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Napoda
ОглавлениеDer Süden war heiß und die Luft flimmerte – und Gandaros hatte bereits eine weite Reise hinter sich. Er war der Kaiserstraße in Richtung Süden gefolgt und dies war der einfache Teil seiner Reise gewesen. Die Kaiserstraße war gut befestigt und nicht zu steinig, so dass er schnell reiten konnte. Das Wetter war gut und er ritt fast immer unter einem klaren Winterhimmel. Es war der Winter zwischen den Jahren 3216 und 3217 n.d.A. Nachdem die Kaiserstraße die Berge um Hornstadt verlassen hatte, führte sie ausschließlich durch Ebenen und Hügellandschaften, bis sie die „Heißen Berge“ erreichte. Sie hatten ihren Namen erhalten, da sie direkt an der Wüste Tart lagen und ständig ein heißer Wind über sie wehte. Während sich in den Hügellandschaften Wälder und saftig grüne Wiesen befanden, wurde auf den Ebenen Ackerbau betrieben und nur wenig Vieh gehalten. Mit dem Anstieg zum Hord-Pass, der den Eintritt in die Wüste Tart darstellte, wurde es deutlich wärmer und auch die Vegetation nahm ab.
Gandaros‘ Ziel war Napoda, wo er hoffte, König Geminiano davon zu überzeugen, die freien Völker in einem möglichen Kampf gegen den Nordosten zu unterstützen. Gandaros wusste, dass Geminianos Verstand durch einen schweren Sturz gelitten hatte und es schwierig war, ihn von irgendetwas zu überzeugen oder zu irgendetwas zu begeistern. Er war eher launisch und unberechenbar. Daher plante Gandaros entgegen seinen Gewohnheiten, ihn mit Hilfe seiner Magie zu beeinflussen. Dies entsprach nicht dem Kodex des Rates der Erfahrenen und so wählte er den beschwerlichen Umweg zum Vulkan Tarutos, um sich das Einverständnis für dieses verwerfliche Unterfangen von seinen Brüdern im Rat einzuholen. Napoda verfügte über ein sehr großes und schlagkräftiges Heer und ebenfalls über eine fast unüberwindbare Flotte, da es sich ständig im Krieg mit den Piratenfürsten und Sklavenhändlern an der Südküste von Tarris weiter im Osten befand. Sollte es tatsächlich zu Auseinandersetzungen mit den Nordlanden kommen, wäre Napoda ein überaus wichtiger Verbündeter.
Gandaros stand auf dem Hord-Pass und blickt auf die Wüste hinab. Auch wenn der Himmel immer noch von keiner Wolke verdeckt wurde, überaus klar war und dadurch eine weite Sicht ermöglichte, konnte Gandaros nichts außer Sand vor sich erkennen. Die Wüste schien endlos und direkt über dem Sand flimmerte die Hitze. Er wusste jedoch, dass er bei schnellem Vorwärtskommen bereits nach einigen Tagen den Tarutos sehen würde. Gandaros plante, den direkten Weg zum Tarutos zu nehmen, der von hier aus gesehen südlich und einige wenige Grad östlich lag. Die meisten Reisenden wanderten oder ritten von den Heißen Bergen direkt nach Süden und schwenkten nach Osten ab, wenn sie den Tarutos erkennen konnten. Diese Stecke war zwar ein wenig weiter, jedoch vermied man auf ihr die Ruinen der „Toten Stadt“, von denen schon oft behauptet wurde, dass dort merkwürdige Dinge geschehen. Gandaros war bereits einige Male durch die Tote Stadt geritten, hatte allerdings keine merkwürdigen Dinge gefunden. Zudem gab es hinter der Toten Stadt einige Kakteenfelder, bei denen er seinen Wasservorrat aufstocken wollte. Gandaros hielt sich nicht lange auf dem Pass auf, sondern ritt bald schon die Serpentinen hinunter, füllte an einem Brunnen, der dort angelegt worden war, Wasser in die vielen Wasserschläuche, die er mit sich führte und ritt dann auf geradem Weg in die Wüste Tart.
Am Ende des fünften Tages in der Wüste erreichte Gandaros die ersten Ausläufer der Toten Stadt. Er hatte deutlich länger gebraucht als geplant, da er sich fast einen ganzen Tag in seinem Zelt vor einem Sandsturm verkriechen musste. Er hatte sein Pferd, nachdem er es gezwungen hatte, sich in den Sand hinter einen kleinen Felsen zu legen, dort festgebunden und unter einer großen Decke versteckt, die er genau aus diesem Grund mitgenommen hatte. Glücklicher Weise konnte es sich nicht losreißen und hatte den Sturm unbeschadet überstanden.
Einst war die Tote Stadt von vier Oasen umgeben und so hatte sich vor langer Zeit mitten in der Wüste ein Handelszentrum und ein Ort blühenden Lebens gebildet. Die Homuae waren „vor der Annäherung“ in der Lage gewesen, mechanische Pumpanlagen zu bauen, die ohne Hilfe arbeiteten und das Grundwasser aus tiefem Gestein unter der Wüste an die Oberfläche förderten. Wie alle diese automatischen Geräte stellten auch die Pumpen kurz nach den Explosionen in Sol ihren Betrieb ein und die Stadt starb einen schnellen Tod. Heute war die Stadt nur noch eine riesige Ruine aus hellen, gelblichen Steinen, obwohl es noch das ein oder andere Gebäude gab, das die Jahrtausende überdauert hatte und an die beeindruckende Baukunst der Homuae früherer Zeiten erinnerte.
In einem dieser Gebäude, das sich im südlichen Teil der Stadt befand, wollte Gandaros übernachten. Er folgte einer breiten Straße, die dick mit Sand bedeckt war, die aber aufgrund der verfallenen Gebäude, die sie auf beiden Seiten begrenzte, immer noch als Straße erkennbar war. Gandaros ritt durch eine bedrückende und staubige Szenerie, bis er nach fast zwei Stunden das hohe Gebäude sah, das aus den Ruinen herausragte. Es war viele Stockwerke hoch und verfügte über eine große Eingangshalle, deren Vorderfront aus dickem Glas bestand. Das Glas war durch zahllose Sandstürme so zerkratzt, das es undurchsichtig geworden war und eher wie eine milchige Steinwand wirkte. Die große Tür befand sich nicht mehr an ihrem Platz und lag vermutlich unter der dicken Sandschicht, die den Boden bedeckte. Auch in der Halle gab es kein Stück sandfreien Boden. Gandaros band sein Pferd an einer Metallstange fest, die aus dem Sand herausragte und versorgte das Tier. Es war nur noch wenig Futter übrig und auch die Wasservorräte hatten stark abgenommen. Dann nahm er ein wenig seiner Holzvorräte und entzündet ein kleines Feuer. Es würde bald dunkel werden und der Wechsel vom Tag zur Nacht erfolgte hier im Süden von einen Moment zum anderen; auch würde die Temperatur schnell sinken, aber in diesem fast geschlossenen Raum würde das Feuer für ein wenig Wärme sorgen. Er aß ein wenig und legte sich schlafen.
Gandaros dachte an die beschwerlichen Aufgaben, die auf Fanir und, Maurah zukommen würden und war gerade dabei, in einen traumlosen Schlaf zu fallen, als er hochschreckte. Er hatte Geräusche gehört und auch das Pferd hatte seine Ohren aufgestellt. Gandaros stand auf, schob Sand auf das Feuer und lauschte in die Nacht hinaus, konnte aber erst kein weiteres Geräusch hören. Als er sich gerade wieder hinlegen wollte, hörte er es wieder; es kam von draußen und wurde lauter. Gandaros ging zur Tür und lugte vorsichtig nach draußen. Im Licht der Sterne konnte er viele, aus Osten kommende Homuae und Wagen sehen, die sich sehr langsam in seine Richtung bewegten – es war eine Karawane. Die Wagen hatten Räder mit sehr breiten Laufflächen, damit sie nicht in den Wüstensand einsanken. Diese verursachten das leise Geräusch, das ihn geweckt hatte. Die Homuae der Karawane sahen weder kriegerisch noch wie Sklavenhändler aus, so dass er sein Feuer wieder entzündete, vor das Gebäude trat und den Ankömmlingen zuwinkte. Dies war eine gute Gelegenheit, um Neuigkeiten aus den südlichen Gebieten zu erfahren.
Zwei Berittene lösten sich aus der Karawane und näherten sich in langsamen Trap Gandaros. Beide trugen Kleidung, wie sie in den Städten des Südens üblich war: Leichte Schuhe, weite bunte Hosen, die mit vielen Ziernähten versehen waren sowie eine Weste, in die an vielen Stellen Metalle eingearbeitet waren, die tagsüber in Sonne glitzerten. Alles stand sogar jetzt, wo es dunkel war, in einem starken Kontrast zu der fast schwarzen Haut der beiden Homuae. Es war keineswegs Kleidung, die für eine lange Reise oder einen Ritt durch die Wüste geeignet war. Gandaros begrüßte sie nicht in der „gemeinen Zunge“, die überall auf Tarris gesprochen wurde, sondern in der Sprache der Städte des Südens. „Seid willkommen und Gott sei mit Euch! Es ist schon spät und hier ist ein guter und sicherer Platz zum Lagern. Wollt Ihr Euch zu mir setzten und Euch ein wenig mit mir unterhalten? Ich bin Gandaros vom Rat der Erfahrenen und Ihr seid mir herzlich willkommen!“ Die beiden wechselten einen Blick und schauten dann Gandaros ehrfurchtsvoll an. Offensichtlich wussten sie, wer er war und hatten schon die eine oder andere Geschichte über ihn gehört. „Gott sei auch mit Euch und herzlichen Dank für Euer Angebot hier rasten zu dürfen. Wir werden es gerne annehmen – wann haben wie schon die Gelegenheit, mit so einem berühmten Magae wie Euch sprechen zu dürfen. Unsere Namen lauten Anayu und Angabluu und wir wollen diese Karawane zum Tarutos führen. Aber wenn Ihr erlaubt, erzählen wir Euch später mehr. Wir müssen den Homuae der Karawane mitteilen, dass wir hier sicher rasten können und Ihr uns vor den Geistern der Toten Stadt beschützen werdet. Die Rast wird uns gut tun, da wir schon lange ohne Pause reisen. Ohne Euch hätten wie es nicht gewagt, an diesem Ort zu verweilen.“
Kurz darauf hatten mehr als 300 Homuae damit begonnen, ihr Lager vor der Halle mit den milchigen Glasscheiben aufzuschlagen. Sie stellten Ihre Wagen quer über die drei Straßen, die sich vor dem Gebäude trafen, wodurch das Lager sich ein wenig geschützt fühlen konnte und die zahlreichen Pferde, Esel und Kamele nicht fortlaufen konnten. Nachdem bereits die ersten Lagerfeuer brannten, kehrten Anayu und Angabluu zusammen mit einigen Mitgliedern der Karawane zu Gandaros zurück, der sie am Eingang erneut willkommen hieß. Sie brachten Feuerholz, Speisen und Getränke mit. Gandaros war hoch erfreut, als er sah, dass sie ein kleines Weinfass mitgebracht hatten und schaute sich die Neuankömmlinge an. Es waren ein alter Mann und eine nicht weniger alte Frau. Ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er erkannte, dass die alte Frau Zola war, ein ehemaliges Mitglied des Rates der Erfahrenen. Vor vielen Jahren hatte sie den Tarutos verlassen und war in ihre Heimat Napoda zurückgekehrt, um dort dem Herrscher im Kampf gegen die Piraten zu unterstützen. Sofort ging er auf sie zu und nahm sie in seine Arme.
„Drückt nicht zu fest Gandaros, ich bin kein junges Mädchen mehr!“ sagte Zola, ebenfalls mit einem freudigen Lächeln. Anayu, Angabluu und der dritte Homuae machten einen überaus verblüfften Gesichtsausdruck, als sie sahen, dass die beiden sich gut kannten. Anayu ergriff das Wort. „Lasst uns ein größeres Feuer und es uns gemütlich machen. Dann können wir uns etwas besser kennen lernen und ein wenig essen und trinken.“ Nachdem das Feuer etwas höher flackerte und es sich alle im Kreis darum bequem gemacht hatten, sah Gandaros den Zeitpunkt gekommen, seine Neugierde zu befriedigen. „Nun verratet mir, was eine Karawane mitten in der Wüste in der Toten Stadt zu suchen hat. Ich bin hoch erfreut, dass ich hier Gesellschaft habe – aber was tut Ihr hier?“ Unerwarteter Weise antwortete nicht einer der beiden Anführer, sondern Zola, die sich aber zuerst an Anayu und Angabluu wandte. „Bitte verzeiht mir, Anayu und Angabluu, dass ich das Wort ergreife. Aber da Gandaros ein alter Bekannter von mir ist, denke ich, dass ich ihm das berichten kann was er wissen muss. Und vor allem kann ich ihm erklären, was hier im Süden passiert ist, seit er das letzte Mal in Napoda war.“ Ohne eine Antwort oder ein Zeichen des Einverständnisses der beiden abzuwarten, sprach sie weiter.
„Seit Ihr das letzte Mal bei uns in Napoda gewesen seid, Ser Gandaros, sind nun fast zwei Jahre vergangen und seitdem haben sich einige Dinge geändert. Ein oder zwei Monate, nachdem Ihr uns verlassen hattet, es war im Frühjahr 3215, bat einer unserer grausamsten Feinde, der Piratenfürst Geaulli Drake, um ein Gespräch mit König Geminiano. Nachdem König Geminiano zugestimmt und dem Piratenfürsten freies Geleit zugesagt hatte, segelte er mit fünf Schiffen in unseren Hafen und ging dort vor Anker. Zwei der Schiffe waren riesige, neuartige Galeeren, über die die Piraten bisher nicht verfügt hatten. Sie waren mit großen Rammspornen ausgestattet, die aus Metall oder mit Metall überzogen waren und die bedrohlich im Wasser glitzerten. Es war offensichtlich, dass er mit diesen neuen und gefährlichen Schiffen seinen Verhandlungsstandpunkt stärken wollte. Neben König Geminiano nahmen auf unserer Seite der ganze Beraterstab und auch sein Sohn Gannio, den Ihr gut kennt, an dem Treffen teil. Geaulli Drake brachte drei seiner Kapitäne mit, die genauso wie er selbst schwer bewaffnet kamen. Geaulli Drake erklärte, dass er sich mit seinen Piratenbrüdern weiter im Osten verbündet habe und er vom Herrscher des Ostens, dem Großherzog Dakaron, genauso wie viele andere Piratenfürstentümer der gesamten Südküste Tarris‘, Kaperbriefe erhalten und Unterstützung zugesagt bekommen hätten. Er drohte offen, dass er in Zukunft nicht nur die Schiffe von Napoda und kleine Dörfer angreifen, sondern auch gegen Napoda selbst vorgehen würde. Dies könne nur verhindert werden, wenn Geminiano sich bereit erklären würde, Zahlungen für die Sicherheit seines Volkes zu leisten. Eine solche Dreistigkeit hatte keiner der Ratsmitglieder erwartet und so herrschte bedrücktes Schweigen in dem Beratungsraum, bis Gannio das Wort ergriff. Für ihn in eher ruhiger Weise – Ihr kennt ihn ja – teilte er den Piraten mit, dass Napoda sich keinesfalls von Piraten erpressen lassen wolle. Er fügte auch hinzu, dass Drohungen das Miteinander zwischen Piraten und dem freien Napoda wohl nicht weiterbringen würden und bat die Piraten, unverzüglich die Stadt zu verlassen. Nachdem keines der Ratsmitglieder etwas hinzufügte, beschimpfte einer der Piratenkapitäne den Prinzen, wie er als kleines Kind es wagen könne, sie der Stadt zu verweisen. Gannio lächelte und wiederholte seine Aufforderung an die Piraten, die Stadt zu verlassen. Daraufhin zog der Kapitän seinen Degen, stand auf und wollte auf Gannio losgehen. Die Wächter reagierten und durchbohrten den Kapitän mit Pfeilen. Ohne ein weiteres Wort trugen die anderen Piraten den Kapitän aus der Halle zu ihren Schiffen. Sie hinterließen eine rote Blutspur auf dem hellen Marmorboden der Palasträume. Es war absehbar, dass es keine weiteren Verhandlungen geben würde.
Der erste Angriff erfolgte zwei Monate später. Die Piraten griffen mit fast zwanzig Schiffen an, konnten jedoch unter großen Verlusten von unserer Flotte gestoppt werden. Die neuen Galeeren versenkten einige unserer Schiffe und viele Soldaten starben. Nach diesem Angriff gab Geminiano plötzlich die Schuld seinem Sohn, da er bei dem Treffen mit den Piraten diese erzürnt hatte – eine dumme Anschuldigung – und ließ ihn unter Hausarrest stellen. Seit dieser Zeit hat er seine Gemächer nicht mehr verlassen. König Geminiano scheint nicht nur nicht mehr einschätzen zu können, was sinnvoll und angebracht ist, sondern wird zunehmend wahnsinnig. Als seine Berater ihn davon überzeugen wollten, dass Gannio nicht für die Angriffe der Piraten verantwortlich gemacht werden könne, ließ er sie alle vor der Stadt aufhängen. Sie hängen noch immer dort, wenn auch die Krähen nicht mehr viel von ihnen übrig gelassen haben. Er hat die Flotte vor Napoda zusammengezogen, so dass die Dörfer in Richtung Osten schutzlos den Piraten ausgeliefert sind. Da er beschädigte Schiffe nicht mehr reparieren lässt, werden es mit jedem Angriff der Piraten weniger. Ich befürchte, es verbleiben nur wenige Monate Zeit, bis die Piraten Napoda plündern werden! Die Stimmung in der Stadt ist fast schon so schlecht wie die in den Dörfern Richtung Osten. Die Homuae, die mit mir unterwegs sind, stammen aus drei Dörfern, die sich weiter im Osten befinden. Sie konnten die andauernden Angriffe der Piraten nicht mehr ertragen und wollten in Napoda Schutz suchen. Geminiano hat ihnen aber den Zutritt zur Stadt versagt. Da sprach dann auch ich mit ihm, leider ebenfalls ohne Erfolg. Er sagte mir, ich solle mich zur Hölle scheren und die Leute aus den Dörfern gleich mitnehmen. Dies tat ich und wir sind nun auf dem Weg zum Tarutos, um dort um Schutz zu bitten. In Napoda gibt es nun keinen Magae mehr, der der Stadt helfen könnte. Die Lage dort ist sehr schlecht und die Einwohner leben in ständiger Furcht.“
Gandaros blickte zunehmend sorgenvoll während des Berichtes von Zola. Er hatte sie als eine sehr weise und überlegte Frau kennengelernt und zweifelt ihre Einschätzung der Lage nicht an. „Im Tarutos werdet Ihr bestimmt den Schutz erhalten, den Ihr sucht und Euch ein wenig erholen können. Ich selbst bin auch auf dem Weg dorthin und ich denke, wir sollten zusammen bis dort reisen.“ Er wandte sich an Zola. „Ich teile Eure Sorgen hinsichtlich der Lage in Napoda, aber nicht nur dort gibt es Probleme. Ich bin auf dem Weg zum Rat, um über die Lage in ganz Tarris zu sprechen … und um etwas zu bitten. Wir beide können uns auf dem Weg bis zum Tarutos ausführlich darüber unterhalten. Wir sollten nun die trüben Gedanken bis morgen zur Seite schieben. Lasst uns etwas essen und trinken.“ Die Stimmung wurde besser während des Essens, konnte jedoch nicht als wirklich gut bezeichnet werden. Alle gingen nachdenklich zu Bett.
Sie benötigten fünf weitere Tage, bis sie den Tarutos deutlich über dem Flimmern des Wüstensandes erkennen konnten. Zusammen mit der Karawane benötigte Gandaros deutlich länger, als wenn er alleine geritten wäre, jedoch konnte er die Gelegenheit nutzen und viele Einzelheiten von dem erfahren, was in den letzten zwei Jahren in Napoda passiert war. Diese Informationen würden sich noch als hilfreich erweisen. Auch war die Reise durch die eintönige gelbe Sandwüste, die nur in größeren Abständen durch kleine Ansammlungen von säulenartigen, dunkelgründen Kakteen mit violetten Blüten unterbrochen wurde, mit Begleitern wesentlich angenehmer.
Der Tarutos war als erloschener Vulkan ein fast perfekter Kegel, der nur an seiner Spitze abgeflacht war. Er diente dem Bund der Erfahrenen seit hunderten von Jahren als Heimat. Magae und Gelehrte aller Völker von Tarris trafen sich hier und versuchten gemeinsam, dem Wohl von Tarris zu dienen. Der schwarze Stein, aus dem der Tarutos bestand, hob sich in starkem Kontrast von dem gelben Wüstensand und dem blauen Himmel ab. Im unteren Drittel konnten die Ankömmlinge den riesigen, höhlenartigen Durchgang zur Stadt im Inneren des Berges erahnen, der im tiefen Schatten lag. Eine hohe und massive Mauer, in der sich zwei Tore befanden, durchzog den Eingang von Westen nach Osten. Die Mauer war für Verteidigungszwecke durchaus geeignet und befand sich etwas zurückversetzt in dem riesigen Tunnel, so dass sich auf den Wehrgängen der Mauer befindende Verteidiger nicht vor einem Angriff vom oberen Tunnelrand fürchten mussten. Nachdem Zola und Gandaros kurz mit dem Anführer der kleinen Wachmannschaft gesprochen hatte, wurden beide Tore für die Karawane geöffnet. Den Ankömmlingen bot sich ein faszinierendes Bild. Der Tunnel wurde von einem Licht erleuchtet, das teils in Blau- und teils in Rottönen direkt aus der glatten, felsigen Wand zu kommen schien. An den Rändern des Durchganges standen langgestreckte Gebäude, die als Kasernen für Soldaten angelegt worden, jedoch größten Teils nicht besetzt waren. Es gab Trainingsplätze für Schwertkämpfer, Bogenschützen und auch Magae zwischen den Kasernengebäuden und an manchen Stellen hörten die Mitglieder der Karawane, wie Stahl auf Stahl schlug oder wie sich magische Blitze donnernd entluden. Der Tunnel ersteckte sich hunderte von Schritten durch die Wand des Berges, bevor sie einen Blick auf das von Sonnenlicht durchflutete Innere des Tarutos werfen konnten.
Dass es so hell war, lag daran, dass in die leicht überhängenden, inneren Wände des Berges große spiegelnde Fläche eingelassen waren, die über ein ausgeklügeltes System das Licht von Sol in jeden Winkel des Bergesinneren reflektierten. Das Weiterkommen der Gruppe stoppte, da alle erstaunt und begeistert das Bergesinnere musterten. In der Mitte der kreisrunden Fläche des Vulkanbodens befand sich ein sehr hoher Wehrturm, der den Rand des Vulkans leicht überragte. Zwischen Turm und Rand des Schlotes betrug der Abstand fast 300 Schritte in jede Richtung. Der Turm selbst hatte ebenfalls einen Durchmesser von 300 Schritten – es war ein gewaltiges Gebäude! Aus den inneren Wänden des Berges waren direkt aus dem Stein Häuser, Hallen, Plätze, Säulen und große Tempel herausgearbeitet. Da der Berg nach oben hin enger wurde, befanden sich in den unteren Etagen größere Hallen und Plätze und im oberen Teil eher kleinere Wohnkavernen. Auf der dem Eingang gegenüber liegenden Seite entsprang in fast 400 Schritten Höhe ein größerer Bach dem Fels und stürzte in einen kleinen See. In dem feinen Wassernebel, der dabei entstand, schimmerte ein tagsüber nicht verblassender Regenbogen. Durch die höhere Luftfeuchtigkeit, die von dem Wasserfall erzeugt wurde, wuchsen überall nicht nur Palmen und Kakteen, sondern Pflanzen die aus dem tiefsten Inneren eines Regenwaldes stammen konnten.
An der Seite des Turmes in der Mitte des Vulkans öffnete sich eine kleine Tür, aus der ein gedrungener Mann trat. Er trug Sandalen, einen Lendenschurz und eine rote Kette, die sich stark von seiner hellen Haut abzeichnete. Er stütze sich auf einen weißen Stab, der am oberen Ende, das ihn um mehrere Fuß überragte, blau glänzte. Er kam nur langsam näher und es dauerte eine ganze Weile, bis er die Ankömmlinge erreichte, die nach wie vor fasziniert das Innere des Berges bestaunten. Als er sie erreicht hatte, nickte er zuerst Zola und Gandaros zu und wandte sich dann an die beiden Anführer Anayu und Angabluu, die ihn um drei Köpfe überragten. „Herzlich willkommen im Tarutos beim Bund der Erfahrenen und Gott sei mit Euch! Ich bin Kilalurak und bin der erste Sekretär hier im Tarutos. Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches?“ Anayu und Angabluu blickten erstaunt auf ihn hinunter, da sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Eskimaten gegenüberstanden. Angabluu erzählte kurz ihre Geschichte; wer sie waren und warum sie zum Tarutos gezogen waren. Kilalurak nickte wieder, überlegte kurz und sprach dann mit überraschend lauter Stimme an die ganze Gruppe von Ankömmlingen. „Eure Anführer haben mir berichtet, warum Ihr hierhergezogen seid. Selbstverständlich seid Ihr willkommen, der Bund der Erfahrenen wird niemandem, der sich in Not befindet, seine Hilfe versagen. Ich denke, es ist das Beste, wenn Ihr erst einmal hinter dem Turm am See Euer Lager aufschlagt. Wir werden dann beraten, wie wir Euch auf zur Zeit nicht bewohnte Häuser und Kasernen verteilen können, damit jeder von Euch erst einmal ein Dach über dem Kopf hat – auch wenn es hier nicht schneit oder regnet“, fügte er mit einem Blick nach oben hinzu. „Ich schicke Euch jemanden, der Euch den Lagerplatz zeigt“, sagte er und fast im gleichen Moment öffnete sich erneut die kleine Seitentür des Turmes und eine junge Frau näherte sich der Gruppe.
Kilalurak wandte sich nun an Zola und Gandaros, wobei er den sonst üblichen, sehr höflichen Ton außer Acht ließ. Er freute sich sehr, sie zu sehen. „Alte Freunde, schön, dass Ihr Euch noch einmal hier sehen lasst – und dann auch noch beide auf einmal! Kommt mit. Lasst uns in den Turm gehen und uns ein bisschen über alte Zeiten unterhalten. Das ist ja nun wirklich eine Überraschung! Und mit diesen Worten umarmte er erst Zola und schüttelte dann heftig Gandaros die Hand. Zum Abschluss wollte er Gandaros noch auf die Schultern klopfen, erreichte jedoch nur seinen Rücken, woraufhin Gandaros schmerzhaft das Gesicht verzog. Die junge Frau erklärte bereits der Karawane, wo sie sie hinbringen würde.
Der Saal des Hohen Rates befand sich direkt unter der Wehrplattform des Turmes und es war der einzige Raum der Stadt, von dem aus man in die Wüste schauen konnte. Er befand sich ein wenig höher als der obere Rand des Vulkans und Gandaros bot sich ein fantastischer Blick, der von nichts begrenzt wurde. Im Süden konnte er in weiter Ferne das Meer und den dicht bewachsenen, grünen Küstenstreifen erahnen, im Norden, Westen und Osten sah er ein faszinierendes Spiel von Licht und Schatten, dass durch den untergehenden Sol und die leicht hügelige Wüstenlandschaft verursacht wurde. Nachdem sie sich während eines kurzen Imbisses unterhalten hatten, bat er Kilalurak, schnellstmöglich den Rat einzuberufen. Abgesehen von Magras und Karameen, die in Wogende Ebene und in Hornstadt weilten, waren einschließlich ihm selbst und Zola alle Mitglieder des Rates versammelt. In der Mitte des Raumes stand ein großer runder Tisch, an dem auch 50 Personen Platz gefunden hätten. Der Tisch bestand aus einem zwei Schritte breitem Reifen aus Stein, der eine Landkarte von Tarris umfasste, die kunstvoll dreidimensional aus Holz geschnitzt worden war. Jeder einzelne Berg, jede Bucht, jeder Fluss, jede Einzelheit war aus dem Holz herausgearbeitet worden. Wälder, Wüsten, Felder und Wiesen waren farblich dargestellt. Es wäre eine perfekte Abbildung von Tarris gewesen, wenn nicht im Laufe der Zeit Festungen oder Dörfer verschwunden und Städte gewachsen wären.
Während Gandaros noch das Farbenspiel der Wüste betrachtete, trafen die anderen Ratsmitglieder in dem Raum ein und setzten sich an die für sie vorgesehenen Plätze des Tisches. Insgesamt gab es zurzeit dreizehn Mitglieder im hohen Rat der Erfahrenen, die aus allen Teilen von Tarris stammten. Offizieller Anführer des Rates war Gandaros, der aber selten im Tarutos zugegen war. Daher lag die Verantwortung für schwierige Entscheidungen häufig bei Kilalurak, der das Amt des ersten Sekretärs innehatte. Da sich der Rat als eine Gemeinschaft verstand, wurden Entscheidungen immer diskutiert und nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Es war schon seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen, dass der Meister des hohen Rates oder der Sekretär eine Entscheidung gegen die Mehrheit durchgesetzt hatten. Gandaros und Zola begrüßten alle Mitglieder des Rates sehr herzlich. Sie alle kannten sich mindestens schon seit Jahrzehnten, einige bereits seit Jahrhunderten.
„Seid willkommen, Schwestern und Brüder des hohen Rates“, eröffnete Kilalurak das Treffen. „Das älteste Mitglied unseres Rates, Ser Gandaros, bat darum, dass wir uns schnell zusammenfinden, da er Euch über wichtige Dinge unterrichten möchte. Gandaros, Zola und ich haben uns bereits über diese Dinge unterhalten, die er Euch jetzt erläutern wird, und Zola und ich sind ebenso der Ansicht, dass es auf Tarris Veränderungen gibt, über die wir sprechen müssen und zu denen wir uns auch – heute – überlegen müssen, wie wir weiter vorgehen möchten. Gandaros, bitte beginnt.“
„Liebe Freunde, zuerst möchte ich Euch etwas sehr Erfreuliches berichten. Wir Ihr wisst, befinde ich mich seit einiger Zeit auf der Suche nach magisch begabten Homuae, deren Begabung so stark ausgeprägt ist, dass wir Ihnen die Gelegenheit geben sollten, hier im Tarutos von uns ausgebildet zu werden. Wenn Sie sich beweisen, sollen sie Mitglieder im Rat werden. Karameen und ich habe bisher drei Kandidaten gefunden, denen wir es wirklich zutrauen, diesen Weg zu gehen.“ Unter den Ratsmitgliedern kam ein erstauntes, aber auch erfreutes Gemurmel auf, da alle vor dem Beginn der Suche dachten, dass sie niemanden finden würden. „Es sind ein Mädchen und zwei Jungen. Gleich zwei von ihnen stammen aus Hornstadt, einer kommt ganz aus der Nähe, nämlich aus Napoda.
Das Mädchen heißt Maurah, und Karameen hat sie als erste von den dreien entdeckt. Die Magie in ihr ist sehr stark und wie Karameen mir berichtete, sind ihre Fähigkeiten bei der Beeinflussung anderer Lebewesen auch ohne Training außergewöhnlich gut entwickelt. Karameen denkt, dass sie in Zukunft über weitaus größere Fähigkeiten verfügen wird als die, die sie selbst hat. Karameen hat bereits die erste Stufe der Ausbildung von Maurah begonnen. Sie möchte bei ihr sein, wenn die Magie sich gegen sie auflehnen wird und sie beim Bezwingen der Magie unterstützen – damit auf keinen Fall die Magie die Überhand gewinnt. Und sie wird ihr den Jagdbogen Iactis geben!“ Wieder kam überraschtes Gemurmel aus der Runde. Wenn Karameen, die jeder hier nicht nur schätzte, sondern fast schon bewunderte, einem Kind den Jagdbogen geben wollte, musste sie von ihm mehr als überzeugt sein. Dies war ein überaus positives Zeichen. „Karameen und Maurah sind schon gemeinsam in einen Kampf verwickelt worden und Maurah hat sich gut geschlagen. Karameen ist – und Ihr wisst, dies kommt nicht oft vor – sehr verwundert darüber, wie schnell und wie gut das Mädchen lernt. Ich hoffe, dass Maurah im kommenden Jahr zusammen mit dem Jungen aus Hornstadt hier eintreffen wird.
Dieser heißt Fanir und bei ihm ist es weniger verwunderlich, dass er über eine starke magische Befähigung verfügt. Er ist ein Nachkomme von Lord Farnos! Ihr wisst, wie eng ich mit Farnos bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden war. Dieser Junge erinnert mich sehr an ihn und seine magische Kraft scheint ähnlich der von Farnos zu sein, wobei er auch die besondere Begabung für die Verbindung des Schwertkampfes mit der Magie besitzt. Da er im gleichen Dorf wie Maurah lebt, habe ich Karameen gebeten, ihn in die Übungen einzubeziehen, die sie mit Maurah durchführt, damit auch er eine erste Ausbildung erfährt.“ Gandaros machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. „Und ich habe eine noch bessere Nachricht für Euch: Er ist im Besitz von Sternenstaub!“ Die Ratsmitglieder sprangen von ihren Stühlen auf und jubelten ausgelassen wie kleine Kinder. Dass Sternenstaub, eines der großen Artefakte, wieder aufgetaucht war, war eine überaus gute Nachricht, da sie dem Rat Macht gab, wenn Tarris auf seine Hilfe angewiesen wäre. „Das Schwert wurde in seiner Familie immer vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben und so ist es dann zu Fanir gekommen, der es in einer Kiste aufbewahrt hat.
Der dritte, den wir im Auge haben, ist Prinz Gannio aus Napoda. Es ist eine Weile her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe, aber seine magische Kraft war vor zwei Jahren bereits deutlich zu spüren. Ich werde bald vom Tarutos nach Napoda reisen und ihn dann eingehender prüfen und ihm erläutern, was es mit der Magie auf sich hat. Dies ist aber nicht der einzige Grund, warum ich nach Napoda gehe. Um Euch dies zu erklären, haben wir uns heute hier versammelt. Und nun kommen wie zu den schlechteren Nachrichten.
Karameen, Magras und auch ich selbst haben viele Hinweise darauf erhalten, dass Dakaron in den Nordlanden ganze Landstriche unterjocht hat und sein Streben nach Macht und Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches zu einem Problem für ganz Tarris werden könnte. Auch gibt es Anzeichen, die darauf hinweisen, dass es ihm gelungen ist, Wrokorks nach Tarris zu holen und dass er nach den großen Artefakten sucht. Ihr alle wisst, was dies bedeutet. Zola hat mir berichtet, dass die Piraten der Südküsten Kaperbriefe aus dem Nordosten erhalten hätten und ihnen Unterstützung zugesagt wurde. Dies würde bedeuten, dass Dakarons Einfluss schon wesentlich weiter reicht, als ich es in meinen schlimmsten Befürchtungen auch nur angenommen habe. Aus diesem Grund versuchen Karameen und ich, Verbündete für eine mögliche Konfrontation zu finden – und dies ist der zweite Grund, warum ich nach Napoda muss. Es könnte schneller als es nur einer hier in diesem Raum gedacht hätte nötig sein, auf die Flotte und Kampfkraft von Napoda Zugriff zu erhalten. Ich werde mit König Geminiano sprechen und versuchen, ihn für unsere Sache zu gewinnen. Dies wird aufgrund seiner Kopfverletzung eine echte Herausforderung werden – und daher habe ich dieses Treffen auch einberufen, um Eure Zustimmung für ein Unterfangen einzuholen, dass unserem Kodex wiederspricht.“ Die Regeln des Rates der Erfahrenen waren heilig und zum ersten Mal, seit sie sich heute zusammengesetzt hatten, erschien ein missbilligender Gesichtsausdruck bei dem einen oder anderen Ratsmitglied. Gandaros hatte nichts anderes erwartet; er selbst dachte schließlich ähnlich. „Ich bin selbst nicht sicher, ob ich Euch um Eure Zustimmung zu dieser Sache bitten darf und habe lange überlegt, ob ich dies tun soll. Jedoch bin ich der Überzeugung, dass wir NICHTS unterlassen dürfen, was Tarris und seiner Bevölkerung helfen könnte! Daher möchte ich Euch bitten, mir zu gestatten, Geminiano mit Hilfe der Magie gefügig zu machen und uns seine Unterstützung zu sichern.“
Hatten die Mitglieder bei der Verkündung, dass Sternenstaub gefunden sei, gejubelt, so waren nun entsetzte Äußerungen zu hören. Wie konnte ihr Meister Gandaros sie um die Zustimmung zu solch´ einer verwerflichen Tat bitten. Niemals, außer im Kampf, sollte die Magie gegen einen Homuae eingesetzt werden – dies war eine der höchsten Regeln. Es gab heftige Diskussionen, die sich über Stunden hinzogen, wobei insbesondere Zola, die das Leid der Menschen in Napoda gesehen hatte, Gandaros heftig unterstützte. Zu einem Ergebnis, ob Gandaros seine Magie zur Beeinflussung des Königs einsetzten dürfe, kamen sie nicht. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als sie beschlossen, beim Frühstück eine Entscheidung zu treffen.
„Ich befürchte, sie haben den Ernst der Lage nicht erkannt“, sagt Zola zu Gandaros und Kilalurak. Diese drei waren die letzten, die sich noch im Raum befanden. „Ihr denkt wie ich, alte Freunde, dass der Rat an dem einen oder anderen Punkt zu sehr an seinen Regeln festhält und sich von den Bedürfnissen der Homuae und von der Realität entfernt hat. Ich befürchte nur, dass das „Jetzt“ sie schneller als sie denken einholen wird. Es gibt meiner Meinung nach keine Alternative. Wir müssen alles tun, um uns auf mögliche militärische Aktionen des Nordostens vorzubereiten und wir müssen Tarris-weit Verbündete finden. Um jeden Preis! Sollten wir morgen nicht schnell eine Einigung finden, werde ich auf meinem Recht als Meister bestehen! Dies würde mit Sicherheit Zerwürfnisse im Rat bedeuten, aber ich glaube nicht, dass wir eine andere Möglichkeit haben. Lasst uns schlafen gehen und abwarten, was unsere Freunde sich bis morgen früh überlegen“, beendete Gandaros das Treffen.
Sol war gerade über der Wüste Tart aufgegangen, als sich bereits alle Ratsmitglieder im Versammlungsraum eingefunden hatten. Den Ratsmitgliedern war anzusehen, dass sie lange über den gestrigen Abend nachgedacht hatten; keiner von ihnen wirkte ausgeschlafen. Alle unterhielten sich untereinander in kleinen Gruppen, als Gandaros das Wort ergriff. „Es ist gut, dass Ihr nun Eure Gedanken untereinander austauscht – wir sollten eine gemeinsame Entscheidung treffen. Bitte unterhaltet Euch in Euren Gesprächen auch darüber, wie sich der Rat generell gegenüber dem Nordosten und seinem Herrscher verhalten soll. Ich möchte von Euch wissen, wie wir strategisch weiter vorgehen sollen. Es muss unser Ziel sein, eine verbindliche, gemeinsame Vorgehensweise festzulegen.“
Es wurde lautstark, gestikulierend und kontrovers diskutiert und die Diskussionen in den sich ändernden Gruppen hätten wahrscheinlich sehr lange angedauert, wenn nicht plötzlich ein Wachsoldat in den Raum gestürmt wäre. „Ladies und Sers, habt Ihr nicht bemerkt, was am Horizont im Nordosten zu sehen ist?“ Alle waren mit Ihren Gesprächen sehr beschäftigt und sahen den Wachsoldaten an, als wenn er aus einer anderen Welt zu ihnen gestoßen sei. „Meine Damen, meine Herren! NAPODA BRENNT!“ Nun stoppten alle Diskussionen und Gespräche und alle sahen den Wachsoldaten an. Es dauerte jedoch nur Sekundenbruchteile, bis jeder einzelne im Versammlungsraum den Blick nach Nordosten wandte. Dort lag Napoda, das aufgrund der Entfernung nicht zu sehen war. Was jedoch jeder deutlich sehen konnte, war eine grau-schwarze, dicke Rauchsäule, die sich vor den blass-blau schimmernden Morgenhimmel legte. Sie stieg genau dort auf, wo Napoda liegen musste. Zola liefen bereits Tränen über die Wangen, als sie schrie „In Napoda gibt es keinen Magae – wir müssen helfen! Die Piraten greifen an!“ Jeder im Raum wurde nun endgültig aus seinen Gedanken und in die Realität gerissen. Gandaros nutzte die Gelegenheit. „Liebe Freunde, viele unserer anstehenden Diskussionen haben sich erübrigt. Die Piraten würden Napoda nicht angreifen, wenn sie keine ernsthafte Unterstützung hätten. Dies bedeutet für uns, dass wir im Sinne des Wohls von Tarris eingreifen müssen. Es steht außer Frage, dass die Unterstützung der Piraten tatsächlich durch den Nordosten erfolgt. Daher bitte ich jeden von Euch, Eure Kontakte zu den Völkern auf Tarris zu nutzen, um Verbündete zu finden, die uns in einer möglichen Auseinandersetzung zur Seite stehen. Ich selbst werde mich um den König von Napoda und um Napoda selbst kümmern – und ich hoffe, Ihr stimmt meiner Vorgehensweise zu. Bitte bemüht Euch; wir müssen notfalls in der Lage sein, kampfkräftige Armeen aufzustellen und – dies muss Euch bewusst sein – es ist wahrscheinlich, dass wir um unsere Freiheit kämpfen müssen! Tragt Sorge, dass die Träger der beiden Artefakte, wenn sie hier ankommen, schnell und intensiv ausgebildet werden. Hat jemand von Euch Einwände?“ Einigen der Mitglieder des Rates war anzusehen, dass sie nicht wirklich mit Gandaros Vorgehensweise und seinen „Befehlen“ einverstanden waren, aber alle gaben mit einem Nicken – wie es üblich war – Ihr Einverständnis. „Habt Ihr eine Idee, wie ich möglichst schnell nach Napoda komme?“ Zola gab die Antwort mit einer Frage. „Habt Ihr noch zwei abgerichtete Fledermäuse hier? Ich werde Gandaros begleiten“, wandte sie sich an Kilalurak.
Der Zwinger befand sich hoch in der nördlichen Innenwand des Tarutos, wo es immer sehr warm war und dadurch ideale Bedingungen für die Aufzucht der jungen Riesenfledermäuse bestanden. Hunderte der Raubtiere lebten hier und wurden von den Bewohnern des Tarutos gehegt und gepflegt. Die Fledermäuse hatten sich im Laufe der vielen Jahre an die Homuae gewöhnt und flogen zur Jagd an die Südküste; das Innere des Tarutos attackierten sie seit langer Zeit nicht mehr. Sie waren für die Magae, die sich auf Gedankenebene mit Ihnen verbinden konnten, treue, wenn auch sehr aggressive Reittiere geworden, die die schnellste Möglichkeit darstellten, auf Tarris zu reisen. Zola und Gandaros wählten zwei ausgewachsene, kräftige Exemplare, die sie schnell nach Napoda bringen würden.
Am frühen Nachmittag waren sie bereits auf dem Weg und sahen, wie die Wüste unter ihnen hinwegflog. Sie flogen in hohem Tempo und unterbrachen ihre Reise erst am frühen Abend, als sie an der einzigen Oase, die es auf dem Weg vom Tarutos nach Napoda gab, rasteten. Eine Quelle an einem großen, aus dem Wüstensand ragenden Felsen speiste einen kleinen See mit kristallklarem Wasser. Um den See herum war ein schmaler Uferstreifen dicht mit Palmen und Gräsern bewachsen und es gab drei Steinhütten, die vor langer Zeit für Reisende vom Rat der Erfahrenen angelegt worden waren. Abgesehen von einigen Vögeln war am heutigen Tage kein Lebewesen in der kleinen Oase zu entdecken. So machten es sich Zola und Gandaros in einer der Hütten zusammen mit ihren Reittieren bequem und gingen nach einem kurzen Abendessen schnell zu Bett.
Sie brachen auf, bevor Sol sich am Horizont gezeigt hatte und es war eisig kalt in der Luft, sodass die beiden Magae ihre Fähigkeiten einsetzten, um sich selbst zu wärmen. Das dicke Fell der Fledermäuse schien diese gut zu schützen. Zola und Gandaros fühlten durch die Gedankenverbindung, dass ihren Reittieren der Ausflug sehr viel Spaß bereitete. Mit ihrer Flügelspannweiter von fast 7 Homuae rasten sie knapp über dem Wüstensand dahin und umkurvten dabei die in der Dunkelheit kaum zu sehenden Sandberge artistisch. Die beiden Magae fühlten, wie sich die Fledermäuse an den von den Sandhügeln verursachten Reflektionen ihrer in hohen Tönen ausgestoßenen Schreie orientieren und so sicher ihren Weg fanden.
Wenige Flugstunden später erhob sich Sol im Osten vor ihnen über den Horizont. Der Immer noch dichte Rauch über Napoda wurde nun wieder deutlich sichtbar. Sol befand sich von ihrem Standpunkt aus gesehen hinter dem Rauch und nur wenige Lichtstrahlen drangen wie einzelne Speere durch ihn hindurch. Die Rauchwolke wirkte wie eine Bedrohung, die das Licht verschluckte. Schnell erwärmte Sol die Wüste und sie flogen wieder höher, ohne die vom Wüstensand abgestrahlt Wärme weiter zu benötigen. Auch wenn der Flug beeindruckend und ein echtes Erlebnis war, wurde er doch schnell eintönig. An der Wüste unter ihnen änderte sich nichts und der stetige Schlag der großen Flügel und das damit verbundenen Rauschen wirkten fast einschläfernd. So nutzen die beiden Magae die Zeit, um die Verbindung zu ihren Reittieren zu intensivieren und eine Art Freundschaft aufzubauen. Es war gut möglich, dass sie bald gemeinsam gegen die Piraten kämpfen würden und da würde ein blindes Verständnis zwischen Fledermaus und Magae eine entscheidende Komponente für den Erfolg werden. Die Riesenfledermäuse waren gefährliche Kämpfer. Ihr Raubtiergebiss hatte eine enorme Größe und war leicht in der Lage, den Kopf eines Homuae oder auch eines noch größeren Wesens mit einem Biss vom Rumpf zu trennen. Die lederartigen, grauschwarzen Flügel endeten in gewaltigen, mit langen gelben Klauen versehenen Greiforganen, die zwar nur vierfingrig, jedoch abgesehen von der Größe durchaus mit der Hand eines Homuae vergleichbar waren und geschickt eingesetzt werden konnten. Durch ihre Wendigkeit und Geschwindigkeit konnten die Riesenfledermäuse selbst einem kleinen Drachen gefährlich werden.
Am späten Vormittag waren das Meer und Napoda am Horizont zu erkennen. Napoda war eine große und wohlhabende Stadt und das Weiß ihrer Gebäude stand in einem wunderbaren Kontrast zu der tiefblauen Farbe des Meeres. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr wurde das Farbenspiel von Natur und Stadt durch Feuer, Qualm und Rauch gestört.
Auf dem Meer vor der Stadt befanden sich über 100 Piratenschiffe, die leicht an ihren ausnahmslos schwarzen Segeln zu erkennen waren. Fast ein Drittel dieser Flotte bestand aus großen Kriegsgaleeren, die außer der Takellage mit vielen Ruderbänken bestückt waren. Diese Schiffe waren trotz ihrer Größe wendig und verfügten wegen der vielen Ruderer, aber auch durch ihre schlanke Bauform, über eine gute Beschleunigung, die sie ständig für Rammstöße gegen die Schiffe der deutlich größeren Flotte aus Napoda einsetzen. Hinter den, den Angriff führenden Schiffen der Piraten befanden sich ungefähr 20 plump wirkendende, aber riesige Schiffe, die mit großen Katapulten bestückt waren. Ständig schossen sie Brandgeschosse auf Napoda und viele der küstennahen Gebäude brannten bereits und sorgten für den aufsteigenden Qualm, den sie bis zum Tarutos gesehen hatten. Zola und Gandaros überflogen das Kampfgeschehen auf dem Meer und konnten beobachten, wie mehrere der Kapitäne aus Napoda versuchten, einzelnen Galeeren zu umzingeln und in den Kampf zu zwingen. Sie versuchten, ihnen den Vorteil der Geschwindigkeit und der Rammstöße zu nehmen. Gerade war dies fünf Schiffen aus Napoda gelungen. Zwei der fünf Schiffe gingen jeweils längsseits und zerbrachen dabei die Ruder der Galeere. Sofort begann die Enterung und die napodianischen Soldaten überrannten den hinteren Teil der Galeere in Windeseile und hackten sich durch die Piraten. Die Soldaten trugen Rüstungen und metzelten die Piraten, die nur leichtes, gehärtetes Leder trugen, erbarmungslos nieder. Im geordneten Vorgehen waren die Soldaten mit ihren schweren Rüstungen den Piraten überlegen. Das Hinterdeck glänzte bereits vom Blut der Piraten. Im Kampf Mann gegen Mann war die leichte Rüstung der Piraten von Vorteil, da sie wendiger waren. Das Vorgehen der Soldaten stoppte plötzlich in der Mitte des Schiffes. Dort hatten sich einige Piraten um einen großen Krieger geschart und leisteten erbitterten Wiederstand. Der Zweihänder des Kriegers wurde mit großer Gewalt gegen die herandrängenden Soldaten geführt und teilte in einem waagerecht geführten Schlag einen Soldaten in Bauchhöhe trotz der Rüstung in zwei Hälften und verletzte den neben ihm stehenden Soldaten tödlich. Blut spritzte in einer Fontäne aus dem Torso. Gandaros spürte plötzlich eine zunehmende magische Aura auf dem Schiffe und nur sekundenbruchteile später fuhr eine gewaltige magische Entladung in die vorderste Reihe der angreifenden Soldaten. Der Gestank verbrannten Fleisches war auch in der Luft über dem Schiff schnell wahrnehmbar.
Zola und Gandaros sahen sich erschreckt an. Der Krieger war ein Wrokork. Dies bedeutete, dass der Nordosten bereits aktiv in Auseinandersetzungen weit entfernt von seinem Territorium eingriff und erste Verbündete gefunden hatte. Dies erklärte auch die neuen Schiffe der Piraten, die mit Ruderbänken und Rammspornen ausgerüstet worden waren. In diesem Moment fuhr ein magischer Blitz in das dritte, sich dem Bug der Piratengaleere nähernde napodianische Schiff und brannte ein Loch in dessen Bug in Höhe der Wasserlinie. Wie ein Sturzbach lief das Meerwasser in das Schiff, das zusehends schneller und schneller Schlagseite bekam. Panisch begannen die Soldaten auf dem sinkenden Schiff, ihre Rüstungen auszuziehen, aber es gelang kaum einem rechtzeitig. Sie versanken wie Steine zusammen mit ihrem Schiff im Meer.
Gandaros zog sein Schwert und lenkte seine Fledermaus in einen Sturzflug, wobei er dem Tier in Gedanken unbändige Freude auf den bevorstehenden Kampf vermittelte. Die Fledermaus wurde schneller und schneller und zog ihren Sturzflug in einer engen Kurve in eine Flugbahn, die parallel zu Meeresoberfläche und in Deckhöhe der Galeere verlief. Die Fledermaus kannte das Ziel. Gandaros rief seine Magie und erschuf einen armdicken, gleißenden Lichtstrahl, der ihrer Flugbahn vorauseilte und ein armdickes Loch durch die Brust des Wrokorks brannte. Die Fledermaus stieß einen markerschütternden Kampfschrie aus. Sekundenbruchteile später waren Gandaros und sein Reittier bereits bei dem Wrokork, der zu überrascht war, um auch nur eine Reaktion zu zeigen. Gandaros Schwert trennte den Kopf des Wrokorks vom Rumpf, der durch die Macht des Schlages in die Luft gewirbelt wurde. Eine kleine Änderung der Flügelstellung der Fledermaus bewirkte eine abrupte Richtungsänderung, so dass es den Kopf in der Luft schnappen und verschlingen konnte.
Gandaros spürte die Freude des Tiers über die Beute und seinen Wunsch, weitere Gegner zu finden. Er war sich aber darüber im Klaren, dass die Piraten und ihre Verbündeten nun schnell wissen würden, dass die Napodianer magischen Beistand erhielten. Zukünftige Kämpfe würden schwieriger werden, wenn die Überraschung nicht mehr auf ihrer Seite war. In einer eleganten Kurve gewannen die beiden an Höhe und passten ihren Flug dem von Zola und ihrer Fledermaus an. Zwischen den Schwingen der beiden Fledermäuse war kaum eine Handbreit Platz. „Wir sollten dringend zu König Geminiano fliegen und mit ihm besprechen, wie wir die Stadt von dieser Piratenplage befreien können. Und …. was haltet Ihr davon, wenn wir auf dem Weg zu den Königshallen mit dem Beseitigen der Plage beginnen?“ Zola schaute ihn belustigt an. „Dies ist meine Aufgabe in dieser Stadt. Aber lasst uns vorab den Schiffen, die für das Feuer in Napoda verantwortlich sind, Einhalt gebieten. Wir müssen uns nicht in einen lange dauernden Kampf einlassen – lasst uns nur die Katapulte beschädigen! Dann fliegen wir auf direktem Weg zu den Königshallen und beschäftigen uns mit der einen oder anderen Galeere auf dem Weg dorthin. Einverstanden?“ Bevor Zola das letzte Wort ausgesprochen hatte, flog Gandaros Fledermaus bereits in Richtung der riesigen, plumpen Schiffe, ohne dass Gandaros auch nur einen Befehl oder einen Gedanken gesendet hätte.
Zola bat die Fledermaus, schneller zu fliegen, um zuerst bei den Schiffen mit den Katapulten anzukommen. Wie ein Pfeil schossen sie an Gandaros und seinem Reittier vorbei und näherten sich schnell den großen Schiffen. Auf jedem der dreizehn Schiffe befand sich ein mächtiges Katapult auf dem hinteren Teil des Vorderdecks. Vor den Katapulten waren in ordentlichen Reihe kopfgroße Tongefäße aufgereiht. Dies mussten die Brandgeschosse sein, die mit Hilfe eines großen Zündholzes, das in einer Feuerschale neben den Katapulten lag, entzündet wurden. Als sie noch eintausend Schritte entfernt waren, spürte Zola eine unbestimmte Gefahr und schickte eine gedankliche Warnung an ihre Fledermaus. Gleichzeitig sandte sie ihre Magie in die Feuerschalen und ließ das Feuer erst hell auflodern und dann, als wenn es ein Lebewesen wäre, sich auf die Tonkrüge zubewegen. Der erste Krug explodierte, kurz nachdem das Feuer ihn erreicht hatte. Die Explosion war heftig und wurde von einem lauten Donner begleitet. Das Donnern wurde zu einem heftigen Gewitter, als weitere Krüge explodierten und das Vorderschiff in einem flammenden Inferno verging. Brennende Piraten sprangen schreiend ins Wasser, um sich vor den Flammen zu retten.
Die Explosionen waren so heftig, dass Zolas Fledermaus durch die Druckwellen aus ihrer Flugbahn geworfen wurde. Dies war für die beiden Angreifer ein großes Glück im Unglück, denn so verfehlten sie die magischen Blitze, die von vier der restlichen zwölf Schiffe auf sie zurasten. Reiter und Reittier erlitten leichte Verbrennungen, blieben aber sonst unversehrt. Während die magischen Blitze der Wrokorks sich in der Luft hinter Zola auflösten, griff Gandaros an. Er wusste nun, von welchen der Schiffe besondere Gefahr drohte und mit welcher Art von Angriffen er und sein Reittier rechnen mussten. Die Fledermaus flog in hohem Tempo und einem wilden Zick-Zack-Kurs auf den Verband der Kampfschiffe zu und nutze dabei die hoch züngelnden Flamme und den Rauch des Feuers so gut wie möglich als Deckung. Gandaros schickte seinen gleißenden Lichtstrahl, mit dem er auch schon den ersten Wrokork angegriffen hatte, in schneller Folge gegen die Katapulte der drei ihm am nächsten befindlichen Schiffe. Während zwei der drei Katapulte zersplitterten, zerbarst der dritte Lichtstahl an einem zuerst nicht zu sehenden Hindernis, das dann aber an der Stelle, an der es von dem Lichtstahl getroffen wurde, in einem dunklen Grün erstrahlte. Der Wrokork, der sich auf diesem Schiff befand, hatte einen magischen Schutzschild erschaffen, der den Lichtstahl in Funken, die in alle Richtungen davonrasten, zerbersten ließ. Gandaros kümmerte sich nicht weiter um den fehlgeschlagen Versuch, sondern wandte sich den Schiffen zu, auf denen sich kein Wrokork befand. Blitze zuckten von vier Seiten auf ihn zu, doch durch die schnellen Richtungsänderungen und die hohe Geschwindigkeit der Fledermaus verfehlten sie ihn weit. Seine nächsten drei Lichtstrahlen trafen und drei weitere Katapulte waren zerstört.
Zola hatte die Schiffe umflogen und ließ ihre Fledermaus in sicherem Abstand über dem Meer kreisen. Sie konzentrierte sich auf das Wasser und türmte es Stück für Stück zu einer Welle auf. Vor Anstrengung standen ihr Schweißtropfen trotz des Flugwindes auf der Stirn; das tiefblaue Wasser türmte sich höher und höher auf und überragte schnell die Schiffe. Wassermassen stürzten an den Rändern dieses „Berges“ zurück ins umliegende Meer und grenzten ihn so mit weißer Gischt von der Umgebung ab. Mit einem magischen Impuls setzte Zola den Wasserberg in Bewegung, der sich mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Schiffe zubewegte. Drei der Wrokorks hatten rechtzeitig reagiert. Während die Welle gegen die Schiffe krachte und großen Schaden anrichtete, bewegten sich die entsprechenden drei Schiffe durch die brechende Welle auf deren Kamm und blieben nahezu unversehrt. Im gleichen Moment, wo die Schiffe mit Hilfe der Magie der hereinbrechenden Welle wiederstanden, schickte Gandaros seinen Lichtstrahlen gegen die Katapulte auf diesen Schiffen. Die Wrokorks waren mit der Welle zu sehr beschäftigt und konnten den magischen Schutzwall nur langsam errichten. Alle Katapulte auf den noch verbliebenen Schiffen wurden durch den Lichtstrahl beschädigt und ein weiterer Beschuss von Napoda war vorerst gestoppt. Die riesige Welle verschwand wie von Geisterhand wieder im Meer und nur drei der ehemals dreizehn riesigen Kriegsschiffe erweckten noch den Eindruck, als wenn sie noch einmal in den Kampf eingreifen könnten.
Zola und Gandaros dirigierten die Fledermäuse in Richtung der Königshallen von Napoda. Auf dem Weg dorthin setzten sie Ihre magischen Kräfte unablässig gegen die unter ihnen auftauchenden feindlichen Piratenschiffe ein und hinterließen eine Spur aus vernichtendem Feuer. Sie flogen direkt auf die Hafenanlagen von Napoda zu, die fast ein Drittel der Küstenlinie im Osten der Königsstadt ausmachten. Der Handelshafen war einer der größten auf Tarris und fast 150 Handelsschiffe lagen zurzeit vor Anker. Der Kriegshafen südlich der Handelshäfen lag verweist. So gut wie alle Schiffe befanden sich in Kämpfen. An die ausgedehnten Hafenanlagen schloss sich in Richtung Westen das Vergnügungsviertel von Napoda an. Viele der Spelunken, Gaststätten und Bordelle hatten unter dem Beschuss gelitten und immer noch konnten Gandaros und Zola viele, noch nicht gelöschte Brände erkennen. Die zwischen Vergnügungsviertel und Königshallen liegenden, weitläufigen Wohngebiete der einfachen Leute mit ihren engen Gassen waren weitgehend verschont geblieben. Während sie sich den Königshallen näherten, konnten sie im Norden der Stadt die große Arena erkennen, die sich zwischen den „Gruften“, in denen arme und zwielichtige Homuae lebten, den „Gärten der Könige“ und dem Handelsviertel befand. Die Arena überragte sogar die hohen Wehrtürme der mächtigen Stadtmauer. Südwestlich der Königshallen befanden sich die Wohnsitze des Adels, die teilweise an Paläste erinnerten und zeigten, wie reich Napoda war.
König Geminiano residierte gewöhnlich in der größten der Hallen, die direkt vor dem „Großen Platz der Feste“ lag. Zola und Gandaros lenkten die Fledermäuse auf den Haupteingang zu, der von einem dreieckigen, goldfarbenen Dach überragt wurde, das auf vier mächtigen Säulen ruhte und zu dem einen breite Treppe aus Marmor führte. Zwischen den Säulen befand sich ein Teil der Königswache und sicherte den Eingang. Die Fledermäuse landeten zehn Schritte vor dem Hauptmann der Königswache, der sich ein kleines Stück vor seinen, in einer Doppelreihe postierten Männern befand. Es war dem Hauptmann anzusehen, dass ihn die riesigen Fledermäuse mit den blanken Fangzähnen, die weißlich-gelb blitzend aus ihren Mäulern ragten, stark beunruhigten – dennoch blieb er ruhig, da er Zola, die hier lange Zeit als Beraterin des Königs ein- und ausgegangen war, gut kannte.
„Seid gegrüßt, Hauptmann Mojo! Darf ich Euch Gandaros, den inoffiziellen Anführer des Bundes der Erfahrenen vorstellen?“ Mojo verbeugte sich tief. „Seid willkommen Lady Zola und auch Ihr, Ser Gandaros – seid herzlich willkommen. Und auch möchte ich die Gelegenheit nutzen, Euch als erster im Namen von Napoda für die Hilfe gegen die Piraten zu danken. Es hat sich bereits in der ganzen Stadt herumgesprochen, dass Napoda Unterstützung im Kampf durch zwei mächtige Magae erhalten hat, die auf feuerspuckenden Ungeheuern durch die Luft fliegen.“ Er warf einen Blick auf die Fledermäuse. „Sie spucken nicht wirklich Feuer – oder?“ Gandaros musste schmunzeln. „Nein, Hauptmann Mojo. Dies sind ganz normale Riesenfledermäuse, die, wenn man sich gut mit ihnen versteht, treue Gefährten und hervorragende Begleiter im Kampf sind. Feuer spucken können sie nicht, aber kein Wesen auf Tarris würde sie sich als Gegner wünschen. Sie sind hervorragende Jäger und erlegen fast alles, auf das sie Jagd machen. Vielleicht könnte der ein oder andere Drache ihnen Schwierigkeiten bereiten, aber über solche Unterstützung verfügen die Piraten zu unserem Glück nicht.“ Zola wandte sich an den Hauptmann. „Wir müssen dringen zu König Geminiano. Führt uns bitte sofort zu ihm, es eilt sehr.“ Mojo runzelte die Stirn. „Der König ist seit einiger Zeit unpässlich. Er möchte nicht gestört werden.“ „Wie bitte?“, fragte Gandaros. „Vor Eurer Stadt befinden sich feindliche Kampfschiffe, die Hafenviertel brennen und er ist unpässlich? Seid mir nicht böse, Hauptmann Mojo, aber zwei Mitglieder des Hohen Rates der Erfahrenen können nicht wie zwei Straßenkinder abgewiesen werden, wenn sie zum König möchten. Versteht mich bitte nicht falsch, aber es ist nicht akzeptabel, uns diesen Wunsch abzuschlagen. Bitte bringt uns jetzt zu ihm.“ Gandaros sendete einen Gedanken an sein Reittier, woraufhin sich dieses über den Köpfen der Wache kopfüber unter das Dach hängte. Die andere Fledermaus folgte.
„Ich bringe Euch zur Tür von seinen Gemächern. Bitte verzeiht mir, wenn ich nicht zu ihm hineingehe und Euch ankündigte. König Geminiano reagiert in letzter Zeit schnell ungehalten, wenn seine Befehle nicht wortgetreu ausgeführt werden und ich möchte mir nicht seinen Zorn zuziehen. Geht diplomatisch vor, wenn Ihr mit ihm sprecht!“
Mojo führte sie durch einen beeindruckenden Palast. Marmor und edle Hölzer waren die Materialien, aus denen das Gebäude bestand. Überall gab es kleine Springbrunnen, die die Luft befeuchteten und kühlten, so dass die Hitze, die draußen das Leben schwer machte, schnell vergessen war. Es herrschte ein geschäftiges Treiben im Palast. Schwer bewaffnete Offiziere eilten durch die Räume, während Gelehrte und Schreiberlinge sich eher gemächlich durch die Hallen bewegten. Sie suchten sich ihren Weg durch die Homuae, bis sie eine große, doppelflügelige Tür aus schwarzem Hartholz erreichten, in die in goldenen Intarsien Handelsszenen eingearbeitet waren. Zwei Soldaten in reich verzierter Rüstung standen vor der Tür, die aber nach einem kurzen Befehl von Mojo schnell zur Seite traten und den Weg zur Tür freigaben.
Ohne zu Zögern öffnete Gandaros gleichzeitig beide Türen mit erhobenen Armen und trat, dicht gefolgt von Zola, in den dahinterliegenden Raum. Zola spürte, wie Gandaros fein gewobene Magie erschuf, die unsichtbar war, ihn aber wie ein Schutzfeld umgab. Als die Wachen im Inneren, die noch prächtiger gekleidet waren als die beiden vor der Flügeltür, mit dem Magiefeld in Berührung kamen, lächelten sie Gandaros wie einen alten Bekannten an, den sie lange nicht mehr gesehen hatten, jedoch hocherfreut waren, ihn wieder zu sehen. Diese Art der Magie war für Geminiano bestimmt! Sie folgten dem langgestreckten Raum in Richtung einer weiteren prachtvollen Tür. Rechts und links befanden sich am Rand des Raumes kunstvoll aus weißem Stein gearbeitete Statuen früherer Könige von Napoda, die alle überlebensgroß dargestellt waren und ernst auf die Vorbeigehenden herunterblickten. Erneut öffnete Gandaros die Tür, nachdem er kräftig geklopft hatte und vor ihnen befanden sich die Gemächer von König Geminiano, der schweigend mit einem Berater zusammen an einem großen Tisch mit einer Platte aus schwarzem Marmor saß. Auf dem Tisch befanden sich verschiedene Torten und Karaffen mit Wein. Während der Berater nichts aß, hatte Geminiano einen Teller vor sich stehen, auf dem sich verschiedene Tortenstücke türmten. Auch in seinem dunkelblonden Bart waren Reste des Kuchens zu sehen. Geminiano hatte sich seit Gandaros letztem Besuch stark verändert. Er war fett geworden, sah ungepflegt und dreckig aus und hatte außerdem, seinem Blick nach zu urteilen, dem Wein auf dem Tisch recht kräftig zugesprochen. Er sah keinesfalls wie ein Herrscher der Südlande aus.
„Guten Tag, König Geminiano!“, begrüßte Gandaros den Herrscher. Dieser bemerkte offensichtlich erst jetzt, dass er nicht mehr mit seinem Berater alleine in dem Raum war, wandte den Kopf in Richtung der beiden Magae und lächelte freundlich, wenn er dabei auch keinen intelligenten Gesichtsausdruck zeigte. „Herzlich Willkommen Ser Gandaros. Es ist schön, dass Ihr den Weg in mein Reich gefunden habt. Auch wenn es nicht der beste Zeitpunkt ist, da wir gerade von Geaulli Drake und seinen Piraten angegriffen werden. Sie verfügen über neue Galeeren und versenken ein Schiff nach dem anderen meiner Flotte. Ich befürchte, Sie werden bald in der Stadt sein. Aber setzt Euch doch und esst ein Stück Kuchen.“ Seine Worte hörten sich weder nach Kampfeswillen noch nach Verzweiflung an, er hatte sich bereits mit seinem vermeintlichen Schicksal abgefunden und Resignation und Gleichgültigkeit zeigten sich nicht nur in seinen Worten, sondern auch in seinem Blick und seiner Körperhaltung. Dem Berater am Tisch war anzusehen, dass er mit den Worten des Königs nicht einverstanden war, jedoch zuckte er mit einem Blick auf Zola und Gandaros nur hilflos die Schultern. Geminiano ließ seinen Blick zu Zola wandern. „Und Zola – Ihr seid auch zurückgekehrt. Warum habt Ihr mich nur verlassen. Ich hätte Eure Hilfe benötigt, als die Piraten mit ihrem Angriff begonnen hatten. Vielleicht hätten wir ihnen wiederstehen können.“ Geminiano blickte abwesend zur Decke.
Zola blickt ihn fast schon wütend an. „Mein König, habt Ihr vergessen, dass Ihr mich gebeten habt, mit den Flüchtlingen, die an Napodas Türen geklopft hatten, wegzuziehen? Ich bin zusammen mit Gandaros zurückgekehrt, als wir vom Tarutos aus den Rauch des Krieges hier über Napoda sahen. Wir sind hier, um zu helfen.“ „Was habt Ihr bisher erreicht?“, fragte der König ohne ernsthaftes Interesse. „Sie haben bereits einige der Piratenschiffe versenkt“, fügte der Berater hinzu. „Danke, Orma“, sagte Zola und wandte sich wieder an den König. „Wie plant Ihr, gegen die Piraten vorzugehen und wer organisiert die Verteidigung zu See und in der Stadt?“ Geminiano gab keine Antwort und so erklärte Orma die Lage. „Als die Piraten angriffen, ist unser König schnell zu der Entscheidung gelangt, dass es das Beste wäre, wenn jeder Bürger der Stadt die Gelegenheit bekommen solle, sich auf seinen Tod vorzubereiten. Daher haben wir keine Verteidigung organisiert. Admiral Osarobo hat ohne Befehl die Kapitäne der Flotte zusammengerufen und sich den Piraten entgegengestellt.“ Er warf einen kurzen Blick zum König, bevor er fortfuhr. „Eine Verteidigung der Landstreitkräfte gibt es nicht. General Maturi wurde für Verfehlungen bestraft und das, was die Krähen von ihm übrig gelassen haben, hängt an einem Galgen vor der Stadt. Prinz Gannio, der nicht nur bei Euch, Ser Gandaros, gelernt hatte, sondern auch bei General Maturi zu dessen Stellvertreter ausgebildet wurde, hat seit längerer Zeit Hausarrest und so keine Gelegenheit, die Verteidigung zu organisieren.“
Gandaros änderte vorsichtig die Art der Beeinflussung durch seine Magie und versuchte, ihr so etwas wie einen Aufruf zu Taten oder Datendrang hinzuzufügen. Während sich auf Ormas Gesicht ein entschlossener Zug zeigte, änderte sich im Gesichtsausdruck des Königs nichts. „König Geminiano, ich bin zusammen mit Zola gekommen, um Hilfe zu leisten. Aber nicht nur das. Ich bin auch hier als der Anführer des hohen Rates der Erfahrenen und meine Aufgabe ist es, einem möglichen Aufstand aus dem Osten gegen ganz Tarris zu begegnen. Es ist nicht die Zeit, Kuchen zu Essen und sein Volk und seine Stadt brandschatzenden und plündernden Piraten zu überlassen. Was gedenkt Ihr zu tun, um die Piraten abzuwehren?“ Der König sagte nichts. Er biss in ein Stück Erdbeerkuchen und das Gelee tropfte auf seinen vorstehenden Bauch. „Welche Hilfe gewährt Ihr uns, wenn wir uns der Piraten annehmen?“ Erst sah es so aus, als wenn Geminiano wieder nicht antworten würde, doch dann wandte er sich an Orma. „Falls die zwei jemanden in der Stadt finden, der ihnen helfen will, so soll es so sein. Jeder, der sich nicht auf den Tod vorbereiten und seinen Frieden finden will, soll Ihnen zur Seite stehen. Und Ihr, Orma, geht am besten gleich mit ihnen. Ich nämlich möchte meine Frieden finden.“ Er biss erneut in den Erdbeerkuchen und blickte wieder zu Decke.
„Lebt wohl“, sagte Gandaros enttäuscht, nickte Zola und Orma zu, ihm zu folgen und ging schnell auf den Ausgang zu. Gandaros schloss die Tür zu dem kuchenessenden König hinter ihnen und wandte sich sofort an Orma und Zola. „Ich befürchte, König Geminiano hat den Verstand verloren. Ich habe versucht, ihn mit Magie zu erreichen, bin aber nur auf eine unerklärliche Leere gestoßen. Er wird dieser Stadt und diesem Land nicht mehr helfen können und die Zeit drängt. Wir müssen schnellstens die Abwehr organisieren. Wollt Ihr helfen?“, fragte er Orma mit einem Schmunzeln. „Selbstverständlich, wie wollt Ihr vorgehen, Ser Gandaros?“ „Wir werden einen kurzen Kriegsrat abhalten. Könnt Ihr, Orma, alle Hauptleute der Stadt bitten, zum …. – Wo haltet Ihr ein solches Treffen ab?“ Zola antwortet an Stelle von Orma „In der Halle des Krieges.“ „…. zur Halle des Krieges zu kommen? Sendet Boten. Am besten schickt Ihr zwei Drittel der Wachsoldaten hier im Raum zu den Hauptleuten. Das andere Drittel schickt bitte zu den Stadtmauern. Lasst den Befehl weitergeben, dass Katapulte und Schleudern unverzüglich kampfbereit gemacht werden. Lasst die Hauptleute bitten, in spätestens einer Stunde in der Halle des Krieges zu sein.“
Als Orma seinen Blick erst zu den Wachleuten und dann zum Zimmer, in dem der König weilte, wandern ließ, fügte Gandaros hinzu. „Ich denke nicht, dass der König bewacht werden muss. Um aber seinem Befehl gerecht zu werden, fragt die Wachleute, bevor Ihr sie schickt, ob sie der Stadt und dem Volk helfen wollen. Zola, fliegt ihr zur Seeschlacht und unterstützt die napodianische Flotte? Aber lasst Euch nicht in Kämpfe mit den Wrokorks ein, dies werden wir später gemeinsam tun. Konzentriert Euch bitte auf die Schiffe, die weiter von der Küste entfernt sind. Ich denke, die Schleudern und Katapulte werden bald einsatzbereit sein und uns dann unterstützen können. Sie treffen besser, wenn die Entfernung nicht allzu groß ist. Ich werde mit Orma, sobald die Boten unterwegs sind, den Prinzen befreien. Wir brauchen einen Anführer, der vom Volk bewundert wird. Und auch, wenn Prinz Gannio noch jung ist, so halten die Bürger von Napoda sehr viel von ihm. Wir sehen uns in zwei Stunden über dem Meer, Zola. Seid unverletzt, wenn ich dort eintreffe!“
Westlich an die Königshallen schloss sich die Turmfeste an, die sich auf der höchsten Erhebung Napodas befand. Die Erhebung verdiente es nicht, als Berg bezeichnete zu werden. Sie war eher ein granitener Felsbrocken, dessen „Hänge“ steil anstiegen. Die Hänge gingen überganslos in die Mauern der Feste über und wuchsen weit in die Höhe. Das einzige Tor der Turmfestung befand sich dadurch fast 70 Schritte über dem Boden von Napoda und konnte nur über eine ansteigende Brücke erreicht werden, deren anderes Ende sich auf Höhe der Königshallen befand. Aus der Mauer wuchsen drei Türme hervor, von denen der, der sich direkt über dem Tor befand ein Wohnturm war. Die anderen beiden, deren Umfang deutlich geringer war, die dafür aber höher in die Luft ragten, waren klassische Wehrtürme, nach außen hin mit vielen Schießscharten für Bogenschützen versehen und gekrönt von einer Plattform, auf der gefährliche Pfeilkatapulte zu sehen waren.
Orma und Gandaros gingen über die Brücke, als Orma stoppte und sich an Gandaros wandte. „Wir werden die Wachen überzeugen müssen, dass Prinz Gannio die Feste verlassen darf. Dies sollte ich hinbekommen. Ich werde den Hauptmann der Feste bitten, mit dem Prinzen zusammen zum Saal des Krieges zu unserem Kriegsrat zu gehen. Die Wachen werden Euch kaum kennen. Lasst daher besser mich mit ihnen sprechen. Sie können sehr misstrauisch sein.“ Sie gingen durch den Torgang, der unter Mauer und Turm hindurchführte und der an Decke und Seitenwänden über zahlreiche Schießscharten und Öffnungen verfügte, durch die heißes Öl auf Angreifer geschüttet werden konnte. An beiden Seiten des Ganges befanden sich schwere, mit Eisen beschlagene Tore. Zusätzlich gab es hinter den Toren massive Metallgitter, die als Fallgitter konstruiert und so angebracht waren, dass mit ihrer Hilfe Feinde in dem Gang von einer größeren Gruppe abgetrennt und eingesperrt und ohne Möglichkeit zur Gegenwehr niedergemacht werden konnten. Die Steine der umliegenden Mauern waren aus einem ähnlichen Granit wie der Fels, auf dem die Feste gebaut worden war. Durch die schwarze Farbe des Steins war es in dem Torgang so dunkel, dass selbst jetzt am Tage Fackeln angezündet worden waren, die den Weg beleuchteten. Der Innenhof der Feste war verwaist. Dies war kein Wunder, da es über dem hellen Sand, der jede freie Stelle des Innenhofes bedeckte, sehr warm war. Der Hof war größer als erwartet und neben den Türmen, die mit der Mauer verbunden waren, befanden sich einige Gebäude auf dem Platz, die sich direkt an die Mauer anschlossen. Sie wandten sich nach rechts und betraten den Turm durch eine kleine Seitentür.
Der Turm war von innen sehr wohnlich gestaltet, sogar die Wände waren mit Holz und Fellen verkleidet, hinter denen am Rand der Mauer eine Wendeltreppe über fünf Stockwerke nach oben führte. Schnell machten sich Gandaros und Orma auf den Weg nach oben, nachdem sie das unterste Stockwerk mit seinen Räumen für die Bediensteten und der Küche durchquert hatten. Bereits im zweiten Stock befanden sich die Räume der Wachen und auch hier gab es mehrere Unterkünfte, darüber hinaus aber auch noch einen kleinen Gemeinschaftsraum und das Büro des Hauptmanns. Die zehn Wachen und der Hauptmann befanden sich im Gemeinschaftsraum und unterhielten sich leise bei einem Glas Wein über den Angriff der Piraten. Gandaros betrat den Versammlungsraum als erster und sofort sprangen die Wachen von ihren Stühlen auf und ihre Hände zuckten in Richtung ihrer Schwerter. In dem Moment, als Orma Gandaros in den Raum folgte, entspannten sich die Gesichter gleich wieder. Orma ging zielstrebig auf den Hauptmann zu, der aufgrund seiner Kleidung leicht zu erkennen war. „Seid gegrüßt, Sindo. Darf ich Euch Gandaros, den Anführer des Hohen Rates der Erfahrenen vorstellen?“ Gandaros und Sindo nickten sich gegenseitig zu. „Wir beide kommen gerade von König Geminianos. Er hat Gandaros erlaubt, die Verteidigung der Stadt zu organisieren und jeden, der zur Hilfe bereit ist, dafür zu rekrutieren.“ Auf Sindos Gesicht zeigte sich Erleichterung und Freude. „Wollt Ihr uns helfen?“, fragte Gandaros. „Selbstverständlich – es ist an der Zeit, etwas gegen die Piraten zu unternehmen. Was können wir tun?“, antwortete Sindo. „Gandaros möchte den Prinzen fragen, ob er in seiner Eigenschaft als Stellvertreter von General Maturi die Führung im Kampf gegen die Piraten übernehmen möchte. König Geminiano sagte uns, dass jeder, der helfen möchte, gegen die Piraten zu kämpfen, dies tun darf. Daher wollen wir Prinz Gannio auffordern, seinen Hausarrest zu beenden und dem Volk zu helfen, indem er die für ihn vorgesehene Rolle übernimmt. Anschließend möchte ich Euch bitten, ihn sicher zum anstehenden Kriegsrat zu begleiten, der in kurzer Zeit beginnen soll. Er findet in der Halle des Krieges statt.“
Sindo überlegte einen kurzen Moment. Es war ihm anzusehen, dass er nicht überzeugt war, dass der König mit einer Freilassung von Prinz Gannio einverstanden war. Auf der anderen Seite wusste er genauso gut wie Gandaros, dass es dem Volk und der Stadt dienen würde, wenn der Prinz Verantwortung übernehmen könne. „Wenn Ihr nicht Orma wäret, hätte ich Zweifel, ob es richtig wäre, dem Prinzen die Erlaubnis zu erteilen, seine Gemächer zu verlassen. Da Ihr jedoch, solange ich denken kann, die Meinung des Königs vertreten habt und der Stadt und dem Volk gedient habt, werde ich Euch zu ihm führen – und ihn anschließend zum Kriegsrat begleiten. Folgt mir.“
Sindo wandte sich der Treppe zu und führte sie bis in das oberste Stockwerk. Sie passierten auf ihrem Weg nach oben ein riesiges Studierzimmer, das von Regalen mit Büchern überquoll und einen Trainingsraum, der das gesamte Stockwerk einnahm und wie eine Arena mit Sand gefüllt war. Gandaros sah dies mit Wohlwollen. Gannio hatte somit Gelegenheit gehabt, sich geistig und auch körperlich während seiner langen Gefangenschaft weiterzuentwickeln. Vor der Tür zum fünften Stockwerk befanden sich mehrere Schlösser und Verriegelungen. „Hier sind die Schlüssel“, wollte Sindo gerade sagen, als Gandaros die Tür öffnete, wobei blaue Funken aus den Schlössern sprühten. Die Tür schwang wie von Geisterhand lautlos in den dahinter liegenden Raum. Schnell betraten sie den Raum und sahen Gannio, der vor dem Ostfenster stand und auf die Seeschlacht in der Ferne blickte. Die Schiffe waren zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können und der Rauch der brennenden Hafengebäude erschwerte zusätzlich die Sicht. Nichts desto trotz war erkennbar, was dort vor Napoda vor sich ging. „Willkommen Sindo, was möchtet Ihr?“ fragte Gannio, ohne sich umzusehen.
„Sindo hat uns hierhin geführt und wir wollen auch etwas von Euch Prinz Gannio. Aber das, was wir von Euch wollen – oder besser gesagt erwarten – hat nichts mit dem zu tun, was Ihr Euch vorstellen könnt“, antwortet Gandaros. Gannio erkannte die Stimme von Gandaros sofort, der ihn über so lange Zeit in den magischen Fähigkeiten unterrichtet hatte und für ihn mehr ein Vater geworden war, als König Geminiano es jemals gewesen war. Der Prinz drehte sich auf der Stelle um, rannte auf Gandaros zu und lag ihm Sekundenbruchteile später in den Armen. „Ser Gandaros, was tut Ihr hier? Was für eine freudige Überraschung . Wie lange bleibt Ihr? Könnt Ihr mir helfen?“ Obwohl Gannio in den letzten zwei Jahren zu einem stattlichen, jungen Mann herangewachsen war, freute er sich wie ein kleines Kind über das Wiedersehen. Tränen rannen über seine Wangen. „Auch ich freue mich sehr, Euch wiederzusehen, mein Prinz. Ich habe gehört, dass Ihr eine schwere Zeit seit meiner Abreise gehabt habt, aber diese Zeit endet heute. Auch wenn die Zukunft nicht weniger schwierig sein wird“, antwortete Gandaros, während er den Prinzen fest in seine Arme schloss. „Wir haben nicht viel Zeit und ich muss Euch einiges erklären. Wo können wir ein wenig reden?“ „Lasst uns in mein Studierzimmer gehen. Dort gibt es einen Tisch für Besprechungen, der groß genug für uns vier ist und außerdem werde ich Euch dort ein Glas Wein anbieten können“.
Das Studierzimmer, das sich direkt über dem Raum der Wachen befand, machte seinem Namen alle Ehre. Neben den Bücherregalen und Lesepulten verfügte es über ein kleines Labor, in dem hunderte von Pflanzen und kleinen Phiolen, aber auch Destilliergeräte und komplizierte Systeme und Gerätschaften zu finden waren. Sie setzten sich an einen größeren, runden Tisch, der über und über mit offenen Büchern bedeckt war. Gandaros warf einen Blick auf die Bücher und stellte überaus erfreut fest, dass Gannio in seinem Gefängnis nicht untätig gewesen war.
Gandaros kam ohne Umschweife zur Sache. „Wie Ihr spätestens vorhin bei dem Blick aus Eurem Fenster gesehen habt, gibt es zurzeit Angriffe auf Napoda. Euer Vater hat bisher kaum etwas gegen die Angriffe unternommen und hatte dies auch nicht vor. Er ist aus irgendeinem Grund vollkommen verzweifelt und glaubt nicht daran, dass Napoda die Angriffe der Piraten überstehen kann. Glücklicherweise konnten wir ihn davon überzeugen, uns zu erlauben, eine Abwehr zu organisieren. Wir dürfen alle Freiwilligen einsetzten, die dazu bereit sind, der Stadt zu helfen und bisher war jeder, den wir fragten, zur Hilfe bereit. Wir werden gleich, wenn unser Gespräch beendet ist, einen Kriegsrat in der Halle des Krieges abhalten. Alle Hauptleute der Stadt werden dorthin kommen. Zola, die Ihr gut kennt, unterstützt die Kapitäne bereits im Seekampf, da die Piraten über neue, gefährliche Schiffe verfügen und außerdem magische Unterstützung aus dem Nordosten bekommen haben. Aber über dieses Thema werden wir uns später unterhalten müssen.“
Nun ergriff Orma das Wort. „Gerade in den bevorstehenden Kämpfen benötigen die Soldaten und auch das Volk einen Anführer, der aus unseren Reihen stammt und zu dem sie aufblicken können. Euer Vater steht für diese Aufgabe nicht zur Verfügung und daher möchten wir Euch bitten, diese Verantwortung zu übernehmen. Ihr habt die entsprechende Ausbildung erhalten und wir denken, dass es an der Zeit ist, die für Euch seit langer Zeit vorgesehenen Aufgaben zu übernehmen. Gandaros, Zola und auch ich werden Euch beraten und unterstützen, wo immer es geht oder nötig ist. Wollt Ihr die Stadt im Kampf gegen die Piraten führen?“
Prinz Gannio war sichtbar überrascht über die Wendung der Dinge. Vor einer Stunde noch war er ein Gefangener seines eigenen Vaters und durfte den Turm nicht verlassen. Nun sollte er das Kommando über die Streitkräfte übernehmen und die Stadt vor einem Piratenangriff retten. Gannio gab sich einen Ruck. „Wenn Ihr glaubt, dass dies im Sinne der Stadt ist und ich helfen kann, dann stehe ich selbstverständlich zur Verfügung. Wie wird es nun weitergehen?“ Gandaros sah ihn ernst an, so als wenn er prüfen wolle, ob der Prinz der Aufgabe gewachsen sei. „Ihr werdet nun mit Orma und Sindo zum Kriegsrat gehen. Ich werde auch dorthin kommen, nachdem ich mein Reittier geholt habe. Orma wird Euch den Hauptleuten als den neuen General der Streitkräfte vorstellen und ich denke, sie werden froh sein, wieder einen Anführer zu haben. Dann werden wir gemeinsam überlegen, wie wir die Abwehr an Land organisieren und wir wie die Flotte unterstützen können.“
Die Halle des Krieges war ein großer, runder Raum, der von mehreren Reihen von Sitzen umrahmt war, wobei jede Sitzreihe etwas höher war als die vor ihr liegende. Es war Platz für viele Homuae und fast alle Plätze waren bereits von den Hauptleuten der Streitkräfte belegt. Die Sitzreihen waren an einer Seite des Kreises unterbrochen. Dort befand sich das Rednerpult, zu dem sich gerade Orma auf den Weg machte, der sich eine leichte Rüstung angezogen hatte und ein Kurzschwert an seiner linken Seite trug. Als er sich hinter das Pult gestellt hatte, wurde es schnell totenstill in dem Raum.
„Hauptleute von Napoda! Wir haben uns heute hier versammelt, um die Verteidigung unserer Stadt gegen die Piraten zu organisieren. König Geminiano hat dafür mächtige Verbündete gewonnen, die uns in dem bevorstehenden Kampf unterstützen. Gandaros, tretet bitte vor!“ Der Magae kam aus den hinteren Reihen am Eingang hervor und stellte sich neben Orma. „Unser König hat Gandaros gebeten, die Verteidigung zu organisieren. Er lässt ihm dabei freie Hand.“ In der Runde setzte Gemurmel und Getuschel ein. Offensichtlich waren viele der Anwesenden verwundert, dass der König selbst nicht den Oberbefehl übernehmen wollte. „Ihr wisst, dass Gandaros der Anführer des Hohen Rates der Erfahrenen ist und der Rat der Erfahrenen Napoda immer geholfen hat, wenn dies notwendig war. Auch wenn Gandaros und auch Zola, die ihn zu uns begleitet hat, eine große Unterstützung sein werden, so ist Gandaros doch kein General oder jemand aus unserem Volk.“ Zustimmende Rufe kamen von den Hauptleuten. „Daher war das Erste, was Gandaros unternahm, einen neuen General ins Amt zu heben. Ich bin sicher, er hat jemanden gewählt, der auch Euch zusagt!“ Prinz Gannio betrat vollständig gerüstet und mit Schwert und Klemmdolch bewaffnet die Halle und ein Raunen ging durch den Raum. Kaum einer der Hauptleute erkannte den Prinzen, der in den letzten zwei Jahren auf Mannesgröße gewachsen war und in der Rüstung und mit Bewaffnung wie ein erfahrener Krieger wirkte. Zudem verbarg der Wangenschutz seines goldglänzenden Helms sein Gesicht. Es dauerte jedoch nicht lange, bis erste Rufe erschallten. „Es ist der Prinz. Prinz Gannio ist frei. Der Prinz ist zurück.“ Gandaros trat in die Mitte des Raumes zu dem Prinzen und wandte sich an die Runde. „Verehrte Hauptleute von Napoda. Ich weiß, dass Ihr nur ungerne einem Führer folgen würdet, der nicht aus Napoda stammt. Ich habe daher überlegt, wer das Amt des Generals übernehmen könnte und die Lösung war naheliegend. Es gibt nur einen in dieser Stadt, der die entsprechende Ausbildung hat und der zudem schon immer für dieses Amt bestimmt und designierter Nachfolger von Maturi war. Den Göttern sei Dank ist es uns gelungen, auch den König von dieser Tatsache zu überzeugen. Er gab mir freie Hand, jeden zu rekrutieren, der sich rekrutieren lassen wolle. Daher wählte ich den Prinzen und er ist bereit für die Aufgabe. Wollt Ihr Prinz Gannio in den Kampf folgen?“
Die Antwort war überzeugend. Jubel brach in der Halle aus und kaum einen hielt es auf den Sitzen. Einige der Hauptleute gingen zum Prinzen, um ihn willkommen zu heißen und nicht wenige klopften ihm auf die Schultern. Orma mahnte zur Ruhe und kurz darauf begannen die Beratungen, die aber schnell abgeschlossen waren, da es für alle erdenklichen Angriffsvarianten eine Vielzahl von vorbereiteten Verteidigungsplänen gab. In den nächsten Stunden würde eine gewaltige Streitmacht von 15.000 Homuae einsatzbereit sein und die Küstenlinie verteidigen. Die Unterstützung der Flotte durch Katapulte und Schleudern würde sofort starten. Napoda war entfesselt.
Als Gandaros sich auf seiner Fledermaus den Hafenanlagen näherte, zogen bereits erste Brandgeschosse ihre flammenden Bahnen in Richtung der Piratenschiffe. Gandaros hielt direkt auf das Schiff des Admirals Osarobo zu und landete auf dem Achterdeck nur wenige Schritte neben dem Admiral, der die Fledermaus skeptisch musterte. „Gandaros, Ihr seid es. Das hätte ich mir denken können. Danke für die Unterstützung. Ihr seid eine gute Hilfe gewesen! Wer ist der andere Magae, der noch gegen die Piraten vorgeht? Ist es Zola?“
„Ja, es ist Zola. Und auch ich werde gleich wieder ins Geschehen eingreifen. Ich wollte Euch nur informieren, dass wir in Napoda eine Verteidigung auf die Beine stellen. Prinz Gannio wurde soeben von den Hauptleuten als neuer General akzeptiert – und wie Ihr wahrscheinlich gemerkt habt, haben Katapulte und Schleudern ihre Arbeit bereits aufgenommen. Bitte weist Eure Flotte an, den Schwerpunkt Eurer Kampfaktivitäten auf die weiter von der Küste entfernten Piraten zu legen, um den Katapulten freie Schussbahn zu geben. Aber haltet Euch von den Katapultschiffen der Piraten fern. Dort befinden sich noch einige starke Magae, die Euch unnötige Verluste beibringen würden. Der Plan ist, die hinteren Schiffe zuerst zu vernichten und dann die übrigen zwischen Stadt und Eurer Flotte zu zerquetschen. Alles Weitere werdet Ihr vom Prinzen erfahren, sobald die Gefahr beseitigt ist. Ich wünsche Euch viel Glück, Admiral!“ Und mit diesen Worten erhob sich Gandaros mit seiner Fledermaus in die Luft und raste in Richtung Zola.
Die beiden Magae flogen in großer Höhe nebeneinander her und hatten eine gute Übersicht über das Geschehen. Von den Mauern Napodas schoss Brandladung um Brandladung auf die Schiffe in der Nähe der Stadt zu und einige der Piratenschiffe brannten lichterloh. Der rosarote Abendhimmel wurde zunehmend durch die Rauchschwaden verdeckt. Überall in den Verteidigungsanlagen und auf der Stadtmauer wurde das Licht der tiefstehenden Sonne von Rüstungen der Krieger reflektiert, die in ihre Stellungen zogen. Die Abwehrkräfte der Stadt formierten sich und würden bald einsatzbereit sein. Die napodianische Flotte hatte sich bereits aus den küstennahen Gefechten gelöst und ging massiv gegen die weiter von der Küste entfernten Schiffe der Piraten vor. Durch diese Konzentration des Angriffes auf die küstenfernen Regionen waren die schwarzen Segel dort in bemitleidenswerter Unterzahl. Allerdings begannen die ersten Piratenschiffe, die nun nicht mehr in Kämpfe verwickelt waren, auf die Hafenanlagen Kurs zu nehmen. Wenn die Piraten an Land gingen, würde die Falle zuschnappen.
„Lass sie uns immer zu zweit angreifen. Dadurch, dass sie auf den Schiffen sind, sind sie nicht so beweglich wie wir. Wir sollten mit dem rechten Schiff beginnen. Von dort kamen mit Sicherheit magische Blitze und das Schiff ist weiter von den anderen entfernt! Ich schlage vor, dass Du den Wrokork aus sicherer Entfernung mit Deinen magischen Kräften beschäftigst. Ich versuche dann, mich ihm zu nähern und mit meinem Schwert an ihn heranzukommen.“ Während Zola nickte und ihre Fledermaus auf das offenen Meer in den Rücken des Piratenschiffes lenkte, spürte Gandaros einen Gedanken in seinem Kopf: „Der Jäger bin ICH und mein Name ist Zosch.“ Gandaros war mehr als verblüfft. Er hatte nicht gewusst, dass die Fledermaus - dass Zosch - so klare Gedanken und Sprache beherrschte. Aber dies hatte Zeit bis später. „Hallo Zosch, ich bin Gandaros – lass uns zusammen jagen – wir müssen dieses schwarze Ungeheuer erledigen! Wir warten, bis Zola und Dein Gefährte es ablenken, dann greifen wir an. Sei vorsichtig – es kann Blitze schleudern!“ „Es ist nicht mein Gefährte, es ist meine Gefährtin und sie heißt Zascha.“
Zola flog in einem hohen Tempo auf das Schiff zu. Über ihr befand sich ein kopfgroßer, gleißender Feuerball, der hell wie Sol leuchtete. Der Feuerball folgte jeder Bewegung und jeder auch noch so abrupten Richtungsänderung von Zascha und hinterließ einen feurigen Schweif in der Luft hinter ihnen. Als Zola sich dem Schiff auf ungefähr 300 Schritte genähert hatte, begann der Feuerball zu pulsieren und kurz darauf zuckten aus ihm gleißende Feuerstrahlen gegen Schiff und Wrokork. Die ersten Strahlen trafen das Heck des Schiffes und setzten es in Brand. Die Flammen züngelten bereits nach Sekunden hoch in den Himmel. Die Strahlen, die gegen das Ungeheuer gerichtet waren, verpufften jedoch in einem Funkenregen, kurz bevor sie es erreicht hatten. Der Wrokork hatte gedankenschnell einen magischen Schutzwall geschaffen. Zola setzte den Angriff fort. Die Farbe der Lichtstrahlen änderte sich und kurz darauf zerstoben sie nicht mehr, schienen sich dafür in der magischen Barriere zu verbeißen, die in einem dunklen grün stärker und stärker schimmerte. Unabhängig von dem Anlass war es ein fantastisches Farbenspiel, das die entfesselten magischen Energien erschufen.
Dann plötzlich schien sich die grün schimmernde Sphäre des Wrokork auszudehnen und mit einer lauten Explosion löste sich ein Blitz aus ihr und zuckte in Richtung Zola. Auch Zola nutzte ein Schutzfeld. Jedoch war die Gewalt des grünen Blitzes auf den Schild so stark, dass Zascha und Zola in den Abendhimmel geschleudert wurden.
Genau in diesem Moment griffen auch Zosch und Gandaros an. Sie hatten bereits den Bug des Schiffes erreicht und näherten sich mit hoher Geschwindigkeit dem Wrokork, der immer noch in Richtung Zola blickte. Gandaros wollte gerade sein bereits gezogenes Schwert in Angriffsposition bringen, als Zosch eine kleine Richtungsänderung nach oben vornahm. Gandaros würde das Monster nicht mehr treffen können. Der Jäger war der Jäger. Zosch packte den Kopf des Wrokorks mit seinen Krallen und riss ihn allein durch die Fluggeschwindigkeit mit einem knackenden Geräusch von dessen Rumpf. Das Blut spritze hinter ihnen aus der Halsschlagader des Wrokorks fontänenartig hoch in die Luft und platschte dann auf die Deckplanken des brennenden Schiffes.
Zola und Zascha waren ein Knäuel, dass sich um sich selbst drehend weit in den Abendhimmel geschleudert wurde, bis Zola sich nicht mehr an der Fledermaus festkrallen konnte und in Richtung Meer stürzte. Verzweifelt versuchte Zascha, Kontrolle über ihre Flugbahn zu gewinnen, aber es dauerte noch einige Momente, bis ihr dies gelang. Dann aber folgte sie wie ein Pfeil der stürzenden Zola in Richtung Meer. Zascha erwischte Zola noch rechtzeitig vor der – bei einem Sturz aus solcher Höhe – steinharten Wasseroberfläche und ergriff ihr Bein. Zola war gerettet, aber die scharfen Klauen der Fledermaus drangen tief in ihren Oberschenkel ein. Zola schrie.
„Kannst Du Deine Gefährtin bitten, Zola zum Schiff des Admirals zu fliegen? Wir müssen die Wunde versorgen. Eure Krallen sind scharf!“, dacht Gandaros und sah kurz darauf, wie Zascha die Richtung änderte.
Die Riesenfledermaus ließ Zola vorsichtig auf die Planken der Seeschwalbe, des Schiffes des Admirals gleiten und kurz darauf landeten auch Gandaros und Zosch auf dem Hinterdeck. Zola blutete fürchterlich, aber es war nur eine Fleischwunde, die keinen bleibenden Schaden verursachen würde. Gandaros ging schnell zu Zola, die das Bewusstsein verloren hatte und schaute sich die Wunde an. Sie hatten das Hinterdeck für sich, da sich fast die gesamte Schiffsbesatzung aus Respekt vor den Fledermäusen ans andere Ende der Seeschwalbe begeben hatte. Gandaros hatte keine Pflanzen dabei, mit denen Zola den Selbstheilungszauber hätte wirken können. Er durchsuchte sie, konnte aber auch bei ihr keine entsprechenden Kräuter finden. Admiral Osarobo näherte sich ihnen in Begleitung eines älteren Mannes mit einem langen weißen Bart. „Dies ist unser Schiffsarzt Ser Aro. Er ist ein fähiger Mediziner und wahrscheinlich der beste Heiler der Flotte. Ich schlage vor, er flickt Zola wieder zusammen.“ Gandaros zuckte in Ermangelung anderer Möglichkeiten die Schultern und sah dem Heiler zu, wie er direkt an Ort und Stelle eine gelbbraune Paste tief in die Wunde schmierte und dann unverzüglich begann, sie zuzunähen. Der Admiral und Gandaros hielten das Bein fest, falls Zola aufwachen sollte. Abschließend wickelt der Arzt einen dicken, verblüffend weißen Verband um den Oberschenkel. Gandaros bedankte sich bei Aro und wandte sich dann an den Admiral. „Zwei der Wrokorks sind noch übrig. Denkt Ihr, es ist möglich, wenn wir bis morgen früh an Bord bleiben? Es hat keinen Sinn, die beiden Magae im Dunkeln anzugreifen; die Chancen, sie entscheidend zu treffen, sind zu schlecht. Und ich denke auch, ein paar Stunden Erholung dürften Zola gut tun.“ „Es ist mir ein Ehre, Ser Gandaros. Allerdings haben wir wenig Platz hier auf dem Schiff. Wenn Ihr beide mit mir meine Kabine teilen wollt, seid Ihr herzlich eingeladen. Und seid Euch bewusst, dass die Kampfhandlungen weitergehen werden. Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, aber ich denke, es wäre besser, wenn Zola die Nacht in Napoda verbringt.“ Gandaros dachte einen kurzen Moment nach. „Ihr habt wahrscheinlich Recht, General. Lasst Sie uns wecken und schauen, ob sie an Land fliegen kann.“ Vorsichtig rüttelte Gandaros an Zolas Schulter, bis sie mit einem Stöhnen die Augen aufschlug. Zola blickt auf ihr Bein und den dicken Verband. „Zascha hat Euch gerettet, alte Freundin, allerdings hat Sie Euch dabei ein wenig zerkratzt.“ Zola schaute Gandaros mit Unverständnis im Blick an. „Zascha? Wer oder was ist Zascha?“ „Dies ist der Name Eurer Fledermaus. Ihr Gefährte Zosch hat es mir erzählt.“ Zola starrte ihn nach wie vor an, als wenn er ihr ein kompliziertes Rätsel gestellt hätte. „Unsere Fledermäuse. Sie haben Namen – und sie können mit uns auf eine telepathische Art und Weise sprechen. Sie sind recht klug.“ Zolas Gesichtsausdruck änderte sich in Erstaunen, das schon an Fassungslosigkeit grenzte. Sie wandte den Blick konzentriert zu ihrer Fledermaus. Dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck erneut und zeigte Erkennen und Verständnis. Offensichtlich tauschte sie Gedanken mit Zascha aus. Auch der Admiral blickte überaus verblüfft zu den beiden Fledermäusen. „Zola, Ihr seid verletzt. Ser Aro hat Euer Bein versorgt, er ist der Schiffsarzt hier an Bord. Er hat es sehr ordentlich gemacht, aber wir sollten morgen früh in der Lage sein, weiter gegen die Wrokorks vorzugehen. Wisst Ihr, wo wir in Napoda Pflanzen auftreiben können, mit denen Ihr einen Selbstheilungszauber wirken könnt? Und könnt Ihr bis zur Stadt fliegen?“ Zola gab die Antwort, in dem sie aufstand und ihr Gesicht schmerzhaft verzog. „Ich glaube, es wird kein angenehmer Flug werden, aber es wird gehen. Wir können zu meinen alten Gemächern am Rande der Königshallen fliegen. Dort werde ich alles finden, was ich benötige, um die Heilung ein wenig zu beschleunigen. Und dort werden unsere neuen Freunde ein hervorragendes Jagdrevier finden.“ Sofort wandten beide Fledermäuse ihre Köpfe in Richtung Zola und Zosch leckte sich mit seiner verblüffend kleinen rosa Zuge über die Lefzen.
Es war stockdunkel, als sie die Königshallen erreichten. Zolas Gemächer befanden sich in dem gleichen Zustand, in dem sie sie verlassen hatte; allerdings hatte sich über alles eine dünne Staubschicht gelegt. Sie waren auf der Terrasse gelandet, die sich direkt vor Ihren Zimmern befand und einen zauberhaften Ausblick auf „die Gärten“ bot. Die Gärten waren eher ein kleiner Wald, der von Wiesen und Hainen, aber auch künstlich angelegten Bereichen und Teichen durchzogen war. Kurz nach der Landung verschwanden die beiden Fledermäuse zwischen den Bäumen, würden aber rechtzeitig vor dem Morgengrauen zurück sein.
Zola war erschöpft von dem Flug, ging aber auf schnellstem Wege, gefolgt von Gandaros, in ihr Experimentierzimmer. Gandaros entflammte die Kerzen und das Licht gab den Blick auf ein ordentlich eingerichtetes kleines Labor frei, an dessen Wänden sich Regale mit hunderten kleiner Tonkrüge befanden, die alle mit Etiketten versehen und beschriftet waren. Auch viele Bücher, die selten geworden waren und einen hohen Wert darstellten, befanden sich dort. Während sich an der Wand links des Einganges ein Experimentiertisch mit Glaskolben, einer kleinen Feuerstelle und einem großen Mörser aus schwarzem Stein befand, war vor dem Fenster ein Schreibtisch aus schwerem Holz platziert, auf dem sich immer noch einige Bücher, eine Schreibfeder und ein Stempel mit Zolas Siegel befanden. „Erhitzt Ihr bitte etwas Wasser in dem Kolben der Destillieranlage, Gandaros? Ich werde ein Grünwurzeldestillat herstellen. Es wirkt mit Abstand am besten und die zweijährige Lagerung sollte für die Grünwurzeln kein Problem gewesen sein“, sagte Zola, während sie den entsprechenden Tonkrug suchte und auch schnell fand. Kurze Zeit später rann eine dunkelgrüne Flüssigkeit durch die Glasrohre der kleinen Destillieranlage und tropfte dickflüssig in ein Schnapsglas am Ende der Anlage. Gandaros reichte Zola das Glas, die es sich in dem hochlehnigen Stuhl an Ihrem Schreibtisch bequem gemacht und den Verband von dem Oberschenkel entfernt hatte. „Zieht Ihr die Fäden heraus, wenn der Heilungsprozess einsetzt?“, fragte Zola. „Der Schiffsarzt hat die Wunde zwar gut zusammengenäht, aber ich bin doch noch ein wenig eitel und kann auf die Fäden und die Löcher, die sie in der Haut hinterlassen werden, gut verzichten.“ Zola trank die dickflüssige, grüne Flüssigkeit und lehnte sich bequem in den Stuhl zurück, während sich auf ihrem Gesicht ein Ausdruck angespannter Konzentration ausbreitete.
Gandaros beobachtet die Wunde, die mehr als fingerlang war und mit 17 Fäden zusammengehalten wurde. Die Wundränder waren scharlachrot, aber während Gandaros noch auf die Wunde blickte, wurde das Scharlachrot blasser und blasser und die Schwellung ging zurück. Die Paste, die der Schiffsarzt in die Wunde geschmiert hatte, drang zwischen den Wundrändern hervor und floss am Bein herunter. Gandaros begann vorsichtig, die Fäden zu entfernen. Es war mehr als verblüffend, mit welcher Geschwindigkeit Zola mit Hilfe der Grünwurzel und ihrer Magie die tiefe Wunde heilte. Nachdem die Schwellung ganz verschwunden war, begannen sich die Wundränder, vom Rand ausgehend, zu vereinigen. Kurze Zeit später wies nur noch eine leichte Erhellung der Haut darauf hin, dass der Oberschenkel vor kurzer Zeit schwer verletzt war. Erschöpft stieß Zola einen Seufzer aus. „Könnt Ihr etwas zu essen besorgen?“, fragt Zola noch, bevor sie die Augen schloss und auf dem Stuhl einschlief.
Gandaros hatte den Tisch im Esszimmer reich decken lassen. Es gab verschiedene Fische, unter anderem den in Napoda so gerne gegessenen Haifisch, der die Küstengewässer unsicher machte, aber auch verschiedene Gemüsearten und Massen von Obst, das hier im Süden wie Unkraut wuchs. Die Zimmer waren angefüllt mit dem Geruch südlicher Gewürze, die in Napoda gerne und in großer Menge verwendet wurden. Vorsichtig weckte er Zola, die immer noch schlafend in dem Schreibtischstuhl saß. Sie sah bereits erholter aus, als sie die Augen aufschlug. Dann betrachtet sie Ihren Oberschenkel, den Gandaros gesäubert hatte. Sie schien mit dem Ergebnis ihrer Heilung zufrieden zu sein. „Danke für die Hilfe, Gandaros. Und danke für das Essen – es duftet köstlich. Gehen wir ins Esszimmer?“, und schon war sie auf dem Weg. Sie ging wie immer und von einer Beeinträchtigung durch die Verletzung war nichts zu erkennen. Sie aßen schweigend, bis Gandaros Zola ein großes Stück Haifisch auf den Teller legte. Zola führte gerade die Gabel mit dem ersten Bissen zum Mund, als sie mitten in der Bewegung stoppte und die Gabel mit dem Stück Haifisch wieder auf den Teller legte. Dann ging sie eilig in ihr Labor und kam mit einem Tongefäß zurück, das mit „Hynaskraut“ beschriftet war. „Könnt Ihr mit Hilfe des Hynaskrautes Fische beeinflussen, Gandaros?“
Sie trafen sich vor Sonnenaufgang zu einem kurzen Frühstück im Esszimmer. Die beiden Fledermäuse waren zurück und hingen an einem dicken Holzbalken kopfüber von der Decke. Von den Speisen, die Gandaros hatte bringen lassen, war außer dem Obst und dem Wein jedoch nichts mehr übrig. Die Fledermäuse hatten alles bis auf den letzten Krümel vertilgt und mussten sogar die Teller und Schüsseln sauber geleckt haben. Sie blitzen, als wenn sie gerade gewaschen worden wären. So fiel ihr Frühstück spärlicher als erwartet aus.
Als Sol aufging, befanden Sie sich bereits wieder in der Luft und erreichten, in einen rot-violetten Morgenhimmel fliegend, schnell die Küste. Fast 30 der Piratenschiffe mussten soeben an den Kais angelegt haben. Die Piraten bereiteten sich auf den Angriff vor. Zola und Gandaros flogen Kreise, um sich einen Überblick zu verschaffen und entdeckten auf einem der Wehrtürme der Stadtmauer, die sich zwischen den Hafenanlagen und dem Vergnügungsviertel befand, die Kommandozentrale des Prinzen, der mit einigen seiner Hauptleute diskutierte und in Richtung der angelandeten Piratenschiffe zeigte. Der Prinz sah die beiden Magae hoch über sich, hob die Hand zum Gruß und verschwand dann zusammen mit seinen Hauptleuten. Gandaros und Zola wendeten und flogen in Richtung der Katapultschiffe.
Seine Hauptleute wollten ihm ausreden, den Angriff gegen die Piraten selbst zu führen, aber Prinz Gannio vertrat vehement die Meinung, dass ein General sein Heer als Vorbild selbst in die Schlacht führen sollte. So hatte er es von General Maturi gelernt.
Hinter den Toren befanden sich 5.000 Fußsoldaten, die ausschließlich mit Schwert und Schild bewaffnet waren und 1.000 Bogenschützen in Bereitschaft. Gannio rechnete damit, dass sich auf den Schiffen, die bereits angelegt hatten 2.000 bis 3.000 Piraten befanden. Jedes der Schiffe hatte Platz für eine Besatzung von 70 bis 100 Homuae. Die eigene Übermacht war nötig, da Gannio in organisierten Kampfreihen angreifen wollte. Einzelkämpfe, in denen die nur leicht gepanzerten Piraten Vorteile durch ihre höhere Beweglichkeit erzielen konnten, wollte er weitmöglich vermeiden. Auch waren durch organisierte Kampfreihen die dahinter befindlichen Bogenschützen besser geschützt und konnten die Piraten von der ersten Gebäudereihe am Ufer aus mit einem ständigen Pfeilhagel belegen.
Die Torwächter verständigten sich auf ein Zeichen des Prinzen mit Fahnen untereinander und öffneten die Tore gleichzeitig. Gannio stand hinter dem mittleren der dreizehn Tore, die den Durchgang vom Vergnügungsviertel zu den Hafenlagen darstellten. Sobald das Tor geöffnet war, führte er, parallel zu zwölf erfahrenen Hauptleuten, die hinter den anderen Toren gewartet hatten, seine Phalanx die breite Straße hinunter in Richtung Hafen. Hinter ihm schwärmten Krieger in die kleineren, seitlich abzweigenden Gassen, um sicherzustellen, dass keine Piraten sie passierten und in ihren Rücken gelangten. Kurz bevor Sie die Kais erreicht hatten, stießen sie auf die ersten Piraten, die schreiend auf die Phalanx zurannten. Auf Kommando des Prinzen bildeten die napodianischen Soldaten eine durchgehende Reihe mit ihren Schilden und gingen ruhig im Gleichschritt weiter. Als die Piraten noch 30 Schritte entfernt waren, hob Gannio seinen Arm und die Bogenschützen, die hinter der ersten Hundertschaft folgten, eröffneten das Feuer. Die Pfeile hielten eine blutige Ernte und durchdrangen die leichten Rüstungen der Piraten an vielen Stellen. Die ersten zwei Reihen der Piraten gingen zu Boden, aber die folgenden sprangen über sie hinweg und warfen sich gegen die Schilde. Ein Pirat mit schwarzem Bart und wutverzerrtem, narbigen Gesicht rannte direkt auf Gannio zu. Sein Morgenstern knallte mit Wucht gegen den oberen Rand von Gannios Schild, das mit dem königlichen Wappen, der Handelskogge über zwei gekreuzten Speeren, verziert war. Sofort zuckte ein leichter Schmerz durch seinen Schildarm, aber nichts desto trotz drückte er den Schild etwas nach vorne gegen den Piraten. Er nutzte dabei die im Schildwall entstandene, kleine Lücke und führte einen Schwertstreich von oben nach unten gegen die Halsbeuge des Piraten, der durch den Stoß ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten war und es nicht mehr schaffte, den Klemmdolch, den er in der linken Hand führte, gegen das Schwert einzusetzen. Zwei Hände tief drang das Schwert in den Hals ein und zerfetzte Muskeln und Adern. Blut spritze in Gannios Gesicht.
Keiner dieser ersten Piraten hatte es geschafft, die Phalanx zu durchbrechen und die wenigen, die den Angriff überlebt hatten, rannten zurück zum Hafen. Gannio hob den Arm und die Pfeile der Bogenschützen rasten in die ungeschützten Rücken. Die Angriffsreihe der Napodianer war kaum ins Stocken geraten und setzte den Weg zum Hafen fort. Als sie die Mündung der Straße zu den breiten und weitläufigen Plätzen und Kais vor der ersten Reihe der Hafengebäude erreicht hatten, gab der Prinz den Befehl zu halten. Vor ihnen befand sich kein einziger Gegner. Gannio löste sich aus der Phalanx und verließ vorsichtig den Schutz der Gebäude. An der Küste links von Ihnen befanden sich ebenso keine Gegner wie direkt vor ihnen. Die Hauptleute, die die Straßen links, also nördlich von ihm heruntergezogen waren, kamen im Laufschritt auf ihn zu. Er wandte den Blick nach Süden. Dort tobte die Schlacht. Das siebzig Homuae-Längen breite Kai war angefüllt mit kämpfenden Napodianern und Piraten, die versuchten, in die zu den Toren führenden Straßen zu gelangen. Südlich der Piraten hatten seine Hauptleute über die gesamte Breite eine Phalanx gebildet, die die Piraten von der Seite her angriff.
Die Hauptleute hatten ihn erreicht. „Wir fallen ihnen auch in die andere Flanke“, befahl Prinz Gannio. „Sendet Boten zur Mauer, damit in den Straßen, die die Piraten zu den Toren nehmen wollen, genug Reserve vorhanden ist. Und befehlt auch, dass die an die Straßen angrenzenden Häuser mit Bogenschützen besetzt sind. Wir haben hier genug Kräfte für unseren Angriff. Bitte lasst alle Piratenschiffe säubern, an denen wir vorbeikommen. Dies wird ein guter Ersatz für unsere Schiffe, die sie versenkt haben. Wenn die Schiffe unser sind, lasst Besatzungen aus der Stadt kommen, so dass wir ihre eigenen Schiffe gegen sie einsetzten können. Ich schätze, dass sie immer noch 45 Schiffe auf See haben. Wenn sie sich vom Admiral lösen können, greifen uns diese sonst noch von hinten an. Und nun los. Phalanx über die ganze Breite und vierfachen Ersatz für jeden, der in der ersten Reihe steht, dann die Bogenschützen und dann die Nachhut, die sich auch um die Piratenschiffe kümmert. Kurz vor dem Auftreffen auf den Feind verändern wir die Phalanx in einen dreieckigen Keil und versuchen, sie weiter aufzuspalten!“
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Schlachtordnung stand, dann rückte Gannio vor. Von nun an hatten die Piraten keine Möglichkeit zum Rückzug mehr – die Falle hatte zugeschnappt, aber in der Falle saßen mindestens 2.500 wild entschlossene Piraten. Viele von diesen rannten auf die Napodianer zu, als der Abstand sich auf 200 Schritte verringert hatte.
Zola kaute bereits auf dem Hynaskraut, als sie Zascha bat, Gandaros die ersten Angriffe alleine fliegen zu lassen. Sie erklärte Zascha, dass sie in den nächsten Minuten nicht mit ihr in Kontakt treten könne, Zascha durch die geistige Verbindung aber gerne beobachten könne, was sie tat. Sie ermahnte Zascha, keinesfalls zu nah an die Katapultschiffe heranzufliegen, die dies nur wiederwillig akzeptierte. Zola konzentrierte sich und richtete ihre Gedanken auf die Haie, die sich zu Hunderten zwischen den kämpfenden Schiffen bewegten und sich gierig auf Homuae stürzten, die mit ihren Schiffen versanken oder über Bord gingen. Niemand, der ins Meer fiel, überlebte solch ein Bad. Sie vermittelte den Tieren ein Bild von reicher Beute und von Massen von Blut unter den Katapultschiffen, auf denen sich die Wrokorks befanden. Sie entfachte mit Hilfe des Hynaskrautes und ihrer Magie den Wunsch, dort zu jagen; ein Befehl, dem die Haie sich nicht wiedersetzen konnten. Zola schaute nach unten und konnte unzählige kleine Dreiecke erkennen, die mit hoher Geschwindigkeit durch das Wasser in Richtung Katapultschiffe pflügten. Kleine weiße Wellen bildeten sich im blauen Meer, wo die Rückenflossen das Wasser teilten.
Gandaros entfesselte den Himmel. Er flog in einem weiten Kreis um die Schiffe, über denen sich nachtschwarze Wolken bildeten. Die Wolken standen in einem krassen Gegensatz zu dem rötlichen, wolkenfreien Morgenhimmel, der im äußersten Süden so typisch war. Gewitter gab es hier sonst nicht. Dann setzte in dem durch seine Flugbahn begrenzten Gebiet heftiger Regen und Wind ein und kurz darauf zuckten massenhaft mächtige Blitze aus dem Himmel, die dankbar in die höchsten Punkte und somit in die Masten der Katapultschiffe fuhren. Der mächtige Donner war bis in die Stadt zu hören und es roch nach Schwefel. Erste Brände wurden entfacht, die aber durch den Regen schnell wieder gelöscht wurden. Die Schäden an Masten und Segeln jedoch waren irreparabel und auch einige Besatzungsmitglieder starben durch die Blitze wie Motten, die in eine Fackel flogen. Zola schloss bereits zu Gandaros auf. Nachdem die Schiffe nun in ihrer Manövrierfähigkeit eingeschränkt worden waren und Unterstützung unter Wasser herbeieilte, begann Teil Zwei ihres Planes.
Gandaros und Zosch sowie Zola und Zascha griffen die Schiffe direkt an. Die Fledermäuse flogen mit häufigen und abrupten Richtungswechseln auf die Schiffe zu. Sie wollten den Eindruck erwecken, die gleiche Angriffstaktik wie am Vortag zu wählen. Zola hatte wieder der Feuerball über sich manifestiert, der unablässig Feuerstrahlen gegen die Piratenschiffe schoss. Sie zielte dabei knapp über die Wasserlinie und brannte Löcher in den Rumpf der Schiffe. Durch die Wellen, die das Gewitter erzeugte, schwappte mehr und mehr Wasser durch die Löcher. Gandaros nutzte seine Magie, um die immer noch unablässig vom Himmel zuckenden Blitze in bestimmte Richtungen zu lenken und zerstörte so nach und nach die Aufbauten der Schiffe. Die Reaktion der Wrokorks ließ nicht lange auf sich warten. Grün leuchtende Blitze zuckten gegen Gandaros und Zola, die jedoch beide einen Schutzschild geschaffen hatten, an denen die Blitze zerschmetterten und sich funkensprühend auflösten. Auch trafen nur wenige der Blitze auf die magischen Schilde, da die Fledermäuse geschickt auswichen. Der Kreis um die Schiffe hatte sich in ein fantastisches, vielfarbiges Inferno verwandelt, in dem die Schiffe wie Spielzeuge wirkten. Einige hundert Schritte vor den Schiffen brachen Gandaros und Zola die Angriffe jeweils ab, flogen einen weiten Kreis und griffen von einer andern Seite erneut an. Gerade drehte Zola ab, als die beiden Wrokorks gleichzeitig ihre grünen Blitze auf sie schleuderten. Der Schild zerbarst und wieder wurden Zascha und Zola durch die Luft geschleudert. Diesmal stürzten beide ins Meer. Gandaros griff panisch in seine Tasche und stopfte sich das Hynaskraut in den Mund. Zosch hatte den Angriff bereits abgebrochen und flog zur Absturzstelle von Zascha und Zola. „Kreise über den beiden! Ich muss die Haie vertreiben, sonst werden sie gefressen!“ Zosch flog eine Schrittlänge über dem Wasserspiegel und drehte äußerst enge Kreise, während Gandaros sich auf die Haie konzentrierte und sie zu den Katapultschiffen schickte, die mittlerweile ausnahmslos schräg im Wasser lagen. „Zascha kann nicht schwimmen! Ich muss sie aus dem Wasser ziehen. Halte Dich fest!“, dachte Zosch, nahm dann etwas an Höhe auf und ging in einen Sturzflug mit Zascha als Ziel über, die sich bereits knapp unter der Wasseroberfläche befand und wild mit ihren Flügeln zuckte. Zosch tauchte mit Krallen und Körper in das Wasser ein und griff blind nach Zascha; nur Kopf und Flügel, die nach oben abgewinkelt waren, befanden sich über der Wasseroberfläche. Zosch krallte sich in Zascha wie in einer Jagdbeute fest – die Verletzungen mussten schrecklich sein – und zog sie, Gandaros und sich selbst mit einem gewaltigen, kraftvollen Flügelschlag über die Wasseroberfläche. Schnell gewann er an Höhe. Zascha war bei Bewusstsein. Nach einem kurzen telepathischen Kontakt ließ Zosch seine Gefährtin los, die eine elegante Rolle machte, dann schnell in große Höhe aufstieg und in einen Gleitflug überging. Gandaros blickte nach unten. Zola schwamm im Meer und blickte zu ihnen hinauf. Sie schien unverletzt und schwamm mit gleichmäßigen Schwimmbewegungen im Meer. Haie konnte Gandaros keine in der Nähe spüren. „Kannst Du …… ?“, dachte er und Zosch ging erneut in einen Sturzflug in Richtung Zola über, diesmal aber langsamer und kontrollierter. Zola streckte einen Arm aus dem Wasser und Zosch ergriff Zola, ohne ihr auch nur einen Kratzer zuzufügen. Auch er stieg nun in größere Höhe auf und flog auf Zascha zu. Zascha, die die Rettungsaktion aus ihrem erholsamen Gleitflug beobachtet hatte, flog nun genau unter Zosch, der Zola sanft auf ihren Rücken absetzte.
Alle vier blickten auf die Schiffe, die nun ausnahmslos erhebliche Schlagseite hatten. „Fliegt zum Schiff des Admirals, Zola. Ich bin mir sicher, dass Zascha ein wenig zusammengeflickt werden muss. Der Schiffarzt hat zwar noch nie eine Fledermaus behandelt, aber er wird die Blutungen mit Sicherheit stoppen können. Bist Du einverstanden Zascha?“ Im gleichen Moment war Zascha bereits in eine Kurve geschwenkt, die sie in Richtung der Seeschwalbe führte.
„Bringst Du mich etwas näher an die Schiffe? Ich sorge dann für ein wenig mehr Seegang. Löcher haben die Schiffe genug“, dachte Gandaros. Der Wind im Kreis um die Schiffe verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde und die Wellen prallten gegen die Schiffsrümpfe und schäumten über die Reling. Unspektakulär versanken die Schiffe, nachdem sich zu viel Wasser in ihnen befand. Gandaros konnte beobachten, wie sich die Wrokorks gegen die Haie wehrten. Einige der Fische schienen ohne Grund zu zerplatzen, bevor erst der eine, dann der andere der beiden Wrokorks gebissen und dann zerfetzt und gefressen wurde. Als dieses Kapitel offensichtlich geschlossen worden war, flog Zosch schnell zur Seeschwalbe.
Als die Piraten noch einhundert Schritte entfernt waren, gab Gannio den Befehl zum Wechsel der Formation. Die Mitte der Phalanx beschleunigte ihre Schritte unter der Führung des Prinzen, der die Spitze bildete. Dadurch entwickelte sich ein Dreieck, dessen Mitte sich schneller vorwärts bewegte als die Schenkel. Als das Dreieck geometrisch perfekt war, nahmen auch die weiter hinten postierten Soldaten Geschwindigkeit auf und die dreieckige Phalanx, die nach wie vor an jeder Stelle durch aneinander angrenzende Schilde geschützt war, pflügte sich selbst wie einen Rammbock in die Masse der Piraten hinein. Je weiter sie vorstießen desto mehr nahm die Geschwindigkeit ab und desto härter wurden die Kämpfe.
Gannio, der die Spitze des Dreiecks war, wusste nicht, ob er schon viele Piraten getötet hatte. Er wusste nur, dass sein Arm am nächsten Tag, wenn er ihn denn erleben sollte, schwer sein würde. Ununterbrochen schlug er auf die Piraten ein, die sich in seinem Weg befanden. Er ließ sich nicht auf einen Kampf Mann-gegen-Mann ein, sondern führte den Rammbock unablässig weiter und weiter, bis er mit erhobenem Schwert direkt vor Sindo stand, der ihn bewundernd anschaute. „Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr so kämpfen könnt, mein Prinz und General. Meine Anerkennung!“ Gannio nickte ihm kurz dankend zu und befahl dann ohne Zögern. „Verstärkt die Mitte mit Eurer Reserve – sofort. Sie sind nun geteilt und wir können sie erledigen. Ich habe unsere Truppen in der Straßen zu den Toren verstärken lassen. Dort kommen sie nicht durch!“
Was nun folgte, war Schlachterei. Die an Land gegangenen Piraten wurden zwischen den zahlenmäßig weit überlegenen Napodianern blutig aufgerieben, bis sich einige wenige hunderte von ihnen schließlich ergaben. Tausende tote Piraten lagen auf den Kais und im Hafenbereich. Nachdem Zascha von dem Schiffsarzt versorgt worden war, griffen Gandaros und Zosch in die Seeschlacht ein und setzten viele Schiffe in Brand. Diejenigen Piraten, deren Schiffe noch manövrierfähig waren, beschlossen in Richtung Hafenanlagen zu segeln und wurde von den Katapulten unter Feuer genommen. Diejenigen, die die Hafenlagen erreichten, trafen auf übermächtige Landstreitkräfte und wurden vernichtet oder gefangen genommen.
Die Halle des Krieges wirkte fast leer. Außer dem Prinzen waren Zola, zwei Fledermäuse, Orma und Gandaros in dem großen Raum. Alle sahen ein wenig erschöpft aus und Prinz Gannio hatte einen dicken, blutigen Kratzer auf der Stirn. „Was denkt Ihr über den Angriff, Prinz Gannio?“, fragte Gandaros und brach damit die Stille in der Halle. Sie hatten es sich auf den unteren Bänken bequem gemacht. Gannio überlegte einen Moment. „So etwas gab es noch nicht. Die Piraten haben es in der Vergangenheit nie gewagt, direkt gegen Napoda vorzugehen. Auch wenn der Angriff nicht erfolgreich war, ist es doch eine neue Stufe der Gewalt. Hinzu kommt, dass die Piraten ohne die Verteidigung, die Ihr organisiert habt, wahrscheinlich in die Stadt eingedrungen wären und geplündert, gebrandschatzt und geschändet hätten. Auch die Menge der Schiffe, mit denen sie angegriffen haben, ist beängstigend. Der dritte Punkt ist die magische Unterstützung, die sie bekommen haben. Wie sollen wir solchen Angriffen begegnen, wenn Ihr nicht hier seid, Ser Gandaros und Lady Zola?“ „Um mit Eurer letzten Frage zu beginnen“, antwortete der Magae. „Ich hatte ursprünglich geplant, Euch zum Tarutos zu schicken und dort die Ausbildung Eurer magischen Fähigkeiten fortzusetzten. Ihr müsst insbesondere darauf vorbereitet werden, wie Ihr Euch zu verhalten habt, wenn die Magie in Euch sich gegen Euch auflehnt und Euch bekämpft. Ihr seid in einem Alter, in dem Ihr jederzeit mit dieser Auflehnung rechnen müsst! Auf der anderen Seite verstehe ich natürlich, dass Ihr Napoda im Moment nicht verlassen könnt. Ihr habt das Generalsamt übernommen und seid der Prinz dieses Landes. Da Euer Vater – vorsichtig gesagt – zurzeit seinen Aufgaben nicht nachkommen kann, werdet Ihr auch hier helfen müssen. Mir selbst wäre es am liebsten, wenn Zola wieder hier in Napoda bleibt und Eure Ausbildung fortsetzt. Dies setzt natürlich voraus, dass sie sich dafür bereiterklärt.“ Gandaros und auch die anderen schauten Zola an. „Ihr wisst, Gandaros, dass ich sehr froh wäre, wenn ich wieder hier in meiner Heimat leben könnte. Gerne helfe ich dem Prinzen und werde ihn weiter ausbilden. Ich denke jedoch, dass er, wenn die Lage etwas ruhiger ist, auf jeden Fall zum Tarutos reisen sollte, um alle Aspekte der Magie kennen zu lernen.“
Gandaros war erleichtert, dass Zola einverstanden war. Tarris brauchte ein starkes Napoda und ein starkes Napoda würde es nur mit einem vom Volk und vom Militär akzeptierten Anführer geben. „Damit wäre Eure letzte Frage geklärt. Um zu den ersten beiden zurückzukommen. Die Piraten sind nur ein Teil des Problems, das nicht nur Napoda, sondern ganz Tarris betrifft.“ Gandaros erläuterte erneut die Befürchtungen des Rates der Erfahrenen. Er ging auf jedes Detail, das ihm bekannt war, ein und daher vergingen zwei Stunden wie im Flug. Auch Orma hörte aufmerksam zu und selbst Zosch und Zascha schienen zu lauschen und jedes Detail zu verstehen. Gandaros endete mit „Ihr seht, dass das Problem größer sein könnte, als wir alle heute annehmen. Und daher wird der Rat der Erfahrenen alles daran setzten, die freien Völker von Tarris in einer Allianz zu einigen, um einer möglichen Invasion aus dem Nordosten wiederstehen zu können. Ihr habt gesehen, wie sich die Vorgehensweise der Piraten geändert hat und ich möchte Euch, Gannio, in Eurer Eigenschaft als General und zukünftiger Herrscher von Napoda bitten, die Allianz ohne Einschränkungen zu unterstützen. Aber seid Euch bewusst, dass es auch zu Auseinandersetzungen außerhalb des Herrschaftsbereiches von Napoda kommen kann.“
Gandaros sprach dann wieder zur gesamten Runde. „Auf jeden Fall solltet Ihr die Kampfkraft von Napoda deutlich erhöhen. Ich denke, dass alleine die Piraten im Osten trotz der heutigen Niederlage über mindesten 20.000 Mann verfügen, die jederzeit einsatzbereit sind!“ Gandaros Ausführungen wurden jäh unterbrochen, als die Türen der Halle des Krieges heftig aufgestoßen wurden und mit einem dumpfen Knall gegen die Wand krachten. Herein kamen ein Schreiberling, ein Hauptmann der Königsgarde und zehn Soldaten, die ebenfalls der Garde angehörten. Der Schreiberling kniete vor dem Prinzen nieder, was gegenüber einem Prinzen eine eher ungewöhnliche Geste war. „Mein Prinz, verzeiht, dass ich Eure Unterredung störe“, begann der Schreiber mit gebeugtem Kopf. „Ich bringe eine sehr schlechte Nachricht.“ Jeder im Raum dachte sofort an die Piraten. Hatten sie eine Reserve? Waren sie doch noch nicht geschlagen? „Euer Vater, König Geminianos. Er, er hat ….., er hat sich selbst an einem der Galgen vor der Stadt aufgehängt. Er, er ist …. tot.“ Im Saal des Krieges herrschte Totenstille. Über eine lange Zeit sagte keiner der Anwesenden ein Wort, aber auch Anzeichen von Trauer blieben aus. Sie waren fassungslos.
Nach langen Minuten ergriff schließlich Orma stockend das Wort. „Wo befindet sich der König jetzt?“, war das erste, was ihm einfiel, aber die Antwort war überraschend. „Er hängt nach wie vor an dem Galgen, keiner hat es bisher gewagt, ihn herunterzuholen. Wir wollten Euch fragen, was wir nun mit ihm tun sollen.“ Orma wandte sich an den Hauptmann. „Hauptmann, besorgt Euch bitte unverzüglich eine Kutsche und dann nehmt Eure Männer und holt Euren König von dem Galgen herunter. Bringt ihn in die Königshallen in seine Gemächer. Wir werden auch schnellstens dorthin gehen und überlegen, was als nächsten zu tun ist.“ Die Soldaten, denen ihr Unbehagen anzusehen war, verließen auf der Stelle die Halle des Krieges und machten sich auf den Weg, den König vom Galgen abzuscheiden. Gannio, Gandaros, Orma und Zola machten sich auf den Weg in Richtung Königshallen, während die Fledermäuse zielstrebig zu den Gärten flogen.
In der folgenden Nacht musste viel organisiert werden. Sie beschlossen, die übliche dreitägige Trauerfeier mit der Krönung von Prinz Gannio abzuschließen und die Feier anschließend einen Tag weiterlaufen zu lassen, damit jeder die Gelegenheit erhielt, auf König Gannio anzustoßen. Der Königsrat, dem neben dem König einige Berater und hohe Offiziere angehörten, vertrat vehement die Ansicht, dass die gefangenen Piraten ohne Ausnahme während des Festes hingerichtet werden sollten, aber der junge König legte sein Veto ein. Er wollte seine Regentschaft nicht mit einer solchen Hinrichtungsorgie beginnen. Stattdessen wurden die Piraten ohne Wasser, Nahrung und Kleidung in die Wüste getrieben. So hatten sie zumindest eine sehr kleine Chance, zu überleben.
König Geminiano war in der großen Kathedrale zwischen Händlerviertel und Königshallen aufgebahrt worden. Tausende von leuchtenden Kerzen gaben der Kathedrale, die von innen mit dunklem Marmor ausgekleidet war, ein Ehrfurcht erbietendes Aussehen. Der König war in weiße lange Gewänder gekleidet und auf seiner Brust befand sich das Wappen der Könige des Südens: Die Handelskogge über den gekreuzten Speeren. Zur Mittagszeit würden die Tore der Kathedrale für die Bürger geöffnet, damit sie Abschied von ihrem König nehmen konnten. Auch wenn Geminiano während seiner Untätigkeit in den letzten Jahren nicht sehr beliebt war, hatten sich bereits lange Reihen wartender Homuae aus allen Gesellschaftsschichten gebildet. Gannio und Gandaros standen auf beiden Seiten des Sarges und blickten auf den König, der zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Würde ausstrahlte. Unter dem in die Kleidung eingestickten Wappen hielt er sein Schwert in beiden Händen. Dieses würde er jedoch nicht mit auf seine lange Reise nehmen, sondern es würde Gannio bei der Krönung überreicht werden.
Gandaros und Gannio standen schweigend an den beiden Seiten des Sarges und beide waren festlich gekleidet. Soweit Gannio sich erinnern konnte, trug Gandaros zum ersten Mal die weiße Robe mit den goldenen Stickereien, die dem Anführer der Gemeinschaft der Erfahrenen vorbehalten war. Gandaros, der keinen Hut trug, hatte seine langen grauen Haare in einen dicken Zopf gebunden, in dem sich kleine blaue Edelsteine befanden. Gandaros sah genau so aus, wie sich jeder einen mächtigen Magae vorstellte. „Prinz Gannio, ich werde Euch bald verlassen müssen, da wichtige Aufgaben in Hornstadt und den großen Städten von Tarris warten. Der hohe Rat selbst und die Gemeinschaft der Erfahrenen wird unsere Ansicht über die Gefahren aus dem Nordosten auf ganz Tarris verbreiten und wir werden versuchen, möglichst viele Verbündete zu finden, die der Gefahr gemeinsam Widerstehen wollen. Aber ich habe auch eine weitere wichtige Aufgabe. Vielleicht erinnert Ihr Euch daran, was ich Euch im ersten, kleinen Teil Eurer magischen Ausbildung über die vier großen Artefakte erzählt habe. Falls es zu einem Konflikt kommen sollte, wären sie eine große Hilfe gegen die Mächte, die gegen uns kämpfen werden; allerdings sind immer noch einige der großen Artefakte verschollen und der Rat ist intensiv auf der Suche nach ihnen. Ich hoffe, dass in den Geheimen Bibliotheken der Universität von Napoda Hinweise existieren, die verraten, wo sich die Artefakte befinden könnten. Gebt Ihr mir die Genehmigung, dort zu suchen?“
„Was für eine Frage, Gandaros! Selbstverständlich könnt Ihr in jedem Winkel von Napoda suchen, in dem ihr suchen möchtet. Aber Ihr wisst, dass es gefährlich ist? Die Geheimen Bibliotheken befinden sich tief unter dem Meeresspiegel und der einzige Weg dorthin wird von Kreaturen bewacht, die niemandem Rechenschaft schuldig sind und auch den Befehlen des Königs selbst nicht folgen. Allerdings akzeptieren sie ihn als jemanden, der die Geheimen Bibliotheken besuchen darf. Im tiefsten Untergeschoss der Bibliotheken der Universität befindet sich ganz am Ende der Räume eine große Höhle, die Ihr durch eine Falltür erreichen könnt. Nehmt ein Seil mit, sonst werdet Ihr beim Rückweg große Schwierigkeiten haben. Folgt der Höhle in die Richtung, in der der Bewuchs der Wände mit Flechten immer mehr zunimmt und Ihr werdet auf einen schmalen Gang stoßen. Dieser ist sehr lang, führt aber an seinem Ende in die Geheimen Bibliotheken. Seid vorsichtig, sobald Ihr den Gang betretet, denn ab dort müsst Ihr damit rechnen, auf die Wächter zu treffen.“ Gannio griff nach der Hand seines toten Vaters und zog von dem frisch manikürten Mittelfinger einen schlicht wirkenden Ring mit einem roten Stein ab, aus dem die Handelskogge des Wappens fein herausgearbeitet war und bot ihn Gandaros dar. „Nehmt diesen Ring, Gandaros. Die Wächter kennen ihn und sie werden Euch als jemanden erkennen, der im Sinne von Napoda die Geheimen Bibliotheken aufsucht. Aber auch dieser Ring bietet Euch keine absolute Sicherheit.“ Gandaros nahm den Ring entgegen und steckte ihn auf seinen eigenen Mittelfinger. „Habt Dank, Prinz Gannio! Ihr werdet Euch nun bald als König beweisen müssen. Dies wird für Euch eine spannende und schwierige Zeit werden. Vergesst darüber aber nicht, Eure magische Ausbildung fortzusetzen. Übt jeden Tag mit Lady Zola! Es ist wichtig, dass Ihr vorbereitet seid, wenn die Magie sich gegen Euch auflehnt. Es gibt nur einige Handvoll von Homuae, die den Kampf gegen die Magie ohne Vorbereitung überstanden haben – und ich möchte Euch nicht verlieren! Wenn Zola denkt, dass Ihr genug gelernt habt, kommt unverzüglich zum Tarutos. Nur dort könnt Ihr die magische Ausbildung abschließen und Ihr müsst dies tun, wenn Ihr Eure Stadt gegen Magae verteidigen wollt, da Zola Euch nicht bis in alle Ewigkeit zur Verfügung stehen kann. Auch werdet Ihr ein Mitglied des Bundes der Erfahrenen, wenn Ihr die Ausbildung abgeschlossen habt und dies wird Euch dabei helfen, dass Napoda weiterhin eine blühende Handelsmetropole bleibt! Aber nun möchte ich Euch nicht weiter mit Ermahnungen von Eurer Trauer abhalten. Ich mache mich auf den Weg zur Bibliothek.“ Gandaros wandte sich um und ließ den jungen König, dem er viel zutraute, mit seinem toten Vater alleine.