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2 Humanwissenschaftlicher Hintergrund

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Mit dieser Hinführung beginnt die Darstellung derjenigen geistes- und humanwissenschaftlichen Ansätze, die eine klinische Relevanz für das Thema der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik ausweisen. Obligate Lebensthemen, die den Menschen und seine Lebensgestaltung betreffen, wurden ausgewählt und in aller Kürze essayistisch ausgeführt. Sie sollen in dieser Art der Darstellung nicht nur informieren, sondern vor allem zu eigener Auseinandersetzung anregen. Es werden zum Teil starke Positionen bezogen, mit denen man ringen, ja streiten sollte. Erst so erschließt sich der Sinn der Texte. Bei allem steht eine pragmatische Ausrichtung der Philosophie im Vordergrund (Kant, Böhme), die der klinischen Praxis den Vorrang vor der Auseinandersetzung vergleichender theoretischer und metatheoretischer Reflexion gibt. Bestehende Verhältnisse werden nicht einfach nur beschrieben, sondern kritisch beleuchtet und mit einer Tendenz zu transversalen Entwicklungen dargestellt (Petzold, Sieper & Orth, 2013b). Hauptintention dieser Ausführungen „Klinischer Philosophie“ (Petzold, 2003) ist, ein Bewusstsein für ein weiträumiges Menschenbild zu schaffen, das Individuumszentrierung und Solipsismus überschreitet, mit entsprechenden Orientierungen die Haltung der Therapeutin betreffend. So kann jedes der behandelten Themen als diagnostische und klinische Kategorie angesehen werden, die sich auch interventiv nutzen lässt.

Von seiner Charakteristik her präferiert der integrative Ansatz durchgängig ein existenzialistisches, phänomenologisch-hermeneutisches, leibphilosophisches und an Intersubjektivität orientiertes Denken. Der Existenzialismus – als Erbe der Metaphysik (Tugendhat, 2010) – tritt als Versuch des Menschen auf, sich ohne Gott und ohne Seele, nur aus sich selbst heraus zu erklären. Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung des Subjekts (Waldenfels, 1987), aber nicht im strukturalistischen Sinn, auch nicht im Sinne eines szientistischen Naturalismus oder im Sinne der Suche nach weiteren genetischen Theorien, sondern im Sinne dessen, was sich dem Subjekt als lebendige Evidenz seiner Selbst- und Welterfahrung, also seiner Wahrnehmungen und Verarbeitungsmöglichkeiten zeigt. In der phänomenologisch-hermeneutischen Leibphilosophie wird eine anthropologische und mundanologische (auf die ganze Welt, z. B. auf Wirtschaft und Ökologie bezogene) Sicht vertreten (Welsch, 2012). Ihr gilt der Leib in der Lebenswelt als der erste, unhintergehbare Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen (Merlau-Ponty, 1966; Bischlager, 2016; Fuchs, 2018). Von dort aus wird das Menschenbild im integrativen Denken aus Ansätzen der philosophischen und evolutionären Anthropologie sowie aus benachbarten Disziplinen heraus beschrieben. Auch hier werden nur jene Themen bearbeitet, die hinsichtlich des Verstehens des Menschen mit seiner Verwundbarkeit für multiple Entfremdungsprozesse bedeutsam sind.

Wenn hierfür der Leib der erste Ausgangspunkt ist, so wird als der nächstdringende die Angewiesenheit des Menschen auf die Einbettung in zwischenleibliche, soziale, gesellschaftliche und ökologische Welten verstanden. Im Kleinen ist damit das erste Biotop gemeint, die Familie, im weiteren Sinne aber die Kultur, die Gesellschaft und die Zeitepoche, das ,Ökotop‘, in das der Mensch hineingeboren ist. Persönlichkeit und Identität des Menschen wurzeln in seiner Leiblichkeit und sind zutiefst durch eine produktive zwischenleibliche und psychische Auseinandersetzung mit seiner sozialisatorischen und kulturellen Umgebung geprägt. In der Zeitepoche der Moderne, der Postmoderne oder der transversalen Moderne ragen aus dieser Ebene auch verstörende Schatten in Entwicklungsräume und Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums hinein, die zum Teil weit abseits des „Unbehagens in der Kultur“ liegen, wie es Sigmund Freud (1999c [1930]) verstand. Globalisierung, Fundamentalismus, Beschleunigung von Arbeitswelten, entgrenzte Machbarkeitsvorstellungen und Entleiblichung von Kommunikation, Überflutung durch Information, Quantifizierung sozialer Beziehungen (social network), Entgrenzung sozialer Transparenz, Erosion der öffentlichen Räume, die Erosion und Agonie der Innerlichkeit aufgrund eines ständigen „Nach-außen-gewand-Seins“ sind nur einige Stichworte hierzu (Kleiner et al., 2003).

Unter diesen Bedingungen wird sowohl die Epigenese der Person als auch die Genese ihrer Störungen als ein komplexer Prozess verstanden, als ein Wechselspiel von Handlung und Wille auf der einen, Widerfahrnis und Kontingenz auf der anderen Seite (Birgmeier, 2007; Seel, 2014). Dem psychotherapeutischen Nachvollzug dieser Metamorphosen, also der Diagnostik, sind damit Limitierungen gesetzt, die mit dem Verständnis des Subjektbegriffs, der hier verwendet wird, noch deutlicher werden. Insofern der Leib mit den Sinnen, seinem Bewusstsein, seiner Ausrichtung auf die Welt hin (être au monde; Merleau-Ponty, 1966) als der unhintergehbare Ausgangspunkt des Subjekts betrachtet wird, kann dieses nicht der „selbstmächtige Grund aller seiner Setzungen“ sein, wie Henrich (2016, 18) im Sinne Heideggers (1929) erläutert. Das Subjekt wird auch nicht allein durch seine Selbstgegenwart (Sartre, 1952) definiert. Dem Subjekt fehlt ganz offensichtlich „jene Fülle, von der jeder Zweifel ausgeschlossen sein könnte“ (Henrich, 2016, 25). Das sich selbst bewusste Subjekt besitzt in diesem Verständnis immer auch Präpersonales, aus dem es schöpft, das es nicht kennt und von dem es nur weiß, dass es als „Chaotisches“ oder „Mannigfaltiges“ in ihm existiert (Schmitz, 2017).

Dies führt in diesem Kapitel zuletzt zu Fragen der Erkenntnistheorie unter solchen Bedingungen. Entsprechend dieser Grundannahmen kann der Weg vom Bewusstsein, von der Wahrnehmung über das Lernen bis hin zum ,Wissen‘ (als ein Festhalten von Bewusstseinsinhalten) nur über phänomenologische, (meta-)hermeneutische und sozialkonstruktivistische Verstehensweisen erfolgen, die den subjektiven Erfahrungs- und Deutungsmöglichkeiten des Menschen keine objektivierende Diagnostik entgegenstellen – in der Terminologie des Verfahrens: über „diskursive Hermeneutik“ (Petzold, 2017a).

Es ist trivial, dass mit der Darstellung geisteswissenschaftlicher Haltungen immer auch Weltanschaulichkeit transportiert wird. Menschen gewinnen ihre Anschauung meist aus traditionellen, kulturellen und religiösen Werthaltungen und Zeitgeistströmungen – bei Psychotherapeutinnen müssen wissenschaftliche Überzeugungen hinzukommen. Alle diese von Foucault so genannten „Diskurse“ beinhalten jedoch deterministische und tendenziell entmündigende Auffassungen, je nachdem, wie weit man an sie glaubt. Eine philosophische Weltanschauung muss es dabei wagen, sich immer wieder auf die eigene Vernunft zu stellen, sie wird alle hergebrachten Meinungen versuchsweise bezweifeln und darf nichts anerkennen, was ihr nicht persönlich einsichtig und begründbar ist (Scheler, 1929; Petzold, 2014e, f). Hierzu soll dieser Abschnitt beitragen.

Im Text verwende ich aus pragmatischen Gründen immer wieder die Termini „wir“ oder „der Mensch“ oder „man“ oder „das Subjekt“. Damit nehme ich eine gewisse Prekarität in Kauf, denn der Einschluss aller Subjekte in eine einzige Aussage ist genau genommen nicht statthaft. Leserinnen und Leser sollten für den Fall, dass sie sich unter eine Aussage nicht subsummiert wissen wollen, sich dieser souverän entziehen. Weibliche und männliche Artikel verwende ich in derselben Weise, in lockerer, intentionaler Folge.

Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)

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