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Eingedenken der Natur im Subjekt

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Die Philosophie der Neuzeit zeigt umgekehrt ein entschiedenes Desinteresse dem Thema „Natur“ gegenüber. Sie überließ dieses Feld lange Zeit kritiklos den empirischen Wissenschaften, so als hätte sie mit der Natur des Menschen nichts mehr zu tun. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde die Thematik wieder aufgegriffen, etwa durch Merleau-Ponty, Plessner, Buytendijk, Petzold, Waldenfels und Böhme. Böhme (1985) arbeitete das Programm des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“, das ursprünglich in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno formuliert wurde, für die Leibphilosophie weiter aus. Sein Diktum in der Sache ist, dass der „Leib die Natur ist, die wir selbst sind“ (ebd., 119ff.).

Was in leibphilosophischer Hinsicht als Natur verstanden wird, ist unterschieden von dem, was einerseits die Biologie, andererseits die platonische Philosophie darunter subsummierten. Das ist zunächst einmal wenig spezifiziert als geboren werden, atmen, essen, trinken, schlafen, behütet werden, später spüren, sich bewegen, erkunden, lieben, leiden, wachsen und reifen, denken, wollen, fühlen, handeln und schließlich wieder sterben. Die Wiederentdeckung der Leiblichkeit muss als eine Folge der Entwicklungen in der technischen Zivilisation verstanden werden. Dass sie in diesem basalen Sinne heute auffällig wird, liegt etwa am sogenannten „Umweltproblem“. Das ausbeuterische und zerstörerische Verhalten des Menschen der Natur gegenüber schlägt auf den Menschen selbst zurück: Es wird am ,eigenen Leibe spürbar‘. Es zeigt sich hier als unhintergehbares, eigenleibliches Erleben, „dass die Beziehung zur äußeren Natur im Kern eine Beziehung des Menschen zu sich selbst ist“ (ebd., 120). Betrachtet man die Umgangsformen des Menschen mit der äußeren Natur, so zeigt sich, dass er mit der eigenen Natur nicht viel anders umgeht: objektivierend, instrumentalisierend, ausbeuterisch, destruktiv.

Auf der anderen Seite haben die platonische Philosophie und die Theologie die Natur als etwas betrachtet, wovon der Mensch sich abheben muss, um Mensch zu sein. Kultur und Tugenden waren Resultate der geistigen Distanzierung von Natur, sodass Natur als etwas Äußeres, ja, als eine Gegeninstanz der Tugenden gesehen wurde (Aristoteles, 2009). Die bewusste Rekognition des Umstandes, dass das Leben nicht nur Handlung, sondern auch Widerfahrnis ist, hat unter Umständen als Wunsch, sich von der Unmittelbarkeit dieser Erfahrung herausnehmen zu wollen, viel dazu beigetragen, dass Instanzen wie das Ich und die Seele erfunden wurden. Bei Hegel (1807) wird die Naturerfahrung als ein Außer-sich-Sein des Geistes bestimmt; bei Helmut Plessner (1975) wird das Charakteristikum des Menschen als Möglichkeit zur Exzentrizität beschrieben. So erscheint die Natur in klassischen Selbstdefinitionen des Menschen (Gehlen, 1950) als etwas Äußerliches oder zu Überwindendes. Natur wird zu etwas, ,was wir nicht selbst sind‘. Aber diese Bewegungen entfremden den Menschen seiner selbst und machen ihn in Hinsicht auf seine eigene Natur heimatlos (Böhme, 2008, 123).

Mit diesen Überlegungen wird eine neue Sicht auf Natur gefordert. Dadurch, dass wir durch unsere Leiblichkeit selbst Natur sind, ist uns quasi eine Möglichkeit gegeben, die Substanzialität von Natur von innen her zu sehen und zu spüren (Bischlager, 2016). Diese Sicht wird Kontrolle und Ausbeutung hinter sich lassen können, auch die Idee, in einer Art „Gehäuse“ zu sitzen, das wir nach unseren Vorstellungen benutzen könnten. Was daher Natur für uns ist, hängt davon ab, wie wir uns zu ihr verhalten (ebd., 158). In unserer Kultur und Zeitepoche steht es weder um die Kultivierung der Innerlichkeit noch um Orientierungen des eigenleiblichen Spürens besonders gut. Die deutsche und die österreichische Kultur pflegten ein intensives Nach-außengewandt-Sein und höchste Leistungsbereitschaft, um eine ganze Epoche traumatisierender politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Ereignisse aus dem letzten Jahrhundert ins Vergessen zu bringen.

Der moderne Mensch der Hochleistungsgesellschaften lebt als cartesianischer Mensch größtenteils über seinen Leib hinweg. Er glaubt, über seinen Körper wie über ein Eigentum verfügen zu können, er konzipiert sich als biologische Maschine, die ihm im Leben Möglichkeiten eröffnet. Um den Erhalt dieser Optionen zu sichern, muss er die Maschine irgendwie am Laufen halten. Bei allem, was er für sich selbst, seine Mitmenschen oder die Natur entscheidet, sind Vorteilserwägungen im Vordergrund und nicht das Bewusstsein um eine singuläre oder kollektive Dimension der Leiblichkeit. Die Regungen des Leibes sind ihm fremd und er kann damit wenig oder gar nichts anfangen. Er kann sie weder als Empfindungen erleben noch als Hinweise, die ihn orientieren könnten. Im Umgang mit unangenehmen Widerfahrnissen denkt und deutet er sie schnell als Symptome einer Störung, als Folge seiner Fehler. Über Schwächen und die Unveräußerlichkeit des eigenen Leibes tröstet der moderne Mensch sich mit den Handlungsmöglichkeiten der Hochleistungsmedizin hinweg.

In Hinsicht auf Verantwortlichkeit und Selbstfürsorge macht es also einen Unterschied, ob ich im Bild meiner Vorstellungen einen „Körper habe“ oder in selbstverantwortlicher Regie „mein Leib bin“. Mit Medikamenten jeder Art die Maschine wieder zum Laufen zu bringen, macht in Krisen Sinn, genauso viel Sinn macht es aber, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Vorgehensweise die implizite Idee propagiert, dass für die Widerfahrnisse des Lebens keine subjektiven oder sozialen Kompensations- und Regulationsmöglichkeiten zu Verfügung stünden. Unter psychopharmakologischer Dauermedikation können mentale, emotionelle und leibliche Möglichkeiten atrophieren, die Herausforderungen des Lebens direkt auf sich zusprechen zu lassen, der Bewegung, die daraus entsteht, zu folgen und auf diese Weise ein sich stellendes Problem auch als Startkapital für die eigene Entwicklung zu betrachten. Manchmal geht es nicht anders, aber Lernerfahrungen und organismische Anpassungen wirken. All diese Vorstellungen bleiben nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sie treten als Einstellungen zum Anderen hin und als handlungsrelevante Vorstellungen auch ins Gesellschaftliche und Politische hinüber.

Auch wenn ich Leib bin, kann ich in Exzentrizität hierzu treten und meinen Leib zum Gegenstand der Aufmerksamkeit machen (Plessner, 1982). Ein Resultat von Bewusstheit und Exzentrizität, von Aneignung eigenleiblichen Spürens, Reflektierens und Konnektivierens ist das, was die Psychologie mit großer Selbstverständlichkeit wie eine eigene Entität behandelt und das „Selbst“ nennt. Bei Sokrates war das die Seele, die den Körper und alle Dinge benutzt. In platonischer und auch in cartesianischer Tradition nimmt dieses Selbst vom Körper Gebrauch und vergisst, dass es selbst Leib ist. So wie das Ich jedoch eine Bezeichnung für eine Konstruktion ist, so wird auch das Selbst als eine Konstruktion des Geistes verstanden. Allerdings stellt diese sich als eine durchaus selbstbewusste, sich verselbständigende dar: Das Ich und das Selbst haben nicht das Selbstverständnis, eine Konstruktion zu sein. Damit aber das Selbst als ein Eigenes erfahren werden kann, müssen wir es uns erst aneignen. Diese Aneignung ist aber genau nicht als Inbesitznahme zu verstehen, sondern als eine Hinwendung, als ein Versuch, Einvernehmen damit zu erreichen, dass das Leben nicht nur Handlung, sondern auch Widerfahrnis ist. Dies bezeichnet die „Urtatsache, dass uns etwas zustößt, zufällt, auffällt oder einfällt, dass uns etwas glückt oder auch verletzt“ (Waldenfels, 2015, 20). Somit geht es also darum, aus der Entfremdung von der Leiblichkeit in eine Form der Teilhabe oder sogar Vertrautheit mit ihr zurückzufinden.

Vom Kopf auf die Füße gestellt, müssten wir daher aus leibphilosophischer Sicht von einem „Leib-Selbst“ sprechen (Petzold, 2011), in philosophischer Hinsicht von einem „Selbst-Sein, das sich selber denkt“ (Henrich, 2016), und weiter von einem Selbst, das weder transzendent noch naturalistisch, sondern rein phänomenologisch verstanden werden kann (Metzinger, 1995, 1996). Dieses könnte sich dann zumindest auch als Natur denken – als ein Teil von etwas – und seine Biologie als eine Kategorie der Leiblichkeit verstehen. In Identifikation mit seiner eigenen Grundlage müsste dem personalen Selbst mit dem ,Körper‘ nicht notwendig etwas Fremdes entgegentreten, wodurch die Person ihrer Kraft und Produktivität beraubt werde. Es könnte sich synthetisieren mit der Natur der eigenen Leiblichkeit, sich sogar eingemeinden lassen, das heißt, sich eingelassen und verbunden fühlen.

In dieser Verbundenheit besteht das Selbst-Sein im Natur-Sein vor allem darin, dass die Lebensvollzüge eine latente Selbstbezüglichkeit erhalten. Wie der Mensch seine Natur erfährt, hängt nicht nur von seiner Ökologisation, seiner Sozialisation in Lebenswelt und Einbettung in die Natur, ab (Petzold, 2016), sondern auch von seinem Verhalten zu sich selbst. Herrmann Schmitz (2007a) nennt das „leibliche Betroffenheit“, Gernot Böhme (2008, 165ff.) auch die „betroffene Selbstgegebenheit“. Sie zeigt sich im Schönen und in der Emphase genauso wie im Leiden. Sie zeigt sich außerdem in der Erfahrung des Getragen-Seins von einer Natur, die auch „nicht ich selbst bin“. Hier geht es also nicht nur um das Erlangen eines „partnerschaftlichen Verhältnisses“, sondern um das unhintergehbare Verständnis, dass die eigene Natur weder vollständig zu verinnerlichen noch vollständig zu veräußerlichen ist (Thürnau & Barkhaus, 1996). In diesem Sinn, und auch weil der Leib dem Menschen damit erste und letzte Autorität ist, stellt sich die Beziehung des ,autonomen Subjekts‘ zu ihm oft als scharfkantige Herausforderung dar.

Reflektierend nimmt der Mensch von sich Abstand und wird so zum bewusst Handelnden. Diese Reflexivität aber schießt über ihr Ziel hinaus, der postmoderne Mensch vergisst, dass er auch Kontingenzen und Widerfahrnissen ausgesetzt ist, und er versteht sich in der Moderne nur noch als handelndes Subjekt. Für alles, was ihm widerfährt, glaubt er nicht nur final Verantwortung übernehmen zu müssen – das wäre hinzunehmen –, sondern er hält sich auch kausal für alles verantwortlich. Hierin zahlt er den Preis dafür, sich vom Leib, von der eigenen Natur, die ihn trägt, von der Welt als ein autonomes Selbst distanziert zu haben. Regungen und Bewegungen des Leibes aber setzen sich durch, unbeachtet und unbewegt vom Ich, das im Gespinst seiner Ideen gefangen bleibt (Böhme, 2017).

Vom Menschen muss der Leib daher als etwas Gegebenes betrachtet werden. Er ermöglicht innerhalb der Grenzen, die ihm gesetzt sind, Handlungsspielräume, er zeigt aber auch Limitierungen auf, die wir nicht ohne Schaden zu nehmen überschreiten können. Man wird sich daher mit Gernot Böhme (ebd.) fragen, ob in der Moderne nicht eine gewisse Bereitschaft, sich etwas geben zu lassen, notwendig ist, um den Ernst der eigenen Existenz zu wahren – Gutes wie Herausforderndes.

So behandeln auch die Naturwissenschaften das Menschsein in einem Modus, der das Selbst-Sein ausblendet. Bei all dem ist freilich zu bedenken, dass der Cartesianismus, der in unserer Kultur gelebt wird, uns spaltet in ein Ich und ein Körperding, das dieses Ich zu seinen Zwecken nutzt. Das Programm der Leibphänomenologie will aufzeigen, wie tief diese Differenz in unserem Denken eingesenkt ist und wie ungesund diese Entfremdung wirkt.

Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)

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