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Körper und Leib

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Insofern der frühzeitliche Mensch, zu Zeiten Platons Ideenlehre, den Körper als Materie, als Gefäß oder Fahrzeug für die Seele verstand und die Seele als eine den Körper gebrauchende Instanz‘, entfernte er sich vom einheitlichen Leiberleben, sah im schwer zugänglichem Dunklen seiner Leiberfahrungen, in dessen diffusem, irrationalen Wollen eine Art Gegenspieler der Seele oder des Geistes. In der Konstruktion verschiedener Instanzen sind der Alpdruck der Natur und der Versuch seiner Verdrängung zu finden. Auch wenn es unter den Stoikern, etwa mit Hierokles (Inwood, 1984), Philosophen gab, die bereits in die neuzeitlichen Richtungen eines „Selbstbesitzes und der Zugehörigkeit“, sogar eines „Bei-sich-zuhause-Seins“ (griech. oikeiosis) dachten, schlug diese Angst vor dem Leiblichen erst mit der Renaissance in eine wissenschaftliche Erkundung und Entdeckung des Körpers im heutigen Sinne um (Böhme, 1985).

Was man hier im Wortsinn ,ent-deckte‘, ist aber nicht der eigene, lebendige Leib, sondern der Körper des Anderen, ein Körperding, das sich dem ärztlichen Blick preisgibt. Der Körper wird als Maschine konzipiert, die sich über verschiedene Organe und Stoffwechselvorgänge am Leben erhält. Dafür sind Transportsysteme (Blut, Lymphe), Informations- und Steuerungssysteme (Nerven, Gehirn, Hormone), Austauschsysteme (Haut, Immunsystem), reproduktive Systeme (Geschlechtsorgane) und Bewegungssysteme (Gelenke, Muskeln) vonnöten. Innerhalb dieser zergliedernden Vorstellungen werden gleichzeitig mögliche therapeutische Zugangsweisen zum Körperlichen festgelegt. Der Stoffwechsel muss versorgt und reguliert, die Transportsysteme müssen beschleunigt oder gebremst, in die Steuerungssysteme muss eingegriffen, die Immunsysteme müssen unterstützt, die Bewegungssysteme trainiert oder apparativ substituiert werden (ebd., 117).

Die Verwissenschaftlichung des Körpers zeigt sich hier als die radikalste Verdrängung des subjektiv Leiblichen. Wahrnehmungen und Zeugnisse des eigenleiblichen Spürens, die sich durch das anatomische Wissen nicht mehr deuten lassen, werden als bloße Epiphänomene in die Seele oder ins Geistige abgedrängt.

Dabei sind es bezeichnenderweise leibliche Phänomene, die zur Aufnahme einer ärztlichen oder psychologischen Behandlung führen: Unwohlsein und Schmerzen. In cartesianischer Sicht sind Schmerzen Begleiterscheinungen‘, Korrelate nicht funktionierender Systeme, ihre Ursachen werden im Körperlichen gesucht, auch im Rahmen psychischer Symptomatik. Die primäre leibliche Anmutung und das Auf-sich-zusprechen-Lassen des Schmerzes werden als unsinnig gedeutet. Psychosoziale Aspekte von Krankheit, seien sie verursachender Natur oder deren Folgen, werden marginalisiert oder in eine Wechselwirkung hineingedeutet, deren Mechanismus man nicht mehr versteht, weil die Schnittstelle‘ nicht aufgefunden werden kann. Dabei wird gerade die affektive Betroffenheit in der Art und Weise, wie wir leibliche Empfindungen erfahren – der Umstand, dass wir ihnen nicht ohne Weiteres ausweichen können –, zum Anlass, ihnen eine unabhängige Substanz zuzuschreiben, die ,Seele‘. Von dem Moment an aber drängt sich die Frage auf, wie das Problem vom einen in den anderen Bereich hinüberwechseln kann. Und als ob dies nicht alles schon ausreichend kompliziert wäre, wurde dieser Übergang, das ,Somatisieren‘, etwa durch die frühe Psychoanalyse, auch noch als neurotisch und unreif gedeutet.

Damit wird verständlich, dass man von Leib nur sprechen kann, wenn man erstens die Seele – als metaphysisches Konzept, das rein phänomenologisch vom Menschen nicht wahrgenommen werden kann – verneint, zweitens die Rede vom Körper von der über die Leiblichkeit und das eigenleibliche Spüren trennt. Die Existenz des Mentalen scheint an den Körper gebunden zu sein, seine Wahrnehmung an den Leib und die Bedeutungssysteme des Subjekts. Den Körper als solchen kann man nur im Modus der Fremderfahrung wahrnehmen: als den toten Körper des Anderen, als materielles Ding unter anderen Dingen. Leiblichkeit dagegen ist vom Grund her lebendige Selbsterfahrung. Als Leib ist dasjenige zu verstehen, als was ich mich selbst spüre, mit dem Bewusstsein, dass ich es selbst bin, das ich da spüre (Schmitz, 2007a; Böhme, 1985, 120).

In diesem ,eigenleiblichen Spüren‘ ist immer schon das Bewusstsein um sich und die Ökologie des Leibes enthalten, außerdem phylogenetische Informationen – im integrativen Denken spricht Petzold (2011a) vom „informierten Leib“. Die Strukturen eigenleiblichen Spürens entsprechen dabei selten den körperlich-biologischen. In der Selbstwahrnehmung der Leiblichkeit spüren wir die Grenzen des Leibes nicht so, wie wir sie etwa im Spiegel wahrnehmen. Vielmehr zeigt sich eigenleibliches Spüren als ein lockeres Ensemble wahrnehmbarer Leibesinseln mit unklaren Rändern, die schwankend mehr oder weniger stark hervortreten, die okkasionell auftauchen und wieder verschwinden. Hermann Schmitz (2007a) spricht von Engung und Weitung, von Spannung und Schwellung, ergänzend könnte man von Schwere und Leichtigkeit, auch von Hellung und Dunkelung sprechen.

Den eigenen Leib spürt man weder vollständig noch andauernd. Im alltäglichen Tun verschwindet die Wahrnehmung eigenleiblichen Spürens bisweilen fast vollständig. Sie kann sich auf das Spüren einer gerade verrichteten Tätigkeit zuspitzen, hin und wieder verschwindet sie im Rücken hoher Konzentration. Weil es vom Spüren her keine feste und kontinuierliche Konstitution gibt, gilt dieses Phänomen auch für andere Formen eigenleiblicher Wahrnehmung, etwa das Ich, das Bewusstsein, die Identität usw., die in ihrer räumlichen Ausdehnung auch über Körpergrenzen hinaus ausgreifen können. So etwas geschieht etwa in der Wahrnehmung von Atmosphären, beim gemeinsamen Musizieren oder in gemeinsam verrichteter handwerklicher Tätigkeit. Diesen Prozess nennt Hermann Schmitz (ebd.) „Einleibung“.

Obwohl eigenleibliches Spüren eine eigene Kategorie der Wahrnehmungen darstellt, wird es natürlich vom empirischen Wissen über den Körper überlagert. Wenn wir etwa unter den letzten Rippenbögen in der Mitte des Körpers Schmerz wahrnehmen, vermuten wir, dass es der Magen sei, den wir da spüren, aber den Magen als solchen und als Ganzen spüren wir nicht. Wenn wir Lustempfindungen haben, spüren wir den eigenen Leib in der Gegend der Geschlechtsorgane, aber mit ausgeweiteten Rändern. Beim Schreiben dehnen wir unsere Leiblichkeit durch die Hand hindurch bis in die Bleistiftspitze hinein aus. In dieser und ähnlicher Weise betrifft dies das Gesamt des eigenleiblichen Spürens.

Entfremdungsprozesse vom eigenleiblichen Spüren registrieren wir, wenn wir uns im Falle von Unwohlsein nicht mehr zutrauen zu wissen, was mit uns los ist. Der Mensch hochtechnisierter Gesellschaften weiß entweder nichts mehr von seinem Leib, will nichts von ihm wissen oder er möchte die Verantwortung für ihn an Wissenschaftsexperten delegieren. Seine Leiblichkeit ist ihm unheimlich, er kann die leiblichen Regungen nicht mehr als Empfindungen und Gefühle deuten, weiß sich in ihnen nicht zurechtzufinden, noch weniger, sich ihnen hinzugeben, sich vom Angenehmen oder Unangenehmen führen zu lassen. Er hat die Vertrautheit darein verloren. Das kann zu Ängsten und weiter bis zur ständigen Besorgnis, krank zu werden, führen. Bedingungslos begibt er sich dann in die Hände von Spezialisten.

Dort aber wird nur der Körper behandelt. In der neuzeitlichen Medizin geht die Entfremdung von Leiblichkeit so weit, dass in Form evidenzbasierter Behandlungsleitlinien nicht mehr der Mensch, sondern nur noch die vermeintlichen körperlichen Ursachen von Funktionsstörungen medikamentös oder instrumentell manipuliert werden. Obwohl also die Stimmungen und Gefühle leiblich erfahren werden – sie den eigentlichen Grund zur Aufnahme einer ärztlichen Behandlung darstellen – und auch körperliche Schmerzen immer mit affektiver Betroffenheit einhergehen, richtet sich die Behandlung nicht mehr an den phänomenologisch wahrgenommenen Symptomen aus, die den Menschen unmittelbar betreffen.

Begriff und Vorstellung von Leiblichkeit heben mit diesen Überlegungen den Dualismus auf. Der Leib wird zum ersten, unhintergehbaren Ausgangspunkt der Verstehensweisen des Menschen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Diagnostik und Therapie psychischer und psychosomatischer Krankheiten. Wenn der Leib die Einheit darstellt, die die Kategorien des Körpers, der Gefühle, des Geistes, der Erinnerung, der Wahrnehmungen, des Willens und des Verhaltens in das Bild einer einzigen, in sich komplex aufgebauten Entität fasst, ist es nicht mehr nötig, einen wie auch immer gearteten Übergang vom Geistigen ins Körperliche zu suchen. Rein phänomenologisch drücken sich Befindlichkeiten und Verstörungen des Menschen dann auf irgendeiner dieser Ebenen aus und sind nur noch drauf angewiesen, dass sie vom Subjekt oder von Spezialisten richtig verstanden und gedeutet werden, nämlich als vitaler Ausdruck des Lebendigen selbst. Von dort aus beginnt die Suche nach den Sinnimmanenzen von Symptomen auf dem Weg des Sicheinlassens auf die Kontingenz eigenleiblichen Spürens und auf intersubjektive Validierungen der Erfahrungen.

Dennoch bleibt es Aufgabe des Menschen, Körper und Leib zu integrieren. Das gilt für alle Aspekte naturwissenschaftlicher Erkenntnis, etwa der Anatomie und Physiologie, heute insbesondere für die Genetik und Epigenetik, die Resultate der Hirnforschung und der neurohumoralen Prozesse. Und es gilt natürlich auch für Identitätsprozesse, die zum Teil im eigenleiblichen Spüren wurzeln. Leiblichkeit kann nicht ohne ihre Bettung in soziale Kontexte und Ökologie, daher auch nicht ohne ihre Intentionalität gesehen werden. Merleau-Ponty (1966) sprach von einem „Sein zur Welt hin“. In dieser Form ist unsere gesamte phylogenetische Ausstattung auf die Anpassung an unsere Umwelten ausgerichtet (Stefan, 2019). Dies alles will in einen Selbstentwurf im Sinne der Leiblichkeit überführt werden (Petzold, 2011a).

Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)

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