karl Rieger ganz in soldatischer Tradition exakt im DIN A4-Format gefaltet und in den einzigen Schrank geschichtet. Eine Couch, ein Tisch, ein Bücherregal, das war alles. Der Raum wirkte durch die schlichte Ausstattung größer, als er eigentlich war.

In Jeans und Unterhemd saß Karl vor seinem Rechner und startete einen Videochat. Das tätowierte Hakenkreuz auf seinem Rücken, dessen Ausläufer bis auf die Schultern reichten, erwachte durch das Muskelspiel kurz zum Leben.

Sein Körper war immer noch durchtrainiert und sehnig. Längst hatte er den schwarzen Gürtel in Karate erreicht, aber bei Straßenkämpfen vertraute er lieber auf eine kurzläufige Schusswaffe, die er immer am Rücken im Hosenbund trug. Die Zeit, in der Karl dumpfe Krawallmache suchte, war allerdings vorbei. Er hatte längst eingesehen, dass es galt, strategischer und überlegter vorzugehen. In der Szene hörte man auf ihn. Er war ein geborener Anführer, einer, der andere für eine Sache begeistern konnte, einer, der durch seine Bildung und rhetorischen Fähigkeiten weit gefährlicher war als der Rest seiner braunen Clique.

Der Computer zeigte an, dass eine Anrufverbindung zu »Leitwolf« aufgebaut wurde. Die Webcam filmte so lange Karls Gesicht, der sein Spiegelbild ungewollt in Augenschein nahm.

Hackfresse, was willst du? Du siehst aus wie dreißig und hast immer noch keine Ahnung, wer du bist oder was du eigentlich willst. Der Knast hat dich weich werden lassen!

Ein Piepton signalisierte, dass »Leitwolf« das Gespräch angenommen hatte. Karls Gesicht schrumpfte und rutschte in die linke unter Ecke des Bildschirms, als »Leitwolf« erschien. Ein karger Mann um die fünfzig, dessen wenige Haare nicht der Gesinnung, sondern dem Alter geschuldet waren. Er trug ein blaues Hemd mit offenem Kragen und man konnte ihm förmlich ansehen, dass er sich soeben seiner Krawatte entledigt hatte. Sein schmales Gesicht wurde von einer schwarz geränderten Hornbrille dominiert, deren starke Gläser die Augen kleiner erscheinen ließen, als sie waren.

Er grinste über das ganze Gesicht, als er Karl sah. Seine Stimme hatte einen stechenden, hohen Klang.

»Karl … Karl Rieger!«, sagte er, so als könnte er es gar nicht fassen, ihn wiederzusehen. »Du siehst gut aus, Kamerad! Scheint, als hättest du Urlaub im Gefängnis gemacht. Du hast dich nicht unterkriegen lassen, stimmt’s?«

Karl schwieg. Es waren die üblichen Floskeln, wenn einer der ihren nach dem Gefängnisaufenthalt begrüßt wurde. Bei diesem Ritual wurde keine Antwort erwartet, denn keiner wollte wissen, wie beschissen der Knast wirklich gewesen war.

»Gerd hat erzählt, du hättest im Knast einem Neger die Nase gebrochen, weil er dir an die Wäsche wollte! So kenne ich dich, Kamerad, immer schön die Arschbacken zusammen und Fünf auf die Zwölf. Karl lässt sich nicht ficken, von niemandem, habe ich recht? Hab ich recht?!«

Nein, er hatte nicht recht. Karl hatte im Knast Prügel kassiert, und zwar heftig. Das Hakenkreuz auf seinem Rücken wirkte auf Kanaken und Neger wie ein rotes Tuch in der Stierkampfarena. Aber davon hatte er nach außen natürlich nichts durchdringen lassen. Im Gegenteil, als ihn Kameraden ein- oder zweimal im Knast besucht hatten, gab er sich als starker Mann, als Führernatur, der dem Untervolk den Willen der arischen Rasse aufzwängte.

»Ich konnte dich leider nicht persönlich abholen. Du weißt schon, ich …«, fuhr Leitwolf, der eigentlich Wilhelm Thielen hieß, mit gesenktem Tonfall fort.

»Du musst dich nicht entschuldigen!«, antwortete Karl, obwohl er ziemlich enttäuscht gewesen war, dass keine Sau aus der Kameradschaft ihn abgeholt hatte.

»Die Zeiten sind hart, Karl, wir müssen die Partei aus den Schlagzeilen halten und du weißt, wie schwer das im Augenblick ist.«

Alles für die Partei, dachte Karl.

Seit er denken konnte, war Thielen Bundesvorsitzender der NPD und hatte es in den letzten Jahren geschafft, die Partei aus der politischen Versenkung ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu holen. Doch seit man in jüngster Vergangenheit wiederholt versucht hatte, die NPD verbieten zu lassen, waren die Funktionäre bei öffentlichen Kundgebungen und Neonazi-Aufmärschen auf Tauchstation gegangen. Selbst bei den Kameradschaften ließen sich Parteimitglieder nur noch höchst selten blicken.

»Du verstehst, wenn man mich mit dir sieht, könnte das für neuen Wirbel sorgen und …«

Karl nickte und fiel ihm ins Wort. »Ist schon in Ordnung.«

Thielen grinste wieder und beugte sich näher zur Kamera.

»Hör zu. Wir haben große Pläne mit dir. Du kennst mich, Karl, ich mach keine Sprüche. Du weißt das, Karl, oder? Alles klar?«

Karl nickte, auch wenn er skeptisch war. Zu oft hatten ihn die Parteigenossen schon enttäuscht, zu oft hatten sie die radikalen Ideen der Kameradschaft boykottiert, und zu oft war Willkür die Triebfeder zahlreicher Aktionen. Aber es war der falsche Zeitpunkt, das zur Sprache zu bringen, also hörte er weiter zu.

»Du bist keiner dieser hirnlosen Schläger. Du hast Köpfchen, Karl. Du, du bist gerissen. Dir kann keiner in die Karten schauen, richtig?«, schmeichelte ihm Thielen. »Das ist gut, Karl, ich mag das. Ich bin selbst so. Keiner kann mich einschätzen, verstehst du? Immer erst denken, dann reden. Da sind wir uns ziemlich ähnlich.«

Karl wurde ungeduldig, wollte, dass Thielen endlich auf den Punkt kam.

»Was ist aus der Synagoge geworden?«

Thielen lehnte sich wieder zurück und zündete sich eine Zigarette an.

»Die Synagoge?«

Thielen zog tief an seiner Zigarette, so als müsse er sich erst stärken, um die Kraft für eine Antwort zu haben. Er inhalierte und blies den kalten Rauch in die Kamera, so dass sein Gesicht für kurze Zeit wie hinter Nebelschwaden verschwand.

»Eine blöde Sache ist das. Ein echt unangenehmes Thema. Willst du das wirklich wissen? Wird dich stinksauer machen!«

Das war keine rhetorische Frage, auch wenn Thielen wusste, dass Karl nicht lockerlassen würde.

»Sehe ich aus, als mache ich Witze?«

Thielen hatte keine Chance, er musste antworten.

»Die Juden haben … Die haben vielleicht eine neue Geldquelle.«

Thielen senkte leicht den Kopf und zog erneut an seiner Zigarette. Karls Augen weiteten sich leicht, ansonsten ließ er sich seine Wut kaum anmerken.

Eine Scheiß-Synagoge, mitten in meiner Scheiß-Stadt.

Doch seine Stimme blieb ruhig.

»Ich dachte, die Stadt hätte den Bau gestoppt?«

Thielen atmete durch. Eigentlich hatte er einen Tobsuchtsanfall von Karl Rieger erwartet, aber der Kamerad überraschte ihn immer wieder. Wer weiß? Eines Tages konnte er es in der Partei weit bringen.

»Die Stadt ist nicht das Problem. Die halten die Kassen geschlossen, solange sich der Itzig gegenseitig fertigmacht. Nein, nein. Das Geld kommt offensichtlich von einem Privatmann. Irgendeiner reichen Judensau.«

»Irgendeine Idee, wer dieses Arschloch ist?«

An der Wohnungstür war ein Geräusch zu hören, das Karl für einen kurzen Augenblick ablenkte. Jemand versuchte aufzuschließen, scheiterte aber, da Karl seinen Schlüssel innen hatte stecken lassen. Karl ignorierte es und blickte wieder zum Bildschirm. Seine Augen verrieten nun blanke Wut.

»Noch nicht, aber das ist nicht deine Sache. Du hast Bewährung, Karl. Du musst jetzt sauber bleiben und schön brav zu deinem Bewährungshelfer gehen. Verstehst du? Brav bleiben! Hast du kapiert?«

Thielens Stimme klang nun fast väterlich. Er musste dafür sorgen, dass Rieger keinen Mist baute.

»Ich kümmere mich um die Sache«, sagte er beschwichtigend.

Der Besucher war inzwischen dazu übergegangen, die Türglocke zu malträtieren. Das schrille Geräusch war auch für Thielen nicht zu überhören.

»Ich muss Schluss machen!«, brachte Karl das Gespräch zum Abschluss. Und auch Thielen dankte innerlich dem Besucher für das unerwartet schnelle Ende des Gesprächs. Er zog nochmals an seiner Zigarette und blies den Rauch durch die Nasenlöcher.

»Bleib sauber, Karl, ich verlass mich auf dich! Heil Hitler!«

»Heil Hitler«, kam es auch von Karl mechanisch, wobei seine rechte Hand kurz zuckte, dann aber doch nur die Maus betätigte, um den Anruf zu beenden.

Der ungeduldige Besucher klopfte jetzt gegen die Tür. Karl öffnete mit einem kräftigen Ruck. Vor ihm stand grinsend ein schmächtiger Junge, der wie die Teenagerausgabe eines klassischen Skinheads aussah. Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel und die ersten Pickel im Gesicht. Der Kleine hieß Thomas Worch und gehörte seit knapp zwei Jahren zur Kameradschaft. Seine Freude über Karls Rückkehr war unübersehbar. Am liebsten hätte er ihn umarmt und fest an sich gedrückt. Aber so was machten echte Kerle nicht. Also versuchte er, seine Freude mit einem lässigen Spruch zu überspielen:

»Na Schlappschwanz, haben sie’s dir im Knast ordentlich besorgt?«

Dabei deutete er einen linken Haken an, aber Karl wehrte die harmlose Faust des Kindes blitzschnell ab und verpasste Thomas einen leichten Schlag in die Magengrube, der ihn ächzend in die Knie gehen ließ.

Thomas biss sich auf die Zähne und rappelte sich wieder auf.

»Scheiße, Mann! Das hat wehgetan.«

Karl verzog keine Miene.

»Sei kein verdammtes Mädchen, Kleiner.«

Er musterte den Jungen, der ihm mittlerweile bis zum Kinn reichte.

»Bist verdammt gewachsen in dem Jahr.«

»Fünfzehn Monate.«

Thomas hatte mitgezählt. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat.

Endlich, Karls eiserner Blick verwandelte sich in ein Lächeln. Auf diesen Moment hatte Thomas all die Monate gewartet. Er hätte heulen können. Karl war nicht nur sein bester Freund, er war wie ein Vater, den er nie hatte.

»Hab deinen dreizehnten Geburtstag verpasst, tut mir echt leid …«, sagte Karl.

»Schon gut, ich werd doch schon in zwei Wochen vierzehn … alles cool …«

»Ehrlich?«

»Ehrlich.«

»Komm her, Großer!«, sagte Karl und drückte den Jungen mit seinen kräftigen Armen fest an sich, der hoffte, dieser Moment der Glückseligkeit würde nie vergehen.

Nach einem kurzen Augenblick packte Karl den Kleinen an den Schultern und schob ihn wieder von sich. »Alles klar?« Er wandte sich ab und ging zielstrebig auf die Küche zu, während Thomas die Wohnungstür zuzog.

»Hast die Bude sauber gehalten. Hast sogar den alten Hermann abgestaubt. Dafür schulde ich dir was.«

»War keine große Sache, ehrlich«, sagte Thomas mit kleinlauter Stimme und fummelte nervös an einem Zippo-Feuerzeug herum, das er aus seiner Jackentasche geholt hatte.

Karl kehrte aus der Küche zurück mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern.

»Hast du Durst?«

»Hast du nicht was Anständiges? Einen Klaren oder so was?«

Thomas ließ das Sturmfeuerzeug rhythmisch auf- und zuschnappen.

»Mach nicht auf harten Mann. Habe ich dir schon tausendmal gesagt. Die richtig harten Jungs brauchen keinen Schnaps.«

»Okay. Nein, lass mal …«

Karl zuckte mit den Schultern, schenkte nur sich ein und stellte die Flasche mit dem leeren Glas auf dem Sideboard neben der Göring-Büste ab.

»Mann, du hast das alte Teil noch!« Er nahm Thomas das Feuerzeug aus der Hand und betrachtete es aufmerksam. »Hatte Angst, du würdest es verticken!«

»Klar, Alter, seit du es mir geschenkt hast, habe ich es immer bei mir. Ist mein Glücksbringer.«

Nachdenklich fuhr Karl mit den Fingerspitzen über das eingravierte Hakenkreuz auf dem Metallgehäuse. Es war eine Fälschung. Nur die US-Armee hatte diese Feuerzeuge im Krieg im Einsatz, nicht die Wehrmacht, aber davon hatte Thomas keine Ahnung. Im Gegenteil, Karl hatte ihm weisgemacht, dass dieses Unikat ein Erbstück seiner Familie sei und dass sein Großvater es bereits bei der Schlacht um Stalingrad dabeigehabt hatte. Er hatte Thomas die Geschichte im Beisein anderer Kameraden aufgetischt, und alle hatten sich fast in die Hosen gemacht, als der Junge das Stück mit leuchtenden Augen entgegennahm. Er war so leichtgläubig, man konnte ihm alles erzählen, er würde alles glauben. Nun hatte Karl fast ein schlechtes Gewissen, aber Thomas jetzt die Wahrheit zu sagen würde ihn sicher tief verletzen. Also ließ er es bleiben, deutete einen kurzen Haken an und öffnete dann seine Faust, aus der Thomas das geliebte Stück wieder entgegennahm.

»Erzähl vom Knast. Wie war das?«, forderte Thomas ihn auf. Karls Miene verzog sich, und er schüttelte kurz den Kopf.

»Das willst du nicht hören. Glaub mir einfach.«

»Die Jungs haben coole Sachen erzählt, wie du einem Neger die Zähne eingeschlagen hast.« Dabei lachte er fies, doch Karl war dabei gar nicht zum Lachen zumute.

»Alles Scheiße, Mann. Nochmal zum Mitschreiben: Der Knast war kein Zuckerschlecken. Verstehst du? Einmal und nie wieder. Hörst du mir zu?«

Thomas versuchte gerade, eine verknitterte Zigarettenpackung aus der Innentasche seiner Bomberjacke zu ziehen.

»Klar hör ich zu!«

»Scheiße nein. Du hörst zu, aber du verstehst gar nichts.«

Endlich brachte Thomas die Zigarettenschachtel zum Vorschein, bemerkte dabei aber den gefalteten gelben Zettel nicht, der unbeachtet zu Boden fiel.

Karls Tonfall wurde rauer. »Schau mich an, Thomas!«

Thomas fummelte gerade eine der Zigaretten aus der zerknitterten Schachtel, ließ nun aber davon ab und gehorchte.

»Ich werde alles tun, um nie wieder in den Knast zu müssen. Verstanden?

Sein Zeigefinger richtete sich auf Thomas.

»Und du, Kleiner, wirst da auch nie hinmüssen, verstehst du? Und wenn es das Letzte ist, wofür ich sorgen werde.«

Seine Halsschlagadern traten deutlich hervor. Er atmete schwer und noch immer schwebte sein Zeigefinger bedrohlich vor Thomas’ Gesicht.

»Das Thema ist beendet. Sind wir uns einig?«

Thomas war etwas verstört. Er hatte eigentlich spannende Geschichten erwartet, die vor Blut und Gewalt nur so strotzten, und bei denen Karl immer als Sieger hervorging. Aber das war nicht mehr der Karl, den er kannte. Karl hatte sich irgendwie verändert.

»Sind wir uns einig?«, hakte er nochmals nach.

Thomas nickte, zog nun nervös eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich in den Mund. Doch offensichtlich hatte der neue Karl Rieger auch etwas gegen Rauchen.

»Lass die Scheiße, das Zeug macht dich krank. Goethe hat schon gesagt: Rauchen macht dumm.«

Dabei verzog Karl versöhnlich seine Mundwinkel zu einem Grinsen, und Thomas atmete auf.

»Du liest Goethe?«, fragte er erleichtert. Geschickt entzündete er mit nur einer Hand das Zippo und steckte sich die Zigarette an. Karl ging in Richtung Küche, um einen Aschenbecher zu holen.

»War Pflichtlektüre an der Uni, zumindest bei unserem Prof.«

Er kam zurück und drückte Thomas einen gläsernen Aschenbecher in die Hand.

»Weißt du, wie Zigaretten entstanden sind?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Ist schon lange her, weißt du. Damals gab’s noch keine Zigaretten, nur Pfeifen«, fuhr Karl fort.

»In den mexikanischen Tabakfabriken haben die Arbeiterinnen den Tabak gesammelt, der auf den Boden gefallen war, und haben ihn in weißes Papier gerollt und verkauft, um sich was dazuzuverdienen. Verstehst du? Sie nannten die Dinger Papelitos.«

Thomas war immer wieder beeindruckt davon, was Karl alles wusste. In seinen Augen war Karl der klügste Mann, den er kannte. Man konnte ihn einfach alles fragen, und er hatte auf alles eine kluge Antwort.

»Was läuft zu Hause ab, alles okay zu Hause?«

Das war ein wunder Punkt, aber Karl war der Meinung, ein Recht auf eine Antwort zu haben. Immerhin war er für Thomas so etwas wie ein Ersatzvater gewesen.

»Chris ist ausgezogen.«

»Chris? War das der aalglatte Typ mit der hässlichen Brille?«

»Nee. Das war der vorletzte Macker. Chris war ganz ok, nicht so ein Arschloch wie die anderen.«

Thomas zog an seiner Zigarette und versuchte dabei übertrieben gelassen zu wirken.

»Und jetzt?«

»Jetzt hat sie ’nen dreckigen Jugo.«

Karl nahm die Hand vor die Augen und fuhr sich dann den Bart entlang, während er den Kopf schüttelte.

»O Mann, ist nicht dein Ernst.«

»Doch, ein Scheiß-Jugo!«

Thomas schnippte seine Asche ab und sagte ganz ruhig: »Ich sag’s nicht gern, aber meine verfickte Mutter ist eine verfickte Hure.«

Karl wusste, dass die coole Fassade nur Show war. Der Kleine hing an seiner Mutter, und noch mehr an seinem Vater, aber der war ein richtiger Arsch. Statt bei der Scheidung um das Sorgerecht für seinen Sohn zu kämpfen, hatte der erfolgreiche Chirurg der Mutter gedroht, jeglichen Kontakt zu ihr und ihrem Sohn abzubrechen, sollte sie die Scheidung durchziehen – und genau das hatte er getan. Du kannst einem Mann per Gericht verbieten, sein Kind sehen zu dürfen, aber es gibt kein Gesetz der Welt, das einen Vater zwingen kann, seinen Sohn zu sehen oder gar zu lieben. Alle Briefe und Mails ließ er unbeantwortet, seine Telefonnummern hatte er ändern lassen. Ein Besuch der Mutter mit ihrem damals elfjährigen Sohn im Krankenhaus des Vaters lief völlig aus dem Ruder und endete in Geschrei, Tränen und dem Einsatz einer Polizeistreife, die Mutter und Kind aus dem Krankenhaus zerren musste. Etwas Vergleichbares hatten die beiden Polizisten zuvor nie erlebt und zum ersten Mal in ihrer Laufbahn fragten sie sich, ob Recht und Gesetz wirklich dasselbe waren. Noch im Flur des Krankenhauses hatte der Vater der unfreiwilligen Eskorte hinterhergerufen: »Du hast es so gewollt, du hast das unserem Sohn angetan. Nicht ich!«

Eine Woche später bekamen Thomas und seine Mutter eine Unterlassungsklage und noch etwas später einen gerichtlichen Bescheid wegen massiven Stalkings, der beiden künftig verbot, sich dem Vater auf eine Entfernung von weniger als fünfzig Meter zu nähern.

»Und dein Alter?« Die Frage war Karl irgendwie herausgerutscht. Schnell ergänzte er deshalb: »Vergiss es.«

»Kein Problem«, gab sich Thomas ganz gelassen.

»Echt, vergiss es … Ist doch auch scheißegal, oder?«

»Klar, Mann. Hauptsache, die Kohle kommt jeden Monat rüber!« Thomas lachte gekünstelt, ballte die Hand mit der Zigarette zur Faust und reckte sie Karl entgegen, der sie mit seiner Faust berührte. In diesem Augenblick fiel Karl der zusammengefaltete Zettel am Boden auf, der Thomas aus der Tasche gerutscht sein musste.

»Was ist das?«

Thomas erschrak, als er den Zettel sah und bückte sich danach, aber Karl war schneller und stellte seinen Fuß darauf.

»Was soll das? Das ist mein Zettel!« Mit seinen immer noch kindlichen Fingern versuchte der Junge den Zettel unter dem Schuh hervorzuziehen, doch Karl gab ihm einen kräftigen Stoß, der ihn nach hinten umwarf. Der Aschenbecher polterte über den Laminatboden.

»Mann, spinnst du?«, schrie Thomas, überrascht von der Heftigkeit der Reaktion.

»Was ist das?«, fragte Karl noch einmal, hob langsam den Zettel auf und entfaltete ihn. Ein schlechtes Foto von Thomas war darauf zu erkennen.

»Das ist mein Zettel, der geht dich einen verdammten Scheiß an.« Thomas rappelte sich wieder auf.

Karls Stimme war nun laut und wütend: »Wenn es jemanden was angeht, dann mich. Was glaubst du denn? Glaubst du deine hirnlose Mutter geht das was an, oder deinen Arschlochvater? Du gehst denen am Arsch vorbei. Am Arsch! Die interessieren sich einen Dreck für dich. Also geht es mich was an. Verstehst du? Denn ich bin der Einzige, dem du nicht egal bist! Der Einzige! Hast du das kapiert?«

Thomas nickte zögerlich, aber das war Karl offensichtlich nicht genug.

»Hast du das kapiert? Sag es!«

Thomas Stimme klang fast weinerlich. »Ja, ich hab’s kapiert!«

Karl wendete seinen Blick ab und richtet ihn auf den Zettel. Aufmerksam las er den Text, der unter dem Foto stand, mit leiser Stimme vor.

»Verehrte Nachbarn,

in unserem Stadtviertel wohnt der bekennende Neonazi Thomas Worch. Der am 28. Oktober 1996 geborene Schüler des Sophie-Scholl-Gymnasiums und Sohn des ärztlichen Direktors der St.-Helena-Klinik Prof. Dr. Friedrich Worch wird sowohl in der Schule als auch in sozialen Netzwerken mit seiner zutiefst menschenverachtenden Gesinnung auffällig. Wir wenden uns an Sie, weil es sich erwiesen hat, dass das nähere soziale Umfeld in solchen Fällen erheblichen Einfluss nehmen kann. Wir fordern Sie auf, Thomas so oft wie möglich mit seiner verkommenen Einstellung zu konfrontieren und ihr gegenüber keinerlei Toleranz zu zeigen!«

Für einen kurzen Moment herrschte eisige Stille im Raum.

Dann brach Karl das Schweigen und sein ruhiger, aber bedrohlicher Tonfall schnürte Thomas die Luft ab.

»Wer hat das geschrieben, Thomas?«

Ja, das waren Schweine! Ja, sie hatten es verdient, dass Karl sie fertigmachte, aber nein, sie waren es nicht wert, dass Karl wieder einsitzen musste!

»Das sind doch nur Idioten …!«

»Wer?«

»Irgendwer aus der Nachbarschaft. Keine Ahnung!«, log Thomas verzweifelt.

Blitzschnell packte Karl eine der kleinen Kinderhände und umklammerte sie brutal wie ein Schraubstock. Langsam erhöhte er den Druck.

»Du nennst mir jetzt die genauen Namen, oder ich breche dir alle Finger.«

Thomas begann zu weinen. Nicht nur wegen des Schmerzes, sondern weil er wusste, dass er nur verlieren konnte, egal, was er nun sagte.

»Ich kann dir das nicht sagen, ich kann es nicht. Auch wenn du mir wehtust, ich kann es nicht!«

Karl war außer sich vor Wut. Er wollte dem Kleinen nicht wehtun, aber sein Hass war stärker als sein Mitleid. Die hilflose Kinderhand spürte er in seiner Faust kaum mehr, die er nun erbarmungslos zusammenpresste. Thomas hatte Rotz und Wasser im Gesicht, während er vergeblich versuchte, mit der zweiten Hand den Griff zu lösen.

Karl verlor endgültig die Selbstbeherrschung und schrie Thomas ins Gesicht. »Warum nicht?!«

Mit letzter Kraft schrie Thomas schluchzend zurück: »Weil du, weil du sonst Scheiße baust und … und wieder in den Knast kommst, und mich wieder alleine lässt …«

Das traf Karl wie ein Faustschlag in sein rot angelaufenes Gesicht. Er lockerte augenblicklich den Druck, und tiefe Scham überkam ihn.

Ich bin so ein Scheißkerl.

Dem einzigen Menschen, der ihm wirklich noch etwas bedeutete, hatte er furchtbar wehgetan, während dieser ihn nur beschützen wollte.

Seine Wangen begannen leicht zu zittern, und er nahm den weinenden Jungen vorsichtig in die Arme und drückte ihn an seine Brust.

»Das wird nicht geschehen. Nie wieder, ich verspreche es dir. Ich werde da sein für dich. Immer!«

Turmschatten

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