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EPHRAIM I

DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010

Fünfundsechzig Jahre waren seit der Ermordung seiner Familie vergangen. Fünfundsechzig Jahre, in denen Ephraim Zamir an jedem einzelnen Tag von diesem schmerzlichen Verlust begleitet wurde. Vor allem nachts holten ihn die grauenvollen Erinnerungen ein und zwangen ihn, die schmerzlichsten Momente immer und immer wieder aufs Neue zu durchleben.

Er hatte die Todesmaschinerie Auschwitz überlebt. Aber die Erinnerung an diese Zeit, an den Tod seiner gesamten Familie und an die grauenvollen Versuche, die man an ihm und seinem Bruder durchgeführt hatte, quälte ihn Tag für Tag. Er fühlte sich schuldig, weil er als Einziger überlebt hatte, und schuldig, weil seine Mutter ihr Leben gelassen hatte, um seines zu schützen.

Zweimal hatte er nach dem Krieg als junger Mann die Rampe in Auschwitz besucht. Zweimal war er darauf zusammengebrochen und hatte mit den Fäusten auf den Beton gehämmert, auf die Stelle, an der er geglaubt hatte, noch immer das Blut seiner Mutter zu sehen. Fast sein ganzes Leben war er nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt. Es gab eine Zeit, in der allein der Klang der deutschen Sprache die schlimmsten Erinnerungen wachwerden ließ. Selbst Deutsch zu sprechen wagte er nicht, nur um sich nicht vor sich selbst ekeln zu müssen. Die Ironie des Schicksals war, dass ausgerechnet sein »arisches Aussehen« und sein akzentfreies Deutsch seinen Lebensweg bestimmt hatten. All das lag nun weit hinter ihm. Mit zweiundsiebzig Jahren begann ein neuer Lebensabschnitt, ohne Beruf, ohne Verpflichtungen und ohne Familie, aber mit einer neuen Verantwortung.

Er war zurückgekehrt in die Geburtsstadt seiner Mutter, um dort seine letzten Jahre in Frieden zu verbringen. Das Haus, das einst der Familie seiner Mutter gehört hatte, stand längst nicht mehr – und doch fühlte er sich wohl bei dem Gedanken, dass seine Mutter hier eine unbeschwerte Kindheit und Jugend verlebt hatte, bevor sie seinen Vater kennengelernt und mit ihm in Falkenau eine eigene Familie gegründet hatte.

Nach all der Zeit suchte er nun endlich den Weg der Vergebung, versuchte nicht mehr, das Unrecht zu verstehen, sondern damit zu leben und zu verzeihen.

Gemächlich fuhr Ephraim in einem schwarzen Jaguar einen Schotterweg entlang. Der Weg führte einen Hügel hinauf zu einem dunklen Turm, der sich in der Dämmerung vom Horizont abhob. Sein neues Zuhause.

Der achteckige Turm wirkte wie das Überbleibsel einer mittelalterlichen Festung, war etwa dreißig Meter hoch und trug ein imposantes, spitz zulaufendes Schindeldach mit sechs integrierten Gauben.

Das Gebäude hatte einst zu einem Dorf am Rande der Stadt gehört. Inzwischen war dieser Ort zu einem von vielen Stadtteilen der stetig wachsenden Metropole geworden. Und doch schien hier die Zeit stehengeblieben zu sein; prächtige Villen oder moderne Reihenhäuser gab es kaum. Das mochte auch am neu erbauten Flughafen liegen, der in unmittelbarer Nähe lag und die Grundstückspreise auf niedrigem Niveau hielt. Tag und Nacht donnerten die Verkehrsflugzeuge über die Einwohner hinweg und nahmen dabei fast die gleiche Route wie einst die englischen Bomberflotten aus dem Norden.

Doch die Erinnerungen an jene düstere Zeit verblassten, wie auch die Bilder auf den Grabsteinen der Gemeindekirche. Diese und eine Gedenktafel lieferten noch Zeugnis von der Tragödie, die am 8. Januar 1945 durch einen fehlgeleiteten Bombenabwurf hundertsiebenundsechzig Menschen, fast nur Frauen und Kinder, das Leben gekostet hatte.

Von alledem hatte Ephraim Zamir nichts gewusst, als er das Grundstück mit dem Turm erwarb. Während er das Dachgeschoss des Turms innerhalb eines Jahres aufwendig hatte umbauen lassen, verschwendete er keinen Gedanken an dessen verwilderte Umgebung, wo kniehohes Dornengestrüpp im Kampf mit dem Herbstwind lag. Den Anwohnern aber war dieser Schandfleck unerträglich. Selbst den Turm konnten sie nicht leiden, dessen monströse Erscheinung schon in den Nachmittagsstunden einen breiten Schatten auf die angrenzenden Reihenhäuser der kleinen Siedlung warf. Seit man dieses hässliche Ding zudem unter Denkmalschutz gestellt hatte, blieb nur noch das verwahrloste Feld, an dem sich der Zorn der braven Bürger entlud. Die Gemeinde war froh gewesen, sich von diesem Problem durch den Verkauf an Ephraim Zamir trennen zu können. Nun aber hagelte es Eingabe um Eingabe, was schließlich zu einem Ultimatum an den neuen Besitzer führte, der das Grundstück innerhalb eines Jahres angemessen begrünen musste. Ephraim hätte eine mannshohe Hecke mit Zaun um das Gelände errichten können, unterließ es aber, denn Mauern, Stacheldraht und Zäune hatten ihn sein ganzes Leben verfolgt, ihr Anblick hatte sich in seine Seele eingebrannt wie die Tätowierung auf seinem linken Unterarm.

Unweigerlich musste er an den sauberen Spielplatz und die kleine Freizeitanlage denken, den die Lagerkommandantur in Auschwitz für die Angehörigen des Personals hatte bauen lassen. Dort wurde, abgeschirmt durch eine hohe Mauer und einen elektrischen Stacheldraht, mit den Kindern gespielt und an geschmackvoll eingedeckten Kaffeetafeln gefeiert, während ringsherum der Tod wütete. Ordnung war des Deutschen liebstes Kind. Sie hatten sich nicht geändert.

Trotz allem war Ephraim fest entschlossen, den Menschen wieder Vertrauen zu schenken, sich zu öffnen und andere an seinem Leben teilhaben zu lassen. In die Heimat seiner Eltern zurückzukehren, war ein erster Schritt in diese Richtung, der Beitritt zur jüdischen Gemeinde der Stadt ein nächster. Doch die größte Kraft schöpfte er aus der väterlichen Liebe zu Esther Goldstein, deren zarte Silhouette sich in einem beleuchteten Fenster im obersten Stockwerk des Turms abzeichnete. Sie war die Herausforderung, der er sich nun mit ganzer Kraft widmen wollte.

Das Schicksal hatte sie zusammengeführt, hatte beiden die Chance auf ein neues Leben gegeben und die Hoffnung darauf, die Vergangenheit vergessen zu können, auszusperren aus diesem Turm, der sie wie ein Bollwerk gegen Tiefschläge des Lebens schützen sollte, und von dem aus sie den Blick hinab auf eine scheinbar heile Welt richten konnten.

An diesem Herbstabend zog ein heftiger Sturm auf. Früher als gewöhnlich verdunkelte die schnell dahinziehende Wolkendecke den Himmel. Ephraim Zamir parkte seinen Jaguar direkt vor den zwei geschwungenen Steintreppen, die symmetrisch am Fuße des vierstöckigen Turms zusammenliefen und in einem Portal vor den geschmiedeten Flügeltüren im ersten Stockwerk endeten. Einen weiteren Eingang gab es ebenerdig über einem Garagenanbau auf der Rückseite des Turms.

Ephraim war von kräftiger Statur, wirkte trotz seines hohen Alters durchtrainiert. Er trug einen dunklen Anzug über einem grob gestrickten, grauen Pullover. Dieser unterstrich das raue Äußere seiner Erscheinung ebenso wie der wild wuchernde Bart, der auf seinen Wangen nahtlos in das volle, silberweiße Haar überging.

Kaum hatte er das Portal erreicht, schaltete sich vier Meter über ihm ein Scheinwerfer ein und tauchte den Eingang in ein warmes Licht. Eine automatische Kamera hatte ihn längst erfasst. Sie schickte ihre Bilder in das Dachgeschoss des Turms, wo Esther in einer großzügig ausgebauten Wohnküche gerade das Essen zubereitete.

Der weiß getünchte Raum maß annähernd hundert Quadratmeter und hatte schrägsitzende Fenster in alle vier Himmelsrichtungen, die in einen spitz zusammenlaufenden Dachstuhl eingelassen waren, der am höchsten Punkt sicher acht Meter maß. Der freistehende steinerne Küchenblock, an dem Esther Kreplach zubereitete, erweckte den Eindruck, man stünde in der Kuppel einer Kathedrale vor einem Altar. Vor allem wenn das Abendlicht schräg durch die Dachfenster auf den Küchenblock fiel, hatte der runde Raum etwas Sakrales, etwas Ehrfürchtiges.

Kreplach richtig zuzubereiten war eine Kunst, die Esther von ihrer verstorbenen Mutter gelernt hatte. Es waren Teigtaschen nach Art der jüdischen Küche, die mit Rinderleber gefüllt wurden und die man traditionell am Vorabend von Jom Kippur aß, dem höchsten aller jüdischen Feiertage. In Augenblicken wie diesen war Esther ihrer Mutter ganz nahe und versunken in Erinnerungen an glückliche Tage ihrer Kindheit.

Ein hoher Pfeifton ertönte in der Küche, den Esther aufgrund ihrer starken Hörbehinderung allerdings kaum wahrnahm. Doch das rote Blinken einer LED-Leuchte direkt oberhalb des Ofens kündigte ihr auch visuell unmissverständlich an, dass sich ein Besucher am Portal befand. Ihre konzentrierte Miene verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln, und sie lief hinüber an die Wand, an der ein Monitor Ephraim zeigte, der mit stoischem Blick in die Kamera winkte.

Ephraim hätte am Eingang auch einen sechsstelligen Zahlencode eintippen können, um die Pforte zu öffnen, doch Esther hasste es, wenn er plötzlich unerwartet hinter ihr stand und sie dadurch zu Tode erschreckte.

Läuten zu müssen war nicht besonders effizient – und Ephraim war ein Mensch, für den Effizienz über alles ging –, doch für Esther war er bereit, sich von Grund auf zu ändern. Ja, er arbeitete an sich, auch wenn er dabei nur kleine Fortschritte machte. Esther kannte nur einen Teil seiner Lebensgeschichte, doch das war genug, um zu verstehen, dass diese gequälte Seele endlich zur Ruhe kommen musste. Und so war sie stolz auf jede seiner menschlichen Gesten, auf jede seiner positiven Veränderungen, waren sie auch noch so klein und unscheinbar.

Sie betätigte die Sensortaste zum automatischen Öffnen der schmiedeeisernen Tore und entledigte sich ihrer Küchenschürze. Nach allem, was sie in ihrer Heimat Israel erlebt hatte, kam es ihr wie ein Wunder Gottes vor, dass sie dieser gütige Mann wie eine Tochter aufgenommen hatte und mit jedem Tag die grauenvolle Vergangenheit mehr und mehr in einem dichter werdenden Nebel verschwand.

Mit gebührendem Respekt und anerzogener Zurückhaltung wartete sie darauf, dass Ephraim die vier Stockwerke emporkam, während unten die Pforte wieder automatisch mit einem leisen Klicken ins Schloss schnappte.

Ephraim nahm immer mehrere Treppenstufen auf einmal, denn er mochte die unteren Stockwerke des Turms nicht besonders, die kalt und grau waren und nur wenig Licht abbekamen. Die steinerne Treppe endete schließlich vor einer schweren Holztür im dritten Stockwerk, das er zum Großteil schon hatte renovieren lassen. Hinter der Holztür verbarg sich ein schmaler Gang, von dem aus mehrere Zimmertüren abzweigten. Nichts erinnerte hier mehr an die steinerne Kälte der unteren Stockwerke. Am Ende des Gangs führte eine steile Wendeltreppe nach oben, die schließlich in dem ausgebauten, beeindruckenden Dachstuhl endete.

Kurzatmig begann sich Ephraim zu entschuldigen, sobald er ihr engelsgleiches Antlitz über sich erblickte. Ihre weichen Gesichtszüge mit den großen, dunklen Augen waren eingerahmt von tief schwarzem, langem Haar, das bis über die Schultern reichte und in einem starken Kontrast stand zu ihrer hellen Haut. Die junge Frau trug eine hochgeschlossene Bluse mit einer Schleife und einem knielangen Rock, aus dem ihre Beine ragten wie zwei zerbrechliche Stelzen.

»Esther …« Er holte Luft. »Esther, es tut mir leid … Ich bin zu spät … Aber mein Gespräch mit dem Rabbi hat länger gedauert, als ich dachte …«

Esther lächelte milde, umfasste ihn an den Schultern und küsste ihn auf die Wangen.

»Chalom, Ephaaim.«

Ihre Kehle brachte Laute hervor, die sie selbst kaum hörte, und so war es umso erstaunlicher, dass es ihr trotz ihrer fast gänzlichen Gehörlosigkeit gelang, sich verbal zu artikulieren.

»Schalom, Esther«, erwiderte Ephraim und lächelte gequält, was Esther erahnen ließ, dass das Gespräch mit Rabbi Shlomo Moshe nicht ganz so verlaufen war, wie Ephraim es sich erhofft hatte. Von Neugierde getrieben, stellte sie ihm hastig eine Frage in Gebärdensprache. Konzentriert, aber offensichtlich überfordert, versuchte Ephraim den schnell wechselnden Zeichen zu folgen, schüttelte aber schon bald den Kopf und nahm ihre kleinen Hände in die seinen.

»Halt, halt … Langsam, Esther.«

Er blickte ihr in die Augen, und seine Gesichtszüge entspannten sich leicht.

»Ich tue ja mein Bestes, um die Zeichen zu lernen, aber du bist … Du bist zu schnell.«

Ephraim öffnete seine Hände und gab die ihren frei. Langsam formte sie nun Zeichen für Zeichen und versuchte dabei zu sprechen, soweit es ihr möglich war.

»Aat die Gemeinee as Geel fü ie Synagooe anenommen?«

Den »Tanz der Finger«, wie Esther es gerne nannte, erlernte Ephraim mit mäßigem Erfolg, aber ungebrochenem Willen seit einigen Monaten. Ein Scheitern kam nicht infrage, denn wie so oft in seinem Leben würde er am Ende triumphieren. Doch im Augenblick fiel es ihm leichter, ihre gutturalen Laute zu vervollständigen, als ihre Zeichen richtig zu deuten.

»Es ist nicht einfach, Esther, du musst die Gemeinde verstehen. Sie sind nur vorsichtig und vielleicht auch zu stolz, um so viel Geld als Spende anzunehmen.«

Esthers Augen verrieten Unmut. »Sdoolz is die Masge de eigenen Fehlä.«

Ephraim war immer wieder überrascht, wie viel Entschlossenheit dieses zierliche Mädchen besaß. In dieser Hinsicht war sie ihm sehr ähnlich.

»Esther, es reicht nicht, aus dem Talmud zu zitieren, um die Ältesten von meinen ehrlichen Absichten zu überzeugen. Ich bin mir ganz sicher, früher oder später werden sie meine Spende akzeptieren und der Bau der Synagoge wird fortgesetzt. Rabbi Moshe und die Stadträtin Seligmann sind auf meiner Seite.«

Ephraim legte ihr eine Hand väterlich auf die Schulter und schob die andere vorsichtig unter ihr Kinn, um ihr Gesicht anzuheben, bis er ihr tief in die Augen schauen konnte. Dabei zeigte er zum ersten Mal ein ehrliches Lächeln, eines, aus dem Esther Zuversicht und Hoffnung schöpfte.

»Esther, du wirst sehen. Der Bau der Synagoge wird in wenigen Wochen fortgesetzt. Da bin ich mir sicher.«

Er brachte es nicht übers Herz, Esther die komplizierte Wahrheit zu beichten, die zur Spaltung der jüdischen Gemeinde und am Ende zum Finanzierungsstopp geführt hatte. Geld allein konnte die Streithähne der Gemeinde nicht wieder zusammenbringen, aber Rabbi Moshe und Stadträtin Seligmann traute er durchaus zu, die Probleme gemeinsam zu lösen.

»Ephaaim, du bis ein guder Mensch!«

Der unerwartete Zuspruch sollte Ephraim in seinem Vorhaben bestärken und Zuversicht geben, doch Esther erreichte damit das Gegenteil.

Ephraim zog seine Hände zurück. Sein Blick war nun wieder kalt wie zuvor. Das Kompliment hatte eine Tür zu seinen dunkelsten Abgründen aufgestoßen. Denn anders als Esther besaß er nicht die Fähigkeit, einen dichten Nebel über seine Vergangenheit zu legen. Seine Geheimnisse verbargen sich hinter hunderten von Türen, und kaum hatte er eine verschlossen, öffnete sich eine andere wie von selbst und peinigte seine Seele aufs Neue.

Ephraims Stimme klang schroff und zurechtweisend.

»Nur weil ich Geld spende, macht mich das noch lange nicht zu einem guten Menschen, Esther.«

Wortlos wandte er sich ab, wohl wissend, dass Esther ihm wegen ihrer Behinderung nichts entgegnen konnte, und zog sich ein Stockwerk tiefer in seinen Privatbereich zurück.

Esther sah ihm nach, wie er die Wendeltreppe hinunterging und verschwand. Morgen würden sie zum vierten Mal gemeinsam Jom Kippur feiern und noch immer war ihr dieser gütige Mensch so fremd wie kaum ein anderer.

Turmschatten

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