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Reproduktivität und Elternschaft

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Die Sexualität wird in den meisten Kulturen nicht bloß als eine Sache des Individuums gesehen. Viele gesellschaftliche Institutionen, etwa die Familie, unmittelbare soziale Umgebungen, Kirche und Arbeitgeber bis hin zum Staat sind an der Reglementierung von Liebe und Sexualität interessiert. Je nach Kultur und Zeitepoche wurde der Lichtstrahl dieser beiden Lebens- und Erfahrungsbereiche als Intimsphäre zum Teil gewaltig gebrochen (Jullien, 2014b). In europäischen Traditionen wurde dieses Problem mit kirchlicher und sozialer Moral, Heiratstraditionen und gesellschaftlich durch das Reglement der Ehe gelöst – also auch unterdrückt. Das nimmt nicht weiter wunder, stellt man in Rechnung, mit welcher chaotischen, subversiven und anarchischen Wucht und Irrationalität Liebe und Sexualität in das Leben einbrechen können. George Bataille (1994) verstand das erotische Begehren überhaupt nur als eine Akkumulation versagter Anmutungen.

Bis vor Kurzem wurden Ehe und Familie noch als Grundbausteine der Gesellschaft betrachtet (Fellmann, 2005). Wenngleich nicht verzichtbar, so werden diese Funktionen heute vielfach durch abstrakte Strukturen der Ökonomie und Kommunikation zusammengehalten. Die Sexualität ist freier geworden, gerät aber mit ihren entgrenzten Möglichkeiten in die Nähe konsumatorischer Bedürfnisbefriedigung. Annäherung, Spiel, Erotik und Verführung sind über Social Media einer pornographischen Verfügbarkeit gewichen (Baudrillard, 2012; Han, 2017). Die Ehe steht im Ruf einer sozialen und gesellschaftlichen Kontrollfunktion, die Verzicht fordert und hybride sexuelle Optionen verhindert. Diese Widersprüche zu vereinen, das kann auf individueller und gesellschaftlicher Ebene als Work in Progress bezeichnet werden.

Auf der Welt gibt es eine Vielzahl von Menschen und wir stehen mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt, trotzdem ist die Partnerwahl durch einen Mangel gekennzeichnet (Böhme, 2017). Dies gilt nicht für das fetischistische Programm sexueller Begegnungen (tinder), sondern vor allem für das längerfristige Programm von Bindung und Reproduktivität, in dem von beiden Geschlechtern her (auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren) höhere Selektivität vorherrscht. Dieser Mangel gründet in der Schwierigkeit, mit dem Anderen die evidente Erfahrung einer ,richtigen Passung‘ zu machen, und danach im komplizierten wechselseitigen Prozess des Abbaus von Fremdheit und Angst.

Obwohl von den meisten Menschen die unbegrenzten Programme der Sexualität nur vorübergehend positiv bewertet werden, werden heute auch die Ehe oder langfristige Beziehungen global nicht mehr als gelungene kulturelle Form sexueller Praxis verstanden. Die erotische Anmutung ist etwas Ephemeres (Flüchtiges), die Sexualität kann einschlafen, zur Routine degenerieren oder zur hygienischen Maßnahme verkommen, dasselbe gilt auch für ,Sex auf Bestellung‘. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ehe ist die Sexualität daher nicht nur eine Lust, sondern auch eine Last. Dies bezieht sich auf unterschiedliche Szenarien, etwa dass die unbefriedigte Lust zur Qual werden kann, dass man sich mit lebensbedrohlichen Krankheiten anstecken kann, dass bei jedem Verkehr eine Zeugung stattfinden kann und man damit lebenslange, möglicherweise ungewollte Bindungen eingehen muss. Hier ist Natur nicht nur gegeben, sondern aufgegeben. Unter solchen Umständen kann der Akt zum Artefakt werden (Böhme, 2017). Jede Form der Sexualität bedarf daher der komplexen Verständigung der Partner und Partnerinnen, vor allem, wenn es um die Frage der Bindung, Elternschaft und der Familienplanung geht.

So dies gelingt, kann die Sexualität ein äußerst positives, persönliches Entwicklungsprogramm mit fortwährender existenzieller Herausforderung werden, das man sich dann aber sehr bewusst aufgeben muss. Dies beinhaltet Vorstellungen, die sich nicht auf eingespielte Vertrautheit und Routinen verlassen, sondern in der erotischen Begegnung immer wieder einen riskanten und herausfordernden Versuch der Selbstöffnung erkennen. So besehen stellen Liebe, Erotik, Intimität und Sexualität eine Megaressource des Menschen dar.

Ist es in der Sexualität die Natur, die wir am eigenen Leib als etwas Größeres erfahren, etwas, das uns übersteigt, so ist es in der Reproduktion die Gattung „Mensch“ an sich, als deren Teil man sich erfahren kann (ebd.). Die meisten Paare wünschen sich leibliche Kinder. Diese Sicht bekommt etwas Faszinierendes, daher ist es doch etwas trostlos, sie bloß als Ausdruck eines egoistischen Gens zu deuten (Dawkins, 2005). Zudem verkürzt, denn als Menschen können wir uns sowohl für als auch gegen Reproduktivität entscheiden (Akerma, 2000). Kinder zu zeugen bedeutet, sich in einen unvorhersehbaren Zusammenhang – den erfahrbarer Natur – zu stellen, dessen Konsequenzen man nicht mehr überblicken kann. Es bedeutet, sich als Teil von etwas zu verstehen und sich in dieser Rolle unter Umständen auch in herausfordernde oder leidvolle Lebenslagen zu begeben.

Ein Aspekt dieses Abenteuers ist es, die Zweierbeziehung zu einem Dreieck (oder mehr) zu öffnen, an der Entwicklung neuer Individuen teilhaben zu können und an den Herausforderungen der Rolle der Elternschaft zu wachsen. Damit sind verschiedene Aspekte angesprochen. An der Oberfläche freilich die Versorgung und Verantwortung, im Untergründigen aber stellen Kinder die ,Therapie des Lebens‘ dar. Eltern können ihre Kinder nur respondieren, wenn sie diese über die einzelnen Stufen ihrer Entwicklung in je partieller Regression emotional einfühlend und begleiten. Viele unaufgearbeitete Themen der Lebensgeschichte werden auf diese Weise sublim aktualisiert und einer Neubearbeitung zugeführt. Völlig unbewusst bleibt meist die Interdependenz ,wechselseitiger Bürgschaft‘ zwischen Eltern und Kindern in Form von Dankbarkeit und Schuldgefühlen.

Während in der Literatur ein eigenleiblich gespürter Kinderwunsch für Männer verneint wird (Bullinger, 2017), wird er für Frauen bejaht. Barbara Sichtermann (1999) denkt, dass die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung nur einseitig, beim Mann, vollzogen würde. Das allerdings ist eine Frage, die individuelle und subjektive Überprüfung durch beide Geschlechter braucht. Wohl aber kommen Frauen durch das kleinere Zeitfenster ihrer Reproduktivität signifikant häufiger in den Druck, jenseits eines leiblich gespürten und auf ihren Partner bezogenen Kinderwunsches ihre Familienplanung voranzutreiben. Bildungs- und Karrierewünsche sowie die Notwendigkeit des Mitbestreitens der Subsistenz (Lebensunterhalt; Grundbedürfnisse) machen dieses Problem für Frauen nicht kleiner, sondern größer. Ungewollte Kinderlosigkeit und ungewollte Elternschaft sind häufig ein tabuisiertes, aber wichtiges Thema in der Genese von Störungen. Ein benachbartes, nicht eben kleineres Thema sind die psychischen, sozialen und körperlichen Belastungen durch medizinische Reproduktivität oder Leihmutterschaft (Maio et al., 2013), umso komplexer und prägnanter bei gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kinderwunsch (Müller-Götzmann, 2009). Generell stellt Elternschaft auch ein mögliches Risiko dar (Thomä, 2002).

Mit dem Austrag des Kindes im weiblichen Leib, der Geburt an sich und dem Stillen sind die zwischenleiblichen Erfahrungen (Merleau-Ponty, 1966; Ajuriaguerra, 1970) von Kind und Mutter bei Frauen von Beginn an intensiver als die zwischen Kind und Vater. Nichtsdestotrotz ist die Zwischenleiblichkeit beider Eltern mit dem Kind eine der ursprünglichsten Erfahrungen. Bevor die Sprache und das Sprechen sich entwickeln, findet elterliche Kommunikation mit dem Kind auf rein leiblicher Ebene statt: Einbettung, Berührung, Stimmintonation und Qualität der Blickkontakte vermitteln alles, was das Kind zunächst verstehen kann. Eltern sind in der Befriedigung der Bedürfnisse ihres Kindes vollständig auf ihre Instinkte und Intuitionen angewiesen. Unfähigkeiten oder Behinderungen dieser primären Resonanzprozesse (z. B. durch Depression, Ängste, Trauma) können tiefgreifende Verstörungen beim Kind begründen. Auf diese primären Bedürfnisse – Zärtlichkeit, Halt, Trost, leibliche Orientierung, Begrenzung, spaß- und lustvolle Interaktion usw. – wird im Abschnitt zum Menschenbild noch etwas näher eingegangen.

Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)

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