Читать книгу Tarris - Peter Padberg - Страница 12
Einsamkeit
ОглавлениеSie spürte nichts außer Wärme. Seit ihrem ersten Gedanken spürte sie nichts außer Wärme und gemütlicher Enge. Sie fühlte sich geborgen. Jedoch hatte sich die - eine Geborgenheit vermittelnde - Enge in den letzten Jahren geändert. Sie schränkte ihre stärker werdenden Bewegungen ein. Insbesondere der Stachel über ihren Nüstern stieß immer wieder gegen etwas Hartes. Langsam entwickelte sich in ihr das Bedürfnis, das Harte zur Seite schieben zu wollen. Um dies zu erreichen, verstärkte sie ihre Bewegungen weiter. Auch die Flügel und die kräftigen Beine drückten nun gegen das Harte. Sie hörte ein leises Geräusch. Es war das erste, was sie in ihrem Leben überhaupt hörte. Das Geräusch verstärkte sich und endete mit einem Knall, der ihre empfindlichen Ohren füllte. Gleichzeitig zerriss die Dunkelheit um sie herum. Ein schummriges, rötliches Licht umgab sie. Sie streckte und schüttelte sich. Die letzten Schalen des Eies, das so groß wie der Torso eines Homuae gewesen war, fielen von ihr ab. Vorsichtig stand sie auf ihren Beinen und krallte sich am felsigen Boden der Höhle fest. Sie spreizte ihre Flügel, die noch feucht von der nährstoffhaltigen Flüssigkeit im Inneren des Eies waren, um sie zu trocknen.
Sie befand sich auf einer Plattform, die aus der Wand der riesigen Höhle in großer Höhe hervorstand. Das rote Licht stammte von einem Fluss heißer Lava, der sich quer durch den Boden der Höhle zog. Der Fluss aus Lava hielt die Temperatur in der Höhle seit Jahrhunderten auf einer konstanten Höhe, so dass die Höhle ein idealer Platz für Drachenhorte war, in denen die Jungen schlüpfen konnten. Drachenjunge waren sowohl geistig als auch körperlich voll entwickelt, wenn sie schlüpften – mit Schwanz waren sie bereits so groß wie ein ausgewachsener Homuae.
Sie schickte ihre Gedanken auf die Reise, um Kontakt zu ihren Artgenossen aufzunehmen, aber sie entdeckte nichts. Zu diesem Gefühl der Einsamkeit kam Hunger hinzu. Sie sah sich in der Höhle um. Hier gab es einige alte Drachenhorste wie den ihren, aber kein Anzeichen von Leben. Hinter jeder der Terrassen, auf denen sich die Horste befanden, gab es einen großzügigen Eingang zu den Wohngemächern. Sie ging durch den Gang hinter ihrem Horst und war überrascht. Fast jeder der Räume, die von dem Gang abzweigten, war über und über mit Schätzen angefüllt. Es war ein unermesslicher Reichtum. Dies zeigte ihr aber auch, dass die Höhle seit langer Zeit von niemandem aufgesucht worden war. Weder von anderen Drachen noch von anderen Wesen. Außer den Schätzen gab es wenig zu entdecken. In einem Raum gab es mehrere riesige Schlafstätten und in einem weiteren einen engen Gang, der weit in die Tiefe führte. Auch fand sie zwei Bassins, die aus kleinen Rinnsalen mit frischem Wasser gefüllt wurden. Eines war fast schon ein kleiner Tümpel und dient zur Reinigung, das andere diente als Tränke. Sie nahm einen großen Schluck. Das Wasser war tiefblau, eisig kalt und schmeckte köstlich. Zu jedem Raum gab es einen Lichtschacht, der aus weiter Höhe ein wenig Sonnenlicht in die Räume ließ. Alle Wände waren sehr glatt geschliffen.
Nachdem sie die Schätze genauer angeschaut hatte, kam es ihr vor, als würde etwas aus dem hinteren Raum Kontakt zur ihr knüpfen. Ihre empfindlichen Augen konnten aber nichts außer den Geschmeiden entdecken, die in diesem Raum aufgehäuft waren. Sie ging wieder zum Horst, legte sich hinein und war bald eingeschlafen. Sie träumte von Dingen, die sie eigentlich gar nicht kennen konnte. Sie flog durch eisige Winde zwischen schneebedeckten Berggipfeln, über eine weite Wüste und kreiste dort um einen riesigen Vulkan. Andere Drachen entdeckte sie auch in ihren Träumen nicht. Sie wurde gerufen. Sie wurde mit ihrem Namen gerufen. In dem Moment, in dem sie den Namen träumte, wusste sie, dass es der ihre ist. Maranda! Sie erwachte und befand sich wieder im Jahr 2900 n.d.A.
Der Hunger hatte stark zugenommen. Maranda würde sich auf Nahrungssuche begeben müssen. Sie blickte von ihrer Plattform suchend in die Höhle. Da war nichts außer Stein und glühender Lava. Sie richtete sich auf und schlug prüfend ihre ledrigen Flügel. Die Spannweite war deutlich größer als ihr Körper lang war. Maranda visierte eine etwas tiefer liegende Plattform auf der anderen Seite der Höhle an und schwang sich in die Tiefe. Ihre Flügel hielten sie hervorragend in der Luft und sie spürte die aufsteigende Hitze, als sie den Feuerstrom passierte. Maranda wagte einen ersten Flügelschlag. Dieser katapultiere sie mehrere Meter in die Höhe. Sie war nun zu hoch, um auf der Plattform zu landen. Schnell zog Maranda die Flügel an und flog wie ein Stein auf die Plattform zu. Obwohl sie die Flügel schnell wieder ausbreitete, war die Landung schmerzhaft. Maranda schaute sich um, aber auch wenn sie nun weiter in die Höhle hineinsehen konnte, gab es nichts Neues zu entdecken. Erneut schwang Maranda sich in die warme Höhlenluft und folgte, vorsichtig ihre Flügel einsetzend, dem Lauf der Höhle. Weit vor ihr spannte sich eine schmale Brücke in großer Höhe und in einem Bogen von einem zum anderen Rand der Höhle. Es war etwas dunkler geworden, da der Lavastrom durch einen Tunnel in der Höhlenwand verschwunden war. Ihre empfindlichen Augen konnten aber immer noch hervorragend sehen. Sie landete auf der höchsten Stelle der Brücke. Maranda nahm leise Geräusche wahr, konnte aber nichts sehen. Die Geräusche näherten sich ihr und ihre Jagdinstinkte meldeten sich. Maranda bewegte sich vorsichtig in einen tiefen Schatten am Rande der Brücke und wartete geduldig. Lange Zeit passierte nichts, aber dann sah sie etwas langsam über den Boden krabbeln. Es waren zwei schwarz glänzende Geschöpfe, die auf sechs Beinen liefen. Jedes war ungefähr halb so groß wie Marandas Körper. Maranda nahm Gedanken wahr, die sie aber nicht verstehen konnte. Abschätzend blickte sie auf die beiden Geschöpfe tief unter ihr. Der Hunger machte sich wieder bemerkbar. Ohne weiter zu zögern, stürzte Maranda sich auf eines der beiden Wesen. Fast geräuschlos näherte sie sich und wurde erst im letzten Moment bemerkt. Es war aber zu spät. Maranda griff sich das Wesen mit ihren Krallen im Flug, beschrieb eine enge Kurve und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Horst. Das andere Wesen gab schnatternde und klappernde Geräusche von sich und folgte ihr bis zum Lavastrom. Diese Barriere konnte es nicht überwinden. Maranda hatte ihren Horst fast erreicht, als sie einen heftig stechenden Schmerz in ihrem Bein spürte. Das Wesen hatte sich mit seinen Mandibeln in ihrem Bein verbissen. Maranda war vor Schmerz nicht in der Lage, sich bei der Landung mit dem verletzten Bein abzustützen und rollte über die Plattform bis zum Eingang hinter ihrem Horst. Das Wesen hatte sie dabei verloren. Es stand am Rande der Plattform und starrte Sie mit glitzernden Facettenaugen an. Die sichelartigen Kiefer öffneten und schlossen sich langsam, während das Geschöpf mit einer langen Zunge das Blut von den Sicheln leckte. Es stammte von Marandas Bein.
Maranda spürte, wie sich in ihrem Kopf eine Wärme entwickelte, die sich dann schnell über ihren Rücken bis in den Schwanz ausbreitete. Der Schmerz aus ihrem Bein ließ deutlich nach und sie fühlte sich auf einmal kräftiger als in jeder Minute ihres bisher sehr kurzen Lebens. Ohne Vorwarnung rannte das Wesen auf seinen sechs Beinen auf Maranda zu. Es öffnete seine Mandibeln weit und sah angsterregend aus. Maranda wartete die wenigen Sekunden ab, bis es sie fast erreicht hatte und sich die Kiefer-Sicheln in ihre Brust bohren wollten. Kurz bevor dies geschah, brachte sie sich mit einem leichten Flügelschlag aus der Gefahrenzone. Knapp unter ihr schlossen sich die Mandibeln mit einem klappernden Geräusch. Genau in diesem Moment schnappte Maranda mit ihrem kräftigen Raubtiergebiss zu und trennte den Kopf des Wesens vom zweigliedrigen Rumpf. Violettes Blut spritzt in feinen Tröpfchen durch die Luft und färbte Horst und Höhlenwände. Maranda wandte sich ihrer ersten Jagdbeute zu, um den Hunger zu stillen.
Wochen waren vergangen. Maranda hatte gelernt, wie die schwarzen Insekten gejagt werden mussten, um ohne Aufwand den großen Hunger zu stillen, den ihr stetiges Wachstum bedingte. Sie schlief nun in einer der großen Schlafstätten in den Gemächern ihrer Höhle, da der Horst schnell zu klein für sie geworden war. Ihr Fliegen war stetig besser geworden und entsprach nach kurzer Zeit bereits dem Flug einer riesigen Schwalbe.
Das Licht aus dem Lichtschacht, das das Schlafgemach erhellte, kündigte den frühen Morgen eines neuen Tages an, als Maranda wiederum spürte, dass etwas aus der Schatzkammer sie rief. Sie erwachte und schaute sich um. Wie immer war keine Bewegung zu erkennen. Jedoch konnte Maranda den Versuch der Kontaktaufnahme nicht aus ihrem Kopf verbannen. Der Gedanke, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, trieb sie in den Raum mit den Geschmeiden. Maranda ließ ihren Blick über die Schätze wandern, die sich trotz des nur schwachen Lichtes deutlich von dem glatten, dunkeln Gestein der Wände des Raumen abhoben. Suchend schickte sie ihre Gedanken in den Raum, um den Versuch der Kontaktaufnahme zu erwidern. „Komm zu mir“, schien die freundliche Antwort direkt aus dem Berg aus Gold zu kommen. Maranda ging zu den Schätzen und begann, diese vorsichtig zu untersuchen. Sie nahm dabei viele der schöneren Stücke in ihre mit scharfen Klauen bewehrten Vorderpfoten, um sie genauer zu betrachten. Darunter waren goldene, mit glitzernden Juwelen besetzte Kronen, Dolche, Ringe und eine Vielzahl anderer Geschmeide, die allesamt höchsten Handwerkskünsten genügten. Maranda hatte gerade ein silbernes Kettenhemd in Ihre Pfoten genommen, als ihr der darunterliegende Ring auffiel. Obwohl er golden schimmerte, schien er doch aus einem anderen Material zu sein. Er war mit einem wunderbar rötlich leuchtenden Stein besetzt und mit feinen Mustern verziert. Maranda legte das Kettenhemd zur Seite und griff nach dem Ring. Im Moment der Berührung glühte der Stein des Rings in einem tiefen Rot auf, als wenn Leben in ihm wäre. Gleichzeitig fühlte Maranda die mittlerweile vertraute Wärme der Magie, die zwischen ihr und dem Ring hin und her wanderte. Maranda fühlte sich unendlich stark; der Ring verlieh ihr Kraft. Er flüsterte in ihrem Kopf. „Willkommen Maranda. Ich bin Feuerfreund. Setze mich auf Deinen Finger.“ Maranda sah sich zweifelnd den Ring an. Auch wenn sie lange noch nicht ausgewachsen war, war der Ring für ihren Finger deutlich zu klein. Im Moment dieses Gedankens dehnte sich der Ring exakt auf die Größe von Marandas kleinstem Finger. Maranda stülpte ihn auf den Finger. Der Ring zog sich ein wenig zusammen und saß fest und leuchtend hinter der Klaue. Er gefiel Maranda außerordentlich gut und sah so aus, als wenn er schon immer dort hin gehört hätte.
„Was bist Du?“, wandte sich Maranda an den Ring auf ihrem Finger. Es kam ihr in keiner Weise merkwürdig vor, mit einem Geschmeide Gedanken auszutauschen. Der Ring schien nachzudenken, bevor sich eine Flut von Bildern in ihren Kopf ergoss. Es war wie eine lange Erzählung, in der der Ring erläuterte, wie er magisch geworden war und eine Art Bewusstsein erlangt hatte. Er selbst konnte nichts tun, konnte jedoch die Macht eines magisch begabten Wesens dramatisch verstärken und lebte mit diesem in einer Art Symbiose, von der beide in vorzüglicher Weise profitierten. Er war immer schon Diener und Partner eines Drachen gewesen und hatte mit diesem viele Abenteuer, Kämpfe und Schlachten erlebt. Der Drache war vor vielen hundert Jahren von einem Magae getötet worden und Feuerfreund war dann in diesen Raum gebracht worden. Er wusste seit Jahrzehnten, dass Maranda ebenfalls magische Fähigkeiten haben würde und wartete geduldig auf ihr Schlüpfen. Feuerfreund leitete all seine Erfahrungen und sein Wissen, dass er im Laufe der Zeit erworben hatte, an Maranda weiter. Es war unglaublich. In wenigen Momenten wusste Maranda, was ein Jahrhunderte alter Drache wusste – und war, von einem Moment auf den anderen, erwachsen. Wenn auch nicht an Körpergröße. Feuerfreund zeigte ihr, welche Dinge sie beide zusammen vollbringen konnten und Maranda war erschrocken über die gewaltige Macht, über die sie nun verfügte. Diese Macht würde ihr helfen, die verschlossene Höhle zu verlassen.
Der Flug vom Horst zum Erdrutsch war ein Erlebnis für Maranda. Sie nahm die Luft so deutlich wahr, als wenn sie ein Lebewesen wäre, das ihren Körper und ihre Schwingen umschmeichelte. Ihre Flügelschläge waren deutlich kräftiger und die Geschwindigkeit, mit der sie flog, wäre ihr noch vor einer Stunde als unglaublich vorgekommen. Sie war begeistert von ihren Fähigkeiten und flog übermütig eine Rolle um die Brücke, bevor sie sich zum Ende der Höhle und zum verschütteten Eingang aufmachte. Sie flog zu einem kleinen Steinhügel, der ungefähr fünfzig Schritte von dem Erdrutsch entfernt war. Maranda konzentrierte sich und sammelte die magische Energie. Durch das Wissen, das Feuerfreund an sie weitergegeben hatte, wusste sie genau, was zu tun war. Während sie von einer großen Wärme erfüllt wurde, lief die magische Energie wie Peitschenhiebe von Feuerfreund zu ihr und wieder zurück. Dieser Vorgang wiederholte sich im Bruchteil einer Sekunde mehrfach und mit jedem Peitschenhieb schaukelte sich die Kraft weiter auf und wurde stärker und stärker. Der Moment war gekommen. Die Magie strömte aus Feuerfreund als rot leuchtender Blitz mit ungeheurer Geschwindigkeit in Richtung Felsrutsch. Feuerfreund schickte ihr seine Freude über das erste gemeinsame Handeln in einem Gedanken. Die Energie traf auf den Fels und verflüssigte ihn in kurzer Zeit. Die Hitze und die Helligkeit des brennenden Steines waren überwältigend. Das Feuer leuchtete in schimmernden Rot- und Goldtönen. Die Energie fraß sich durch den Stein und hinterließ einen runden Gang, durch den auch ein ausgewachsener Drache bequem hätte fliegen können. Der Durchbruch ins Freie erfolgte mit einem lauten Knall, als heiße Luft nach Draußen strömte.
Maranda stoppte den gewaltigen Strom der magischen Energie. Nachdem sich der Qualm verzogen hatte, konnte sie blauen Himmel am Ende des Ganges erkennen. Die magische Energie hatte sich fast zweihundert Schritte durch den Fels geschnitten und einen absolut geraden Gang mit Wänden ohne jeden Makel hinterlassen. Die Wände schimmerten leicht wie schwarzes Ebenholz. Es duftete nach Schwefel. Maranda stand erschöpft auf ihrem Hügel und schaute sich verwundert um. Es hatte sich ein See aus flüssigem Stein gebildet, der langsam erstarrte und so eine glatte große Fläche bildete. Aus der Mitte der Fläche ragte ihr kleiner Hügel wie eine Insel hervor. Da der neu geschaffene Gang in einem leichten Winkel nach oben zeigte, war das Gestein zurück in die Höhle geflossen. Wiederum nutzte Maranda ihre neuen Kräfte und beschleunigte so ihre Erholung nach der großen Anstrengung. Maranda konnte es kaum erwarten. Sie schwang sich in die Höhlenluft und flog durch den Gang. Mit einem Freudenschrei verließ sie die Höhle. Maranda war befreit.