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PROLOG DER TURM I

MONTAG, 8. JANUAR 1945

Es war kurz nach Mitternacht. Ein auf- und abschwellender Signalton zerriss die Stille der abgedunkelten, deutschen Großstadt. Nur acht Kilometer östlich vom Stadtzentrum standen nahe eines Moosfeldes wenige Häuser, gruppiert um eine kleine Kirche, deren Glocken jetzt ebenfalls Alarm schlugen und den bevorstehenden Bombenangriff einläuteten. Die Bombenangriffe galten bisher immer nur der Innenstadt, aber was waren schon acht Kilometer? Erst am Tag zuvor war einer der britischen Bomber im Wald abgestürzt und in einer riesigen Explosion in Flammen aufgegangen. Bomben hatten die angrenzenden Felder verwüstet, einen großen Bauernhof mit all seinem noch verbliebenen Viehbestand mit einem Schlag vernichtet und das tief gefrorene Ackerland in eine unwirtliche Kraterlandschaft verwandelt. Am nächsten Tag fand man eine einzige Kuh, die in der Mitte eines Bombenkraters stand und brüllend versuchte, die steile Anhöhe zu erklimmen. Ihre Artgenossen waren, angekettet im Stall, der Feuersbrunst zum Opfer gefallen.

So fürchterlich diese Bombenangriffe auch waren, so sehr gehörten sie inzwischen zur schaurigen Routine der Stadtbewohner. Die langen Abstände zwischen den Angriffen halfen dabei, das Grauen zu verarbeiten und den Unverbesserlichen wieder Hoffnung auf den Endsieg zu geben. Zwischen Juli und Dezember 1944 hatte man die Stadt gänzlich verschont. Die Strategen des »Moral Bombing« schickten die Luftflotten zur Unterstützung der nahenden Front monatelang zu Städten im Norden und Westen. Doch nun waren die Bombergeschwader zurückgekehrt, mit dem Ziel, die Moral der Stadtbevölkerung mit Gewalt zu brechen. Die Abstände zwischen den nächtlichen Angriffen waren kürzer geworden, doch zwei Angriffe hintereinander, in einer Nacht, das hatten selbst die leidgeplagten Bewohner dieses Dorfes noch nie erlebt.

Als die Sirenen in dieser Nacht zum zweiten Mal heulten, waren die Bewohner gerade wieder erschöpft in ihre Häuser zurückgekehrt. Eine Brandbombe hatte im Dorfzentrum das Haus der Familie Engelhard getroffen. Die Bombe krachte durch die Dachziegel, durchschlug die Böden von zwei Stockwerken und explodierte im Wohnzimmer. Fünf Hausbewohner, eine junge Frau, ihre Eltern und ihre zwei Kinder, hatten zu diesem Zeitpunkt im Keller Schutz gesucht und die Explosion überlebt. Doch dann fegte ein Feuersturm über sie hinweg, der ihnen die Luft zum Atmen raubte.

Ein angrenzendes Haus brannte ebenfalls lichterloh und konnte erst nach zwei Stunden in gemeinsamer Anstrengung aller Dorfbewohner gelöscht werden. Es dauerte eine weitere Stunde, bis man die Trümmer weit genug abgetragen hatte, um in den Keller der Familie Engelhard zu gelangen.

Im Licht der Taschenlampen fand man schließlich die zusammengekauerte Familie. Sie alle waren jämmerlich erstickt.

Im fernen Flammenschein der Innenstadt trug man die fünf Leichen in die nahegelegene Kirche, die beim Angriff unversehrt geblieben war. Dort legte man sie im Kirchenschiff auf dem eiskalten Steinboden ab und hüllte sie in Armeedecken, auf denen höhnisch das Hakenkreuz prangte. Die Beerdigung sollte am nächsten Morgen stattfinden.

Die Tragödie der Familie Engelhard führte dazu, dass kaum einer der Dorfbewohner mehr glaubte, im eigenen Keller sicher zu sein. Alle Hoffnung auf Überleben richtete sich von da an auf den Turm.

Der achteckige Turm stand am Rande des Dorfes und überragte mit seiner mittelalterlich anmutenden Kuppel sogar die Spitze der Kirche, was den Dorfpfarrer seit jeher störte. Der mächtige Turm war breit und massiv gebaut und hatte bereits einen Bombentreffer ohne nennenswerten Schaden überstanden. Aber das Privileg, während eines Bombenangriffs im Turm unterzukommen, war genau reglementiert. Ausgewählte Dorfbewohner, darunter alle Parteimitglieder, hatten einen Sonderausweis für Schutzsuchende erhalten, der ihnen gestattete, im Notfall den Turm aufzusuchen. Der Eingang des Turms wurde vom Ortsvorstand der NSDAP streng kontrolliert. Wolfgang Danner besaß zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Dienstwaffe und drohte, jeden zu erschießen, der ohne Sonderausweis versuchte, den Turm zu betreten. Danner neigte trotz der kargen Kriegsjahre zu starker Fettleibigkeit. Er war erst Mitte vierzig, doch dank seiner politischen Beziehungen als »nicht kriegsdienstverwendungsfähig« eingestuft worden. Stattdessen durfte er an der Heimatfront Wach- und Sicherungsaufgaben übernehmen.

Da mit Erlass des »Volkssturms« im Oktober 1944 der Kreis der wehrfähigen Männer auf die Jahrgänge 1884 bis 1924 erweitert worden war, fand er sich unter Frauen, Kindern und Greisen wieder. Es war niemand mehr da, der ihm seine Macht hätte streitig machen können – und trotz all der Zerstörung und des täglichen Grauens war jene Zeit für Wolfgang Danner die bis dahin schönste in seinem Leben. Er war wer! Man respektierte ihn! Oder zumindest tat man so. Wenn er in seiner Uniform mit dem rot-schwarzen Parteiabzeichen durch den Ort flanierte – Benzin gab es auch für seinen Parteiwagen nicht mehr –, dann fühlte er sich allmächtig. Schließlich war er derjenige, der über die Zuteilung von Sonderrationen und die Verteilung von Ausgebombten auf angrenzende Bauernhöfe entschied. Danner hatte auch die Macht, Strafen zu erlassen, und rein theoretisch durfte er sogar Todesurteile gegen Volksverräter verhängen.

Als in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar 1945 fünfhundertsiebenundneunzig Bomber der Royal Air Force ihre tödlichen Ladungen über der Großstadt abwarfen, war Wolfgang Danner der erste Mann am Turm, um akribisch zu kontrollieren, wer den Turm betreten durfte und wer nicht. Und obwohl er fast jeden im Dorf persönlich kannte und genau wusste, wem der Zugang gestattet war, bestand er darauf, die Sonderausweise zu sehen. Er hatte die Macht, er ganz allein – und er genoss es, diese Macht auszukosten.

Der Horizont war rot erleuchtet von den Feuerstürmen, die acht Kilometer entfernt gerade unzählige Leben im Zentrum der Großstadt auslöschten. Die weißen Strahlen der Flak-Scheinwerfer suchten den schwarzen Himmel ab, doch die Bomber waren längst abgedreht. Das Schauspiel erinnerte an einen roten Vorhang, der von Bühnenscheinwerfern beleuchtet wird und die Ouvertüre einer Oper untermalt.

Die Gesichter der sinnlos ums Leben gekommenen Familie Engelhard hatten sich tief in das Bewusstsein der Dorfbewohner eingebrannt. Auch wenn keiner schlafen konnte, so versuchte man trotz alledem, die Kinder zu beruhigen, zu Bett zu gehen und nicht an die Qualen zu denken, die andere in unmittelbarer Nähe die ganze Nacht erleiden mussten.

Wolfgang Danner ging nach dem ersten Angriff jedes Stockwerk des massiven Turms ab und kontrollierte Raum für Raum. Vor Monaten hatte sich hier einmal eine junge Frau erbrochen. Er selbst musste am folgenden Tag die Sauerei aufwischen. Daraufhin hatte er wutentbrannt der jungen Frau und ihrer Familie den Sonderausweis entzogen. In dieser Nacht konnte Danner zum Glück keine unliebsame Hinterlassenschaft entdecken – selbst die Toiletten waren gespült worden, soweit sich das bei der dürftigen Notbeleuchtung erkennen ließ. Danach ging er nach unten, verließ den Turm und sperrte die wuchtigen Metallflügeltüren ab. Auf seinem Weg nach Hause schien das nächtliche Firmament erneut zu erbeben. Wieder heulten die Sirenen los, wieder ertönten Kirchenglocken.

Doch diesmal kam der Alarm zu spät. Schon regnete es Staniolstreifen, mit denen die ersten Bomber den Radar der deutschen Flugabwehr störten. Schaurig schön flatterte das Lametta glitzernd vom Himmel und eröffnete den zweiten Satz einer minutiös geplanten Symphonie des Todes.

Es war das grausame Ziel der Angreifer, nun all jene Einsatzkräfte in den Tod zu reißen, die ausgerückt waren, den Notleidenden zu helfen. Die brennenden Straßen in der Innenstadt waren voll von Feuerwehrleuten, Sanitätern und zivilen Hilfskräften, die versuchten, Leben zu retten. Genau ihnen galt diese zweite Bombardierung.

Hatte bei der ersten Angriffswelle im Dorf noch eine gewisse Ordnung geherrscht, brach jetzt blanke Panik aus. Zu frisch war der Eindruck der fünf Toten, zu strapaziös waren die vergangenen Stunden gewesen.

»Der Turm ist unsere Rettung«, hieß es plötzlich in aller Munde. Sonderausweis hin oder her, der Turm würde Schutz bieten, und Danner würde das einsehen.

Der Turm lag auf einer leichten Anhöhe, so konnte Danner, der keuchend zurückgelaufen war, die Silhouette der Menschenkette ausmachen, die sich schwarz vom brennenden Hintergrund der Großstadt abhob.

Viele hatten kaum etwas an, manche waren trotz der Minustemperaturen barfuß. Mütter trugen ihre Kleinsten im Arm und trotzten der Erschöpfung. Schritt für Schritt näherten sie sich dem Turm, der sich vor ihnen aufrichtete wie eine verheißungsvolle Festung aus einer germanischen Sage, während um sie herum die Welt im donnernden Bombenhagel versank.

Danner brach trotz der Kälte der Schweiß aus. Nur etwa die Hälfte des herannahenden Pöbels hatte eine Zutrittsberechtigung. Er erinnerte sich seiner Aufgabe, für Ordnung zu sorgen. Sein direkter Vorgesetzter in der Parteizentrale hatte ihm immer wieder eingebläut, dass Chaos der Anfang vom Untergang wäre. Nur durch Ordnung bis in die letzte Volkszelle könnte der Endsieg gewährleistet werden. Es lag an ihm, diesem Chaos ein Ende zu bereiten, aber wie sollte er das anstellen? In seiner Waffe, die er nun entsicherte, befanden sich gerade einmal sechs Kugeln. Sechs Kugeln, um hunderte von Menschen aufzuhalten. Als die ersten Schutzsuchenden den Hügel langsam erklommen, feuerte Danner einen Schuss in die Luft ab. Der Lärm der Bomber über ihnen und die Explosionen, die die brennende Stadt erneut erschütterten, übertönten jedes andere Geräusch, auch den verzweifelten Schuss aus der Pistole.

Danner ließ die Waffe fallen und wandte sich der Stahltür des Turms zu. Zitternd steckte er den klobigen ersten Schlüssel ins Schloss und entriegelte es klackend. Dann griff er zum zweiten Schlüssel, während er hinter sich den Atem der Meute spürte. Noch hielt sie respektvoll Abstand und wartete darauf, dass er die breiten Flügeltüren öffnete. Erneut hörte er ein Klacken. Doch Sekunden später fuhr in zweihundert Metern Entfernung eine Bombe in den gefrorenen Boden und explodierte mit ohrenbetäubendem Krach in einem gleißenden Licht. Die Druckwelle warf die Menschen um wie Streichhölzer. Splitter pfiffen durch die Luft, zerfetzten Arme, Beine und Gesichter. Inmitten der Schreie und des Leids war Danner im Schatten des Turms wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, doch er war benommen und taumelte. In seinen Ohren schrillte ein hoher Pfeifton, der ihn für jedes andere Geräusch taub machte.

Das Letzte, was er gehört hatte, war das Klacken des zweiten Schlosses gewesen. Nur langsam drang die Erinnerung an das Klacken wieder in sein Bewusstsein. Aber dieses Klacken weckte seinen Überlebensinstinkt, und schließlich beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Der Turm würde ihn schützen.

Mit letzter Kraft zog er an einer der schweren Flügeltüren, doch sie öffnete sich nur einen kleinen Spalt. Er ahnte, dass ein lebloser Körper, der in der Dunkelheit nur schwer auszumachen war, das Öffnen des Tores verhinderte, aber er hatte weder den Mut noch die Zeit, sich der Person anzunehmen, die offensichtlich gegen das Tor geschleudert worden war. Danner bot seine letzten Kräfte auf, um den Spalt zumindest so weit zu vergrößern, dass er seinen wulstigen Leib hindurchzwängen konnte. Kaum war er im Inneren des Turms in Sicherheit, zog er das Tor wieder zu und verriegelte es mit zitternden Händen.

Verzweifelte Menschen trommelten gegen den kalten Stahl. Auch wenn Danner sie nicht hören konnte, weil das Pfeifen der Explosion noch in seinem Kopf nachhallte, konnte er sie dennoch spüren, als er mit dem Rücken zum Tor langsam zu Boden glitt.

Er schloss die Augen und presste die Hände auf seine Ohren.

Was sollte er nur tun? Sollte er wirklich sein eigenes Leben gefährden – oder sollte er das Chaos und das Leid einfach aussperren? Sollte er sich blind und taub stellen?

Es waren zwei weitere Bomben der Royal Air Force, die ihm die Entscheidung abnahmen. Sie mussten in unmittelbarer Nähe explodiert sein. Der Turm wurde so stark erschüttert, dass der Putz von der Decke bröckelte und auf Danner herabregnete. Nun erlosch selbst die gelbliche Notbeleuchtung im Turm. Für einen kurzen Augenblick war Danner bereit, alles zu bereuen, was er den Menschen im Dorf angetan hatte. Er gelobte, von nun an ein besserer Mensch zu sein, doch sein Stoßgebet kam zu spät. Plötzlich war es still. Sehr still. Und auch die trommelnden Fäuste, die er eben noch durch die Stahltüren gespürt hatte, waren für immer verstummt.

Turmschatten

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