Читать книгу Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD) - Peter Osten - Страница 11

2 Was bedeutet „Integration“?

Оглавление

Was ist mit dem Begriff „Integration“ gemeint und wie wird er in dieser Arbeit definiert? Bei Sichtung unterschiedlicher klinischer Ansätze, etwa dem psychodynamischen, den lern- und stresstheoretischen oder den systemischen, wird gleich evident, dass hier jeweils unterschiedliche Vorstellungen vom Aufbau der Person und ihren Funktionsweisen zugrunde liegen, die dann natürlich in ein differenzielles Verständnis der Ätiologie von Störungen und somit auch in unterschiedliche Behandlungsansätze führen. Obwohl durch vergleichende Untersuchungen, etwa ätiologischer Theorien, zweifellos Schnittmengen ausgemacht werden können, geht es in der Auffassung integrativen Denkens nicht um eine eklektische Zusammenstellung von Überschneidungsbereichen.

Der Begriff „Integration“ wird hier in ein Verständnis gerückt, das strenge Prüfungen unterschiedlicher Theorien und Praktiken hin auf ihre Kompatibilität untereinander vorsieht, sowohl auf der Ebene empirischer Ansätze als auch auf der klinischer Interventionen. Eine Besonderheit des Verfahrens, das hier zugrunde liegt, besteht darin, dass seine klinischen Theorien auch auf ihre Vereinbarkeit mit einem von mehreren Seiten her humanwissenschaftlich abgestützten Menschenbild hin überprüft werden. Dies stellt ein Programm dar, das gegen die Tendenz der Hochleistungsgesellschaft arbeitet, den Menschen bloß noch als Kategorie des Biologischen oder Psychologischen anzusehen (Steinfath, 2001). Will man etwas vom einzelnen Menschen verstehen, wird man versuchen, etwas mehr von der Vielfalt des Menschseins an sich zu verstehen. Auch wenn diese Frage als unabschließbar gilt, wird sie hier erörtert werden. Zu den Disziplinen, die aus diätetischen Gründen hier mehr oder minder essayistisch ausgeführt werden, gehören die philosophische Anthropologie – insbesondere mit der Leibphilosophie und der Philosophie des Geistes –, die Sozial- und Kulturphilosophie, die Phänomenologie sowie Bewusstseins- und Erkenntnistheorien.

Die Integrative Therapie spricht in diesem Zusammenhang von „Integratoren“, die in einem gestuften Modell von Theorien mit unterschiedlicher Reichweite geordnet werden: small scale theories, middle scale theories und large scale theories. Unter small scale theories werden hier konkrete, anwendungsbezogene Methoden, Techniken und Medien verstanden, wie sie in Verfahren der Psychotherapie im Behandlungsverlauf, immer wieder kurz- und mittelfristig orientiert am Prozessverlauf, zur Anwendung kommen (Praxeologie). Diese Interventionen beziehen ihre Begründung aus middle scale theories (klinische Theorie), deren Reichweite theorie- und forschungsgegründet größer ist als jene der Interventionslehren. Das sind etwa die empirische Entwicklungs- und Sozialisationstheorie, Enkulturations- und Ökologisationstheorien, die Persönlichkeitspsychologie, die Gesundheits- und Krankheitslehre, speziell die der psychotherapeutischen Diagnostik. Praxeologische Interventionen müssen Kompatibilität mit diesen Wissensständen ausweisen können.

Trotz der größeren Reichweite von middle scale theories treten im Verlauf empirischer Bewegungen im Feld oder im Zusammenhang mit größeren Paradigmenwechseln in der Forschung theoretische und praxeologische Akzentverschiebungen auf, wie etwa zuletzt mit dem neurowissenschaftlichen Paradigma. Die Einbettung klinischer Theorien erfolgt entsprechend wiederum durch large scale theories, deren Reichweite groß und deren Veränderungsgeschwindigkeit vergleichsweise kleiner ist. Hier befinden wir uns im Bereich philosophischer Metatheorien. Nur unter einer solchen umfassenden Betrachtung ist es möglich, den Menschen, das menschliche Leben in seinen ökologischen Zusammenhängen vor der Eindimensionalität, dem Solipsismus (als ob völlig isoliert nur das Subjekt, das eigene Ich existierte), vor der Zumutung kurzatmiger klinischer und sozialer Diagnosen zu bewahren (Henrich, 2016).

Das entsprechende dreistufige Modell wird in der Integrativen Therapie tree of science genannt (Petzold, 2003a). Einen Überblick soll die folgende Zusammenstellung geben. Integratoren auf der Ebene der Praxeologie (small scale) etwa sind orientiert an klinischen Konzepten der Relationalität6, an pluriformen Wegen der Heilung und Förderung7, an Theorien zu netzwerkorientierten Alltags- und Arbeitskontexten8 sowie empirisch untersuchten therapeutischen Wirkfaktoren9, einer ausgearbeiteten Interventionslehre10 mit indikationsspezifisch einsetzbaren Methoden, Techniken und Medien11 und Prozesstheorien12, des Weiteren an Evaluations- und Qualitätssicherungskonzepten13.

Zu den Integratoren auf der Ebene der klinischen Theorie (middle scale) gehören etwa die Gesundheitspsychologie14, die Entwicklungs- und Sozialisationswissenschaften15, die Persönlichkeitspsychologie16, Identitätstheorien17, Genderstudies18, die Evolutionäre Psychologie19, die Biologische Psychologie [Neurowissenschaften20, Genetik21 und Epigenetik22] sowie Ätiologieansätze verschiedener Psychotherapieformen [Tiefenpsychologie23, Behaviorismus24, Stress- und Traumatherapie25], weiterhin Soziale Netzwerktheorien26, Sozialpsychologische Theorien27, Systemische Theorien28 und Theorien zur Transgenerationalität29.

Praxeologie und klinische Theorie werden den Integratoren der Metatheorie (large scale) nachgeordnet. Zu diesen philosophischen Theorien gehören Kosmologie30 und Ontologie31, die philosophische Anthropologie32 mit ihren Theorien zur multiplen Entfremdung33, die Leibphilosophie34, die Philosophie des Subjekts35 und der Identität36, die Gesellschaftstheorie, Kultur- und Sozialphilosophie37, die Phänomenologie38, die Erkenntnistheorie39, die Wissenschaftstheorie40 und die Ethik41 (Literaturangaben in dieser Übersicht finden sich in Kapitel VIII und sind exemplarisch zu verstehen, sie bieten eine breit gestreute Auswahl mit jeweils auch integrativ-therapeutischen Leittexten).

Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)

Подняться наверх