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MARIE I

JUNI 1985

Wann es genau passierte, daran konnte Marie sich nicht mehr erinnern. Auch nicht daran, ob sie allein war oder ob ihre Eltern oder ihr kleiner Bruder Simon in der Nähe waren. In ihrer Erinnerung und ihren Träumen fokussierte sich alles auf ein paar wenige Momentaufnahmen, die sich für immer unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Da waren diese warmen Sonnenstrahlen, die zwischen den halb zugezogenen Vorhängen in der Küche eine leuchtende Schneise bildeten. Sie begannen bei der Sitzecke unterhalb des Fensters und endeten direkt beim Herd auf der gegenüberliegenden Seite und tauchten ihn in ein goldenes Licht. Der Herd war etwas größer als sie selbst, mit dicken schwarzen Drehknöpfen, die klackend einrasteten, wenn man sie drehte, und einem Ofen, durch dessen verschmutzte Schutzglasscheibe man kaum mehr das Innere sehen konnte. Und auch jetzt schmorte irgendetwas hinter der dunklen, verschmierten Scheibe, und oben auf den Herdplatten blubberte es kräftig. Ein köstlicher Duft erfüllte die Küche. Immer roch es hier gut, es roch nach Zuhause, hier war sie geborgen und in Sicherheit.

Schon unzählige Male hatte sie ihrer Mutter beim Kochen zusehen dürfen, für sie gab es kaum etwas Schöneres. Mama hielt für diesen Zweck immer einen kleinen Schemel bereit, auf den sich Marie stellte, um die brodelnden Töpfe von oben sehen zu können. Und manchmal, ganz selten, durfte sie auch mit einem Kochlöffel in Mamas Töpfen rühren. Stetig und gleichmäßig, »damit ja nichts anbrennt«, wie Mama ihr erklärte und sie dabei liebevoll in den Arm nahm.

Doch diesmal war Marie ganz allein, allein mit diesem Herd, der leuchtend vor ihr stand und die vertrauten Geräusche von sich gab. Mama war nicht da. Alles, was blieb, war dieses Licht, der Herd und ein Topf, dessen langer, verchromter Stiel weit über den Herdrand hinausreichte. Je näher Marie dem Herd kam, umso lauter wurde das Blubbern des Topfes. Konnte es sein, dass Mama den Topf vergessen hatte? Würde nun alles anbrennen? Würde Mama nicht unendlich stolz sein, wenn Marie mit einem Kochlöffel gleichmäßig den Inhalt verrühren würde? Ihr Blick suchte nach dem Schemel, doch der war nicht zu sehen, und das Brodeln über ihr klang zunehmend bedrohlich.

So klein war sie gar nicht mehr, immerhin war sie vor wenigen Wochen vier Jahre alt geworden. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte ihr ausgestreckter Arm bis zu dem Stiel des Topfes, aus dem nun vereinzelt Tropfen sprangen wie kleine Wasserfeen. Sie musste doch nur den Topf zur Seite schieben, und das Blubbern würde nachlassen, auch das hatte ihr Mama längst beigebracht. Fest entschlossen und in Erwartung des Lobes, reckte Marie sich dem Topf entgegen, bis ihre kleine Finger endlich den Stiel erreichten und kräftig umfassten.

Der Schmerz schoss wie ein Stromschlag durch ihren Körper. Sie schrie auf und riss dabei den Topf mit seiner siedenden Flüssigkeit in die Tiefe.

Wenn sie heute versuchte, sich an den tragischen Unfall zu erinnern, endete alles in jenem Augenblick, in dem der Topf mit dem kochenden Wasser kippte. Es war fast so, als würde er in Zeitlupe auf sie zufallen, als wäre es ganz einfach, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, sie für ihr ganzes Leben zu entstellen. Die Haut war längst verheilt, aber knorpelig und faltig. Von der Schulter bis hinab zur Hüfte vernarbtes Gewebe, unansehnlich und abstoßend. So empfand sie es, wenn sie sich nackt im Spiegel betrachtete.

Den Schmerz, das kochende Wasser, das ihre feine Kinderhaut in Sekundenschnelle aufquellen und platzen ließ, das Klirren des leeren Topfes auf den Fliesen, an nichts davon konnte sie sich mehr erinnern. Auch nicht an die Schreie ihrer Mutter, den Notarzt oder die Einlieferung ins Krankenhaus. Alles war wie ausgelöscht.

Das Leben »danach« begann mit Mamas weinendem Gesicht, umgeben von Ärzten in weißen Kitteln und gleißendem Licht, das direkt über ihr aus Neonröhren vorbeizog. Sie hatte Angst, dass Mama böse war, weil sie doch alles verschüttet hatte und sicher auch der Topf beim Aufprall kaputtgegangen sein musste. Sie hatte so viele Fragen und wollte so viel erklären, aber ihre Stimme nahm keinen Laut an, da man ihr ein Gerät über Nase und Mund gestülpt hatte. Sie verstand nicht, was vor sich ging, nur die geröteten Augen ihrer Mutter verstand sie sehr wohl: »Ich verzeihe dir, mein kleiner Liebling.«

Der Vorfall, wie Marie es später immer nannte – sie hasste das Wort »Unfall«, es hatte so etwas Unkontrollierbares –, war nur der Auslöser und Anlass für weit mehr Schmerz als der physische, den sie durchmachen musste.

Die Narben auf ihrem Körper waren nur der Ausgangspunkt von Ereignissen, die Marie nach und nach veränderten. Für sich genommen war der Vorfall nach einigen Wochen zunächst fast bedeutungslos geworden. Ihr Leben ging nicht nur weiter wie zuvor, es wurde zunächst sogar noch besser. Kaum ein Wunsch wurde ihr mehr abgeschlagen, und die Welt zu Hause in der kleinen Sozialwohnung drehte sich fast nur noch um sie und ihr Wohlbefinden. Selbst im Kindergarten waren die Narben auf der Haut nur dann zu sehen, wenn sie ihr T-Shirt lüftete, was sie manchmal tat, wenn ihre Freundinnen ihr dafür Süßigkeiten schenkten.

Mit der Zeit jedoch wurden die feinen Risse in der heilen Welt größer und größer, vor allem als Marie in die Schule kam und beim gemeinsamen Schwimmunterricht mit angewiderten Blicken begafft wurde. Da gab es keine Süßigkeiten mehr, sondern nur noch heimliches Getuschel und verstohlenes Gelächter, woraufhin sich Marie angewöhnte, Badeanzüge zu tragen, die ihren Körper bedeckten, und die Umkleidekabine erst dann zu betreten, wenn schon alle Mädchen fort waren. Das schützte sie aber nur unwesentlich vor den Gemeinheiten ihrer Klassenkameradinnen. Schon bald gaben sie ihr hässliche Spitznamen wie »Narben-Barbie« oder »Zombie«, doch Marie war eine Kämpferin. Ihr Vater, der Busfahrer war, hatte ihr immer wieder mit auf den Weg gegeben, sich niemals etwas gefallen zu lassen und notfalls für ihr Recht die Fäuste zu erheben.

Levi war ein gottesfürchtiger Mensch, ein regelmäßiger Besucher der Synagoge, aber er war auch impulsiv und konnte schnell aus der Haut fahren. Er war überzeugt, dass die Geschichte seiner Familie, aber vor allem die Geschichte des jüdischen Volkes, sich nicht wiederholen durfte. Und seiner Meinung nach erreichte man das am besten, wenn man frühzeitig lernte, sich gegen Ungerechtigkeit zu erheben.

Es gab da diesen anderen Vorfall, an den sich Marie gut erinnerte, weil er zu lauten Streitereien ihrer Eltern in der Küche geführt hatte. Es muss spät abends gewesen sein, ein angetrunkener Fahrgast mit kahl geschorenem Schädel provozierte und bespuckte ein älteres Pärchen im Bus, die letzten Fahrgäste des Abends. Als Levi an der nächsten Bushaltestelle anhielt, um den Randalierer aus dem Bus zu werfen, beschimpfte dieser ihn als Drecksjuden und reckte ihm grinsend seinen Mittelfinger entgegen. Levi sah rot, packte den handlichen Feuerlöscher, der neben seinem Sitz angebracht war, und schlug dem Neonazi die Metallflasche brutal ins Gesicht. Zwar sagte das ältere Pärchen später zu seinen Gunsten aus, doch die Verletzung durch den Feuerlöscher beförderte den Skinhead für mehrere Monate auf die Intensivstation und machte aus ihm einen Pflegefall.

Dem Busfahrer Levi brachten seine »Prinzipien« mit 59 Jahren den Verlust seines Jobs und eine Haftstrafe auf Bewährung ein. Marie brachten Papa Levis Ratschläge mehrere Verweise und die Versetzung auf eine andere Schule, nachdem auch sie ihre Konflikte lieber mit den Fäusten austrug als mit Worten. Die Wünsche ihrer Mutter Selma, das Mädchen möge mehr nach ihr selbst kommen, gingen nie in Erfüllung.

25 JAHRE SPÄTER – FREITAG, 15. OKTOBER 2010

Die Bewährungshilfe saß in einem schlichten, mausgrauen Verwaltungsgebäude mitten in der Stadt, das dem Landgericht angegliedert war. Ein heftiger Wind peitschte um das Gebäude und trieb abgerissene Äste, Plastiktüten und zerschlissene Tageszeitungen durch die Straßen.

Die Nachrichten vermeldeten einen Jahrhundertsturm, der vergangene Nacht enorme Schäden angerichtet hatte. Das öffentliche Nahverkehrssystem war gänzlich zusammengebrochen. Schräg stehende Autos und umgekippte Busse waren immer noch stumme Zeugen der Naturgewalten. Mehrere Menschen starben durch umstürzende Bäume und Strommasten und zahlreiche wurden durch umherfliegende Gegenstände verletzt. Der Sachschaden ging in Millionenhöhe.

Marie Stresemann hatte kaum Notiz von den Nachrichten genommen. Sie hatte sich nur geärgert, dass sie eine kleine Ewigkeit auf die S-Bahn gewartet hatte. Mit anderen Menschen in einer geschlossenen Metallröhre eingesperrt zu sein, war ihr ein Gräuel. Sie hatte schon Probleme damit, wenn Gesprächspartner nicht die nötige Distanz einhielten und ihr zu dicht auf die Pelle rückten. Sie wusste, dass die meisten Menschen am Arbeitsplatz oder bei Freunden einen Abstand von circa 1,2 Metern als angenehm empfanden. Sie selbst kosteten bereits 1,2 Meter enorme Überwindung und Selbstbeherrschung. Der anschließenden Fahrt in einem zum Bersten gefüllten und überhitzten Bus war sie aber nicht gewachsen. Schweißgebadet quetschte sie sich durch die Fahrgäste ins Freie, atmete tief ein und genoss den stürmischen Wind, der ihre kurzen dunklen Haare zerzauste. Sie trug einen Trenchcoat, unter dem ein schwarzer Rollkragenpullover hervorsah, dazu eine enge Jeans und bequeme Turnschuhe. Genau die richtigen Schuhe um die letzten eineinhalb Kilometer zu Fuß zu laufen.

Und dabei sollte heute ihr großer Tag werden.

Nach dem Studium, einem Anerkennungsjahr und einer erfolgreich abgeschlossenen Probezeit war sie vor zwei Jahren mit der Vergütungsklasse A9 verbeamtet und hierher versetzt worden. Ihr Gehalt war, verglichen mit dem ehemaliger Studienkolleginnen in der freien Industrie, eine, wie sie es gerne ausdrückte, »echte Herausforderung«.

Ihr Chef hatte beschlossen, ihr mit nur neunundzwanzig Jahren die Position eines im Krankenstand befindlichen Kollegen zu übertragen, dessen Klienten nicht nur Bagatelldelikte und kleine Verbrechen begangen hatten, sondern zur Klasse der Schwerverbrecher zählten und zur Betreuungsgruppe III und IV der sogenannten »Dittmannliste«, einer Kriterienliste aus der Forensik, gehörten. Betreuungsgruppe III und IV bedeutete »hohes Rückfallrisiko bezogen auf die direkte Gefahr für Leib und Leben Dritter«.

Bezahlt hatte ihr Vorgänger diese anspruchsvolle Aufgabe mit einem Schädelbasisbruch und künstlichem Koma, als er eines seiner besserungsresistenten Schäfchen wieder der Haftvollzugsanstalt überstellen wollte. Die »risikoorientierte Intervention«, so der Fachjargon, war gescheitert.

Die meisten ihrer älteren Kollegen zweifelten diese Personalentscheidung eindeutig an, doch ihr Chef hatte die Entwicklung der jungen Frau aufmerksam verfolgt und war erstaunt gewesen, wie stark und selbstbewusst sie ihre Klienten wieder auf die richtige Bahn brachte. Ihre Erfolgsquote war überdurchschnittlich. Er fand, es war an der Zeit, ihr anspruchsvollere Aufgaben zu übergeben.

Einer dieser anspruchsvollen Fälle der Betreuungsgruppe IV war ein bekennender Neonazi. Er sollte am Morgen zum Erstgespräch in der Behörde erscheinen. Das war ungefähr so, als wenn ein junger Chirurg seine erste eigene OP durchführte oder der Co-Pilot endlich zum Piloten wurde. Je komplizierter die Operation oder je mächtiger der Flieger, umso größer die Aufregung.

Marie Stresemann hatte sich gut vorbereitet, die meisten Fakten kannte sie inzwischen auswendig: Karl Rieger, vierunddreißig Jahre alt, geboren in Anklam, Mecklenburg-Vorpommern, Vater Stasi-Vergangenheit. 1992, im Alter von sechzehn Jahren, wurde er erstmals aktenkundig bei Brandanschlägen auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen. Karl Rieger wurde damals als Mitläufer eingestuft, nach kurzem Aufenthalt in Untersuchungshaft aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Der hochbegabte Sohn aus akademischem Elternhaus siedelte mit zweiundzwanzig nach München um und studierte dort an der Ludwig-Maximilians-Universität Geschichte. Eine schwere Körperverletzung an einem dunkelhäutigen Kommilitonen sowie seine nicht autorisierte Diplomarbeit mit dem Titel »Studien und Beweisführung zur Belegung der Holocaust-Lüge« führten zur Exmatrikulation.

Nach seinem Ausschluss übernahm er die Leitung der »Kameradschaft Süd«, der größten Neonazi-Organisation in Bayern, und war laut Staatsanwaltschaft mutmaßlich an einem Bombenattentat zur Grundsteinlegung des geplanten jüdischen Kulturzentrums in München beteiligt. Dies konnte ihm aber nie zweifelsfrei nachgewiesen werden. Er zog schließlich zurück in den Osten, in die Stadt, in der er wegen Erpressung und schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, nun aber bereits nach fünfzehn Monaten unter »Führungsaufsicht« – und damit war Marie gemeint – auf Bewährung freikam.

Ja, das war es, wofür sie gebüffelt und studiert hatte, das war genau die Herausforderung, auf die sie seit Jahren wartete. Und nun kam sie eine halbe Stunde zu spät.

Murat Demirs äußeres Erscheinungsbild entsprach in gewisser Weise einer Uniformität, mit der sich Sozialpädagogen gerne zu erkennen gaben.

Seine langen Haare bedeckten den Kopf nur noch an wenigen Stellen und waren zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine schmale, abgegriffene Lesebrille baumelte über einem rot-weiß karierten Baumwollhemd, das in einer dunkelbraunen, abgewetzten Cordhose steckte. Seine Laufschuhe hatten auch schon bessere Tage gesehen. Die Nikotinflecken an seinen Fingern, die wild wuchernden Bartstoppel und die schwarzen Haare, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen, all das passte in das Bild eines berufserfahrenen Streetworkers. Nur eines widersprach diesem Klischee: Murat Demir hatte einen äußerst gut trainierten Körper, und der kam nicht vom Laufen, einem Sport, dem viele seiner Kollegen frönten. Laufen war nicht das, was ihm in kritischen Situationen auf der Straße weiterhalf – und die Straße war sein Arbeitsplatz.

Murat Demir trainierte regelmäßig und ausgiebig Jiu Jitsu, eine waffenlose Technik zur Selbstverteidigung. Es war genau diese Mischung aus sozialpädagogischem Anstrich und körperlicher Präsenz, die ihn auf der Straße Erfolg verschafft hatte. Seine Klienten schätzten ihn nicht nur, sie respektierten ihn auch.

Sicher lag das auch daran, dass Murat nur bis zu einem gewissen Grad mit salbungsvoller Stimmlage auf die Kraft der Rhetorik setzte. Reizte man ihn zu sehr, ging sein Temperament mit ihm durch, was ihm schon zwei disziplinäre Verwarnungen eingebracht hatte. Dennoch schätzten ihn auch seine Vorgesetzten, denn kaum einer hatte bei den »Härtefällen« so viel Erfolg wie Murat. Entsprechend groß war auch sein Ego, das er gerne im Amt zur Schau stellte.

Dass eine Anfängerin einen so brisanten Fall wie einen unverbesserlichen Neonazi zugewiesen bekommen hatte, nagte schwer an diesem Selbstwertgefühl. Noch dazu war sie nun fast eine halbe Stunde zu spät. Der »Fall« war zwar auch noch nicht eingetroffen, aber die erste Regel lautete: Pünktlichkeit. Nur wer ein gutes Vorbild war, hatte die Chance, irgendwann seine Klienten auf den Weg der Besserung zu lotsen.

Wütend stand Murat in Stresemanns leerem Büro. Er war gekommen, um ihr wertvolle Ratschläge im Umgang mit Rechtsradikalen zu geben, aber umsonst. Aus seiner Gesäßtasche holte er ein altes Nokia-Handy und wählte ihre Nummer, aber niemand hob ab, nicht mal ein Anrufbeantworter. Regel Nummer zwei: »Sei immer erreichbar, oder gib deinen Klienten die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.«

O Gott, was hatte sich der Chef nur dabei gedacht. Das war wieder mal typisch für diesen Sesselfurzer, der keine Ahnung davon hatte, wie das Leben auf der Straße wirklich war.

Sein Blick fiel auf eine Mappe, die mitten auf Stresemanns Schreibtisch lag. Er biss sich auf die Lippen, zögerte aber nur kurz, dann nahm er die Mappe an sich. Wie vermutet, war es die Akte des Neonazis. In diesem Augenblick läutete Stresemanns Telefon. Murat hob ab.

»Apparat Stresemann!«

»Hier ist der Empfang, der Besuch von Frau Stresemann ist da.«

»Schicken Sie ihn in Besprechungsraum drei, ich gebe Frau Stresemann Bescheid.«

Murat legte den Hörer auf und sah noch mal auf die Uhr.

Wer zu spät komm, den bestraft das Leben. Lächelnd machte er sich mit Karl Riegers Akte auf den Weg.

Marie Stresemann hetzte den Gang entlang. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, als sie um eine Ecke bog und frontal mit Murat Demir zusammenstieß – ausgerechnet dem größten Kotzbrocken, den man sich als Kollegen nur vorstellen konnte. Blitzschnell reagierte Murat und verhinderte, dass Marie zu Boden stürzte. Er packte sie mit festem Griff am Oberarm, wobei die Akte in seiner Hand auf den Boden fiel.

Heilfroh, der Peinlichkeit entgangen zu sein, lang gestreckt vor Murat auf dem Boden zu liegen, erkannte sie sofort die Mappe, nach der sich Murat bückte.

»Ist das die Akte Rieger aus meinem Büro?«

Murat fühlte sich ertappt, überspielte aber die Szene.

»Da, wo ich herkomme, begrüßt man sich erst einmal. Guten Morgen, Frau Stresemann!«

Marie war in Fahrt und hatte keinen Nerv, auf Murats Spielchen einzugehen.

»Sie waren einfach in meinem Büro und haben sich die Akte von meinem Schreibtisch genommen?«

Dabei schüttelte sie verständnislos den Kopf und streckte den Arm nach der Mappe aus.

»Geben Sie sie mir!«

»Liebe Kollegin«, sagte Murat süffisant, »Sie sind nicht nur eine halbe Stunde zu spät, Sie haben auch nicht die geringste Ahnung, worauf Sie sich da einlassen.«

»Geben Sie mir die Akte!«, wiederholte sie laut und versuchte, ihm mit einem schnellen Griff die Akte zu entreißen. Das überraschte Murat so sehr, dass er nachgab und die Akte mit einem Ruck in Maries Armen landete.

Chapeau, dachte er. Kein anderer Kollege hätte es gewagt, ihn physisch zu bedrängen. Vielleicht hatte er sich in Marie Stresemann geirrt.

»Es tut mir leid, ok?«

Doch Marie reagierte nicht darauf, sondern setzte ihren Weg in großen Schritten fort, während ihr Murat folgte.

»Hey!«, rief er ihr nach. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag: Ich setze mich mit dazu. Ich weiß, wie man diese Typen behandeln muss, damit sie einen überhaupt wahrnehmen. Glauben Sie mir! Sie werden noch heilfroh sein, dass ich Ihnen meine Hilfe anbiete.«

Marie erreichte schließlich Besprechungsraum drei. Kurz drehte sie sich noch mal zu Murat um.

»Ich brauche keine Hilfe, also lassen Sie mich meinen Job machen und kümmern Sie sich um Ihre eigenen Fälle!«

Mit diesen Worten wandte sie sich von Murat ab, verschwand in dem Raum und schloss geräuschvoll die Tür hinter sich. Murat Demir war wirklich überrascht, und das kam nicht oft vor. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder fing, tief durchatmete und beschloss, dem Gespräch im Nebenraum über eine Abhörvorrichtung zu folgen. Das war zwar ohne Einverständnis des Gesprächsleiters illegal, aber das juckte Murat Demir nicht.

Marie Stresemann musterte den kahlköpfigen Mann, der lässig nach hinten gelehnt an einem hellgrauen Tisch saß, der schon bessere Tage gesehen hatte. Brandflecken und Kratzer markierten vor allem die Besucherseite des Tisches, an der Karl Rieger saß. Er trug eine Kombination aus Lederjacke, Jeans und Springerstiefeln. Eigentlich ein attraktiver Kerl, dachte Marie, wären da nicht die abrasierten Haare und seine menschenverachtende Gesinnung. Sie empfand Abscheu für ihn und seine Geschichte, wollte sich dies aber auf keinen Fall anmerken lassen. Ihr Ziel war es schließlich, ihn zu resozialisieren, ihn wieder zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft werden zu lassen.

Marie brachte mit drei großen Schritten den grauen Tisch zwischen sich und ihren Besucher, dann setzte sie ein künstliches Lächeln auf und stellte sich vor.

»Hallo, Herr Rieger. Mein Name ist Marie Stresemann. Ich bin Ihre Bewährungshelferin.«

Dabei schob sie ihm ihre Visitenkarte zu, und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen, doch Rieger missachtete die Geste und behielt seine Hände in den Hosentaschen. Er hatte nicht erwartet, dass ihm eine Frau zugeteilt wurde, noch dazu eine junge Frau. Seine Überraschung konnte er nicht verbergen.

»Sie?«

»Wo liegt das Problem?«

»Kein Problem, kein Problem, echt nicht.«

Marie legte die Akte auf den Tisch, zog ihre Jacke aus und nahm gegenüber von Karl Rieger Platz. Während sie in der Akte blätterte, sagte sie: »Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis.«

Karl atmete tief durch, richtete sich leicht auf und brachte aus der Jackeninnentasche einen schwarzen, abgegriffenen Geldbeutel hervor, den leicht verbogene, silberne SS-Runen mit einem Totenkopf zierten.

Marie hatte das gesuchte Formular in der Akte gefunden und sah auf. Ihr Blick fiel auf den Geldbeutel. Unweigerlich schoss ihr der Paragraf 86 des Strafgesetzbuches durch den Kopf: »Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer im Inland Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation verwendet oder verbreitet.«

Karl schnippte seinen Personalausweis über den Tisch, der auf ihrer Akte landete, sich dort überschlug und beinahe vom Tisch geflogen wäre, hätte ihn Marie nicht mit einer raschen Handbewegung aufgefangen.

Karl grinste sie an, wurde aber etwas verlegen, als ihr Blick streng auf dem SS-Abzeichen ruhte.

»Sorry, hatte ich ganz vergessen.« Er legte die Hand darüber. »Ist ein Geschenk gewesen. Kommt nicht wieder vor.«

»Ja, kommt nicht wieder vor, denn Sie geben mir augenblicklich dieses abscheuliche Ding, oder unser Treffen ist beendet.«

Ihr Blick blieb dabei kalt und hart.

»Ist nicht Ihr Ernst, oder?«

Karl hielt dem Blick stand.

Marie wartete ein paar Sekunden, dann beendete sie den unsichtbaren Kampf, schloss die Akte mit einem lauten Knall und machte Anstalten zu gehen.

»Hey! Was wird das? Ist doch nur ein Stück Metall.«

Langsam stand sie auf und nahm ihre Jacke von der Lehne.

»Ich pack das Ding weg, kommen Sie …«

Marie schlüpfte in ihre Lederjacke, ohne einen Ton zu sagen.

»Okay, okay! Sie wollen das Scheißding, Sie kriegen es. Hier!«

Wütend riss er die Plakette vom Geldbeutel und schleuderte sie über den Tisch. Diesmal hinderte Marie das Teil nicht daran, auf den Boden zu scheppern, wo es unbeachtet liegenblieb.

Langsam zog sie ihre Lederjacke wieder aus und setzte sich.

»Es gibt ein paar Grundregeln hier und eine ist: Sie werden keine Straftaten mehr begehen. Die offene Zurschaustellung von Hakenkreuzen und SS-Abzeichen ist aber eine Straftat.«

Karl stand ruckartig auf und zog wütend seine Jacke aus, so dass Marie es kurz mit der Angst zu tun bekam und unweigerlich an ihren im Koma liegenden Vorgänger denken musste.

»Was für ein Scheiß. Und was ist damit?«

Er warf seine Jacke auf den Boden und reckte ihr mit geballten Fäusten seine beiden Unterarme hin, auf denen die SS-Runen und die Zahl 88 tätowiert war – 88 für »HH«.

»Soll ich mir die Haut abziehen lassen, bloß weil Sie ein Problem damit haben?«

Maries Puls war deutlich schneller geworden, aber sie versuchte nach außen weiterhin ganz ruhig zu wirken.

»Setzen Sie sich!«

Karl schluckte seine Wut hinunter, biss die Zähne aufeinander und grinste sie wieder an. Dann setzte er sich und verschränkte die Hände, indem er sich nach vorne beugte und sich auf die Unterarme lehnte. Es hatte fast den Anschein, als würde er beten.

Marie klappte die Akte wieder auf und verglich den Ausweis mit den Daten in der Mappe.

»Stresemann, ist das jiddisch?«, durchbrach Karl die Stille. Irritiert sah sie ihn an.

»Wie bitte?«

»Ist doch eine ganz simple Frage, oder. Ist das jiddisch? Ihr Nachname?«

»Am besten Sie googeln, ich weiß es nicht«, log Marie und versuchte, sich wieder der Akte zuzuwenden, aber Karl ließ nicht locker.

»Sie wissen nicht, ob Sie jüdisch sind?«

Wieder blickte sie nach oben.

»Sie werden es nicht glauben, aber nicht alle Menschen machen um ihre Abstammung so ein Aufhebens wie Sie und Ihre sogenannten Kameraden.«

Sie hatte den letzten Zahlenabgleich endlich beendet, schob ihm den Ausweis wieder zu und machte mit einem Stift noch eine Notiz, dann stellte sie klar: »Herr Rieger, ich bin nicht Ihre Sozialhelferin oder Ihre Kummertante. Mein Job ist es, Sie mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Mein Job ist es außerdem zu beurteilen, ob das möglich ist. Das geht nicht ohne Ihre Hilfe. Wenn wir beide also versagen, weist man mir nur einen neuen Fall zu, Sie aber wandern wieder ins Gefängnis. War das deutlich genug für Sie?«

Karl nickte, nahm seinen Ausweis und die Visitenkarte, die immer noch vor ihm lag, und verstaute beides in seinem lädierten Geldbeutel.

»Sie müssen tun, was Sie tun müssen. Und ich muss tun, was ich tun muss.«

Marie Stresemann klopfte nervös mit ihrem Stift auf die Tischplatte.

»Zunächst müssen Sie sich vor allem von Ihren rechten Kameraden fern halten. Bereits der fernmündliche Kontakt …«

Karl lachte abfällig. »Der was?«

»Ein Telefonat. Bereits ein Telefonat mit Zugehörigen zur rechtsradikalen Szene wäre ein schwerer Verstoß gegen Ihre Bewährungsauflagen und …«

»Ich kenne meine Bewährungsauflagen, also können wir das nicht abkürzen?«

Marie Stresemann versuchte weiterhin entspannt zu wirken und lehnte sich langsam zurück.

»Wir brauchen einen Job für Sie. In Ihren Akten steht, Sie haben Abitur und danach sechs Semester Geschichte studiert. Während der Zeit haben Sie Ihr Geld als Taxifahrer verdient. Wäre das nichts für den Anfang?«

»Kein Problem, aber ich fahre keine Türken, Homos und Juden. Den Gestank bekommt man so schwer aus dem Wagen«, provozierte er und grinste ihr ins Gesicht.

Das reichte. Marie war kurz davor, aus der Haut zu fahren. Eine saftige Ohrfeige war das Mindeste, wonach ihr der Sinn stand. Aber sie hatte sich im Griff, wollte nicht schon beim allerersten Gespräch versagen und legte sich eine passende Antwort zurecht, als die Tür zum Besprechungsraum aufgerissen wurde.

Murat Demir stürzte sich wie ein Berserker auf Karl Rieger, riss ihn mit seinen kräftigen Pranken vom Stuhl hoch und presste ihn an die Wand. Das alles ging so schnell, dass Marie nicht die geringste Chance hatte einzugreifen.

»Jetzt hör mir mal ganz genau zu, du braunes Stück Scheiße«, schrie Murat dem Neonazi ins Gesicht, dem der Schreck in die Knochen gefahren war. »Noch eine solche Bemerkung und …«

Marie sprang auf und eilte um den Tisch herum.

»Hören Sie auf! Hören Sie sofort auf damit!«

Aber Murat ignorierte sie.

»… und ich schwöre dir, du bekommst direkt ein Blaulichttaxi von hier zurück in den Knast.«

»Lassen Sie ihn auf der Stelle los. Auf der Stelle!«, schrie sie Murat an.

Endlich ließ Murat von Karl ab, blieb aber ganz nah vor ihm stehen und starrte ihm in die Augen. Karl hatte sich mittlerweile gefasst.

»Rüzgâr eken fırtına biçer«, sagte Rieger ganz ruhig.

Noch bevor Murat etwas erwidern konnte, schob sich Marie zwischen die beiden Kontrahenten und drückte sie auseinander.

»Schluss jetzt!« Sie wandte sich Murat zu. »Sie verlassen auf der Stelle diesen Raum.«

Doch Murat war noch nicht fertig mit Karl Rieger.

»Du hältst dich wohl für ganz schlau, aber von jetzt an häng ich dir wie eine Klette am Arsch. Hörst du …«

Für eine so zierliche Frau hatte Marie Stresemann erstaunlich viel Kraft und schob Murat Demir langsam auf die offene Tür zu.

Murat hob dabei beide Hände, als würde er sich ergeben, während er rückwärts auf den Gang hinausgedrängt wurde.

»Ich gehe. Ich gehe ja schon. Ich bin ganz ruhig, alles okay. Alles okay, aber Sie sollten diesem Nazi klarmachen, wer hier die Hosen anhat.«

Die beiden waren inzwischen im Flur angekommen. Maries Ton war ruhiger geworden.

»Sie sind mir ein großes Vorbild. Toll, wie Sie das eben gemacht haben, wirklich. Ich wünschte, ich hätte Ihre Erfahrung. Ganz große Klasse!«, sagte sie sarkastisch, und ihre Augen funkelten wütend.

»Ich warte hier!«, beharrte Murat.

»Nein, tun Sie nicht. Sie gehen jetzt in Ihr Büro, oder ich melde den Vorfall der Dienststelle.«

Murat hatte genug Menschenkenntnis, um festzustellen, dass es sich dabei nicht um eine leere Drohung handelte.

Trotzdem wollte er noch ein letztes Mal an ihre Vernunft appellieren.

»Sie machen das falsch, Sie …« Doch weiter kam er nicht.

Mit einem lauten Knall schloss sich die Tür vor seiner Nase.

Murat überlegte, ob er erneut in den Nebenraum gehen und das Gespräch verfolgen sollte, aber er entschied sich dagegen. Sollte sie sich doch die Zähne an diesem Kerl ausbeißen. Er würde sie jedenfalls nicht im Krankenhaus besuchen. Fluchend machte er sich auf den Weg in sein Büro.

»Setzen sie sich!«, forderte Marie Rieger auf, der dabei war, sein schwarzes Hemd in die Hose zu stopfen, und Marie ignorierte.

Sie nahm wieder Platz und wartete geduldig, bis Rieger fertig war. Mit freundlicherem Ton bat sie ihn erneut, sich hinzusetzen. Diesmal reagierte er. Sein Blick war jetzt weit weniger arrogant, sein süffisantes Lächeln verschwunden. Vielleicht hatte Murats Aktion ja dazu beigetragen, dass das Gespräch von nun an besser verlief.

»Was haben Sie zu ihm gesagt?«

»Was meinen Sie?«

»Sie haben türkisch mit ihm gesprochen. Sie sprechen türkisch?«

»Ein paar Brocken. Habe ich im Knast gelernt. Hilft dir, wenn du nicht jeden Tag eins in die Fresse kriegen willst.«

»Also, was haben Sie zu ihm gesagt?«

»Ist ein türkisches Sprichwort.«

»Und weiter?«

»Auf Deutsch heißt es: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.«

Marie hatte eher mit einer Beleidigung gerechnet.

»Erklären Sie mir, wie ein so intelligenter junger Mann wie Sie eine so menschenverachtende Ideologie annehmen konnte.«

Gott, was für ein Anfängerfehler.

»Vergessen Sie die Frage!«

Doch zu spät. Eine solche Vorlage ließ sich Rieger nicht entgehen: »Nein, nein. Die Frage ist gut. Sie müssen nur den Blickwinkel wechseln. Aus meiner Sicht sind nur die arischen Völker Menschen. Wie also kann meine Ideologie menschenverachtend sein?«

Das saß! Für einen Augenblick hatte sie sich falschen Hoffnungen hingegeben. Wie naiv sie doch war. Vielleicht hatte Murat recht, vielleicht war sie noch nicht reif für einen solchen Fall.

Sie schüttelte den Kopf und winkte ab, um deutlich zu machen, dass sie sich auf keine Diskussion einlassen wollte. Hilfesuchend hielt sie sich an der Akte fest und versuchte, von nun an das erlernte Protokoll einzuhalten: Familie. Die Familie war wichtig für eine erfolgreiche Eingliederung. Sie konnte einem nicht nur eine soziale, sondern, laut ihren Akten, in Riegers Fall auch eine finanzielle Stütze sein.

»Lassen Sie uns über Ihre Familie reden. Hier steht, Sie haben keine Geschwister und Ihre Eltern leben nach wie vor in Anklam, Mecklenburg-Vorpommern. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?«

»Ich habe keine Eltern mehr. Meine Familie ist die Bewegung«, erwiderte Karl sachlich.

»Hier steht außerdem, Sie hätten während ihres Gefängnisaufenthalts mehrmals Besuch gehabt von dem dreizehnjährigen Gymnasiasten Thomas Worch. In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesem Jungen?«

Die Erwähnung von Thomas’ Namen machte Karl Rieger unruhig.

»Das geht Sie nicht das Geringste an.«

Marie witterte eine Chance, Karl Rieger aus der Reserve zu locken.

»Doch, tut es sehr wohl. Jeder Ihrer sozialen Kontakte muss von mir überprüft und beurteilt werden. Wie also ist Ihre Beziehung zu diesem … Minderjährigen?«

»Sie bewegen sich auf sehr dünnem Eis, Frau Stresemann.« Nervös begann er mit den Fingernägeln auf der Tischplatte zu trommeln. »Wenn Sie irgendeine Homo-Kiste andeuten wollen …«

Marie unterbrach ihn schroff.

»Ich tue, was ich tun muss, und Sie tun, was Sie tun müssen.«

Sie hatte das Gefühl, langsam die Oberhand zu gewinnen und merkte, wie Rieger mit sich rang. Das Trommeln seiner Finger auf dem Tisch wurde schneller und endete plötzlich abrupt.

»Thomas ist für mich wie ein Bruder. Ich bin der Einzige, der ihn versteht, der Einzige, der sich wirklich um ihn kümmert. Wenn’s irgendwie geht, ist er bei mir und nicht bei seiner Scheiß-Mutter.«

»Soweit ich hier sehe, kommt Thomas aus gutem Elternhaus. Wo liegt das Problem?«

Karl lachte bitter auf.

»Seine Eltern? Die sind geschieden, sein Scheiß-Vater hat ihn seit der Scheidung kein einziges Mal gesehen, hat sogar vor Gericht erreicht, dass er sich ihm nicht nähern darf, und seine Mutter ist eine Hure, die es jede Woche mit einem anderen Kanaken treibt.«

»Warum hat er keine gleichaltrigen Freunde?«, hakte Marie nach und versetzte ihm nun ganz bewusst einen Stich, indem sie die nächste Frage langsam auf der Zunge zergehen ließ: »Warum lässt er sich mit Ihnen ein?«

Augenblicklich fuhr Rieger aus der Haut.

»Sie haben doch keine Ahnung! Sie sitzen hier in Ihrer kleinen, heilen Welt, haben sich die Dinge zurechtgerückt, wie Sie sie brauchen, und denken, Sie haben den Durchblick. Einen Scheiß haben Sie!«

Nun war es an Marie, ein süffisantes Lächeln aufzusetzen.

»Dann erklären Sie es mir.«

Karl zerrte wütend das gelbe, zusammengefaltete Flugblatt, das er Thomas abgenommen hatte, aus seiner Tasche und warf es Marie gegen die Brust.

»Das hier ist die Scheißwelt, in der wir leben.«

Neugierig entfaltete Marie den gelben Zettel und überflog ihn, während Karl seinem Zorn weiter freien Lauf ließ.

»Wenn seine Mutter auch nur einen Funken Liebe für ihren Sohn hätte, würde sie diesem Dreck in der Nachbarschaft den Krieg erklären und sich Respekt verschaffen. Aber selbst wenn diese Hure den Mumm hätte, das zu tun, hätte dieser Abschaum die Polizei auf seiner Seite. Die stecken nämlich alle unter einer Decke. Und dann, dann würden sie Thomas in irgendein Heim stecken, wo er hilflos irgendwelchen Arschfickern ausgeliefert wäre. So läuft das. Ein scheiß System ist das, ein scheiß System!« Resigniert wiederholte er sein Fazit fast flüsternd ein weiteres Mal: »Ein scheiß System.«

Nur langsam beruhigte er sich. Sein Atem ging immer noch schnell und seine Gesichtsmuskeln zuckten leicht. Marie hatte inzwischen das Flugblatt gelesen.

»Darf ich das behalten?«

»Von mir aus tapezieren Sie sich das Klo damit.«

Marie glaubte, Karl Rieger an einem Punkt zu haben, an dem er zuhören würde. Der Schlüssel zum Erfolg lag ihrer Meinung nach eindeutig bei seinen Gefühlen für diesen Jungen. Also versuchte sie es: »Ich kann Thomas helfen.«

Karl lachte laut auf, und sie wusste sofort, dass sie diesen Trumpf viel zu früh ausgespielt hatte.

»Sie? Na klar, Sie schicken ein paar verständnisvolle Briefe, vielleicht rufen Sie auch mal an. Super. Sie sind so naiv, aber keine Sorge, ich löse das Problem. Verlassen Sie sich drauf!«, blaffte er sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Vielleicht war es die Wut auf sich selbst, vielleicht war es aber auch die Wut auf diesen impulsiven, unkontrollierbaren Neonazi, dessen Zukunft sie bereits jetzt in Schutt und Asche liegen sah, die auch sie wieder laut werden ließ.

»Hören Sie sich eigentlich manchmal selbst zu? Wer ist jetzt hier naiv? Sie lösen das?« Dabei zeigte sie wütend mit dem Finger auf ihn. »Was nützen Sie denn diesem Jungen, wenn Sie wieder eingesperrt werden? Darf er Sie dann wieder jahrelang im Gefängnis besuchen? Große Klasse, Ihr Plan, ganz große Klasse!«

Schweigend saßen sich gegenüber. Sie hatten sich festgefahren. Marie hatte das Gefühl, das ganze Treffen war ein Fiasko gewesen. Sie hatte es sich vollkommen anders vorgestellt, wollte einfühlsam und verständnisvoll sein, wollte mit geschulter, psychologischer Raffinesse die Kontrolle behalten und schließlich den Klienten für sich gewinnen. Ja, sie wollte mit hoch erhobenem Haupt aus diesem Treffen schreiten. Mit der Gewissheit, die Welt verbessern zu können. Stattdessen hatte sie komplett versagt.

Marie musste erst einmal ihre Kräfte sammeln und eine neue Strategie entwickeln. Sie brauchte Distanz. Distanz zu diesem – sie getraute es sich kaum einzugestehen – widerlichen Kotzbrocken.

»Wir beenden das jetzt, es gibt hier nämlich Menschen, die meine Hilfe annehmen, und offensichtlich gehören Sie nicht dazu.«

»Wow!« Karl Rieger war überrascht. Eigentlich hatte er gerade damit begonnen, diese Stresemann irgendwie zu schätzen. Sie war anders, nicht so wie dieser Türke oder die Sozialarbeiter aus dem Knast. Die hier war irgendwie ehrlich.

Fast enttäuscht sagte er: »Heißt das, ich kann gehen?«

»Das heißt, dass Sie am Montag um zehn Uhr hier wieder auf der Matte stehen. Das heißt, ich besorge Ihnen einen Job. Und das heißt, wenn ich auch nur einen Hauch davon mitbekomme, dass Sie gegen Ihre Auflagen verstoßen, werde ich keine Sekunde zögern, Sie wieder in Verwahrung nehmen zu lassen. Sie finden den Ausgang.«

Marie Stresemann drehte sich nicht mehr um, als sie den Besprechungsraum verließ. Sie wollte nur noch weg.

Karl stand langsam auf und sah ihr nach, wie sie am Ende des langen Korridors um eine Ecke verschwand. Wütend schlug er mit voller Wucht auf die offene Holztür. Ein lauter Knall hallte durch die Gänge.

»Scheiße«, murmelte Karl und stellte damit sein ganzes Leben infrage.

Turmschatten

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