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»Mein Vater«, sagte meine Mutter zu dem Pater, der ein Bundesbruder war, »ist auch hier gewesen.«

Sie zeigte auf den neugotischen Kirchturm von St. Ottilien, meinte aber das angrenzende Internat.

»Tatsächlich? Wie schön!«

»Hammerl hat er geheißen.«

»Hammerl?«

Ich weiß nicht, ob der Pater deswegen schmunzelte oder ihm dieser Ausdruck von Haus aus ins Gesicht geschnitzt war.

»Wir können gern später im Schülerarchiv nachschauen, wie er sich bei uns gemacht hat.«

Er zwinkerte mir zu, als wollte er sagen, dass meine Enkel da später auch mal was über mich lesen könnten.

»Aber jetzt schauen wir uns erst mal ein bisschen um, damit der Peter sieht, ob unser Laden was für ihn ist.«

Ich fand es gemein, dass er so tat, als wäre es meine Entscheidung, ob ich ins Internat kam oder nicht.

»Als Erstes gehen wir in unser Missionsmuseum. Weil, das ist wirklich unser Schmankerl.«

Ich hatte es während der ganzen Fahrt geschafft, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten und so zu tun, als wäre der Besuch in St. Ottilien ein harmloser Familienausflug. Bei dieser Strategie wollte ich auch bleiben. Weder meine Eltern noch der Pater sollten erkennen, ob ich mich mit einer Zukunft als Internatsschüler bereits abgefunden oder einen Rettungsplan entwickelt hatte.

Das Missionsmuseum war alles andere als ein Schmankerl, wenn man Schmankerl wie Kaiserschmarrn oder Zwetschgendatschi zum Maßstab nahm. Es gab ausgestopfte Tiere aus Afrika mit Glasaugen, die man im Tierpark Hellabrunn lebendig sehen konnte oder in Ein Platz für Tiere von Bernhard Grzimek. Es gab Schmuck, Waffen und Masken. Aber die vergaß ich gleich wieder, als ich das Foto einer Gruppe von Missionaren entdeckte. Sie starrten erschrocken in die Kamera, als wüssten sie schon, dass sie bald nach der Aufnahme aufgehängt werden oder in einem koreanischen Lager am Hungertod sterben sollten. Das stand auf einer Tafel neben dem Foto.

»Natürlich wieder die Kommunisten«, sagte mein Vater.

Der Pater schmunzelte. Es war also sein Gesicht, nicht der Name Hammerl.

Ich hatte mich noch nicht von den ermordeten Missionaren erholt, da stand ich vor Hunderten aufgespießter Schmetterlinge. Einer, über dessen weiße Flügel sich ein zartes, blaues Band spannte, sah in Klein exakt so aus, wie ich mir die Muttergottes von Lourdes in Groß vorgestellt hatte. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich, falls ich wirklich Internatsschüler in St. Ottilien mit dem Berufsziel Missionar werden sollte, wieder mit einer Marienerscheinung zu rechnen hatte.

Ich sank, wie ich es im Kellerflur lange geübt hatte, leblos zu Boden. Meine Mutter stürzte mit einem Aufschrei zu mir.

»Peter, was ist los? Was hast du denn?«

Ich riss die Augen auf und tat so, als könnte ich nicht reden. Meine Mutter nahm mich in die Arme, mein Vater klopfte mir auf die Backen und tastete nach meinem Puls. Ich schluckte, holte tief Luft, schluckte noch einmal und flüsterte: »Ich … ich lauf weg.«

»Was sagt er, Gertraud?«

»Er …«

»Wenn ich ins Internat komme …«

»Jetzt red doch mal so laut, dass man dich hört!«

»Er sagt …«

Ich unterbrach meine Mutter und sagte es selbst.

»Wenn ich ins Internat komme, laufe ich weg. Und wenn sie mich einfangen, laufe ich noch mal weg. Immer wieder.«

Ich war so gerührt von mir selbst, dass ich zu schluchzen anfing.

»Und wohin willst du laufen?«, knurrte mein Vater.

»Ja, zu euch.«

Ich konnte sehen, dass in den Augenwinkeln meiner Mutter Tränen schimmerten. Als ich mir das mit dem Heimlaufen ausgedacht hatte, wusste ich, dass sie an dieser Stelle weinen würde.

»Du fällst doch nicht auf das Theater rein?«, sagte mein Vater. Meine Mutter warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und fragte mich, was sie für mich tun könne, damit es mir wieder besser ging.

»Mich nach Hause bringen«, hauchte ich.

»Du schaust dir jetzt das Internat an, Herrschaftszeiten!«, sagte mein Vater. »Wir sind nicht zur Gaudi hergefahren.«

»Dann Kaba«, sagte ich.

So gelang mir wenigstens die Befreiung aus dem Schmankerl-Museum. Kaba gab es laut dem Pater im Speisesaal des Internats. Der Kaba war aber kein Nesquik wie bei uns zu Hause, sondern Ovomaltine. Ich ließ den Becher nach einem Schluck stehen.

Mein Vater hasste es, wenn wir nicht aufaßen oder austranken, aber diesmal beherrschte er sich.

Als der Pater mir den Schlafsaal zeigte, sagte er: »Zu uns kommen immer wieder Zöglinge, die am Anfang furchtbar Heimweh haben, aber nach ein paar Wochen wollen sie gar nicht mehr weg.«

In einem Bett lag so ein Zögling. Er hatte einen roten Kopf und wimmerte. Wenn ich Fieber hatte, saß meine Mama bei mir oder machte mir Wadenwickel. Der Zögling war allein.

Ich überlegte kurz, ob ich jetzt schon den Asthmaanfall, den ich ebenfalls geprobt hatte, bekommen sollte. Ich hatte kein Asthma, deswegen musste mein erster Anfall sehr überzeugend sein. Ich holte tief Luft, da kündigte der Pater schon die nächste Station an, den Fußballplatz. Mir war klar, dass er mich damit nach dem Reinfall im Missionsmuseum ködern wollte. Alle Buben, außer den dicken, die nicht ins Tor wollten, spielten gern Fußball. Aber unser Bolzplatz direkt hinterm Haus war besser als alle Fußballplätze der Welt – wenn die Schafe ihn nicht gerade zugeschissen hatten.

»Ich möchte lieber erst ins Archiv, nach meinem Opa Hammerl schauen.«

Die Schülerakten lagerten im Dachboden, den wir über eine schmale Hintertreppe erreichten. Weil hier auch Tauben nisteten, waren die Schränke mit den Dokumenten und ein Lesetisch mit Bettlaken abgedeckt. Meine Mutter wusste, dass ihr Vater im Jahr 1887 geboren war, zehn Jahre später musste er in St. Ottilien angekommen sein.

»Barfuß angeblich«, sagte sie.

»Dann war er ja bei den allerersten Zöglingen hier«, sagte der Pater und zog ein Tuch weg. Staub flog auf, getrocknete Taubenscheiße rieselte auf den Boden. Er musste länger suchen, mein Vater schaute schon auf die Uhr. Er war es gewohnt, pünktlich um 13.00 Uhr am Mittagstisch zu sitzen, und hatte eine Empfehlung für eine Wirtschaft mit besonders günstigem Schweinebraten.

»Hammerl Josef«, sagte der Pater endlich, »geboren in Engelschalling.«

»Das ist er.« Die Stimme meiner Mutter zitterte leicht.

Der Pater breitete die Zeugnisse auf dem Tisch aus. Ich sah nur Einser und Zweier. Wahrscheinlich hat es damals nur zwei Noten gegeben, dachte ich.

»Seltsam, sein Abiturzeugnis fehlt, aber da ist ja der Schülerbogen.«

Ich konnte die Schrift nicht entziffern, aber meine Mutter las mir vor, dass mein Großvater strebsam, artig und sehr fromm gewesen war. Und, dass ihm der Unterricht an der Querflöte viel Freude bereitet hatte.

»Merkwürdig«, sagte der Pater, »wieso hat er die Schule denn so kurz vor dem Abitur verlassen?«

»Heißt das Unzucht?«, sagte mein Vater und deutete auf ein Wort.

Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund, der Pater klappte den Schülerbogen schnell zu, und mein Vater verbesserte sich.

»Blödsinn, Unfall. Ja, er hat einen Unfall gehabt.«

»Richtig!«, rief meine Mutter. »Daran erinnere ich mich dunkel.«

»Ja, das hat er erzählt, als ich zum ersten Mal bei euch zu Besuch war. Der Unfall bei der Apfelernte. Wie er von der Leiter gefallen ist.«

»Gott, der Arme«, sagte der Pater.

Die drei schauten zu mir, ob die Geschichte gewirkt hatte. Um sie zu beruhigen, sagte ich auch: »Der Arme.«

Unzucht war eindeutig ein Fall für mein Heft. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete, aber ich mochte das Wort sehr, weil es dazu führte, dass wir das Kloster St. Ottilien fluchtartig verließen. Und nicht nur das, mit der Unzucht war das ganze Internatsthema vom Tisch. Ich musste meinen Eltern nur versprechen, nie mehr Rauschgift zu nehmen und den Kontakt zu Hetti vollständig abzubrechen.

»Ich schwöre es hoch und heilig«, sagte ich vor unserem Auto und kreuzte die Finger hinter dem Rücken. Einmal musste ich auf jeden Fall noch mit Hetti reden, bevor ich sie für immer aus meinem Leben entfernte.

Hetti war in der ganzen Unterstufe dafür bekannt, dass sie griechische Götternamen runterbeten konnte wie ich den Rosenkranz. Eine, die wusste, dass Lachesis eine der drei Moiren war, die die Länge des Lebensfadens maß, den ihre Schwester Klotho gesponnen hatte und der von Atropos durchtrennt wurde, hatte sicher auch eine Erklärung für das Wort Unzucht.

Am nächsten Morgen, kurz vor der Kastanie, zupfte ich sie am Ärmel ihres verfilzten Norwegerpullis, den sie zu der Zeit immer trug. Ich konnte mir ja hinterher die Hände waschen.

»He, Hetti.«

»Peter!«

Sie schaute mich an wie jemand, der auf ein erlösendes Wort wartet. Sicher wollte sie hören, dass ich dank ihr endlich von den Drogen losgekommen war.

»Ich …«

Sie nickte mir aufmunternd zu.

»Du weißt doch garantiert, was Unzucht ist?«

»Was?«

»Unzucht.«

Ihre Augen wurden schmal und ihr Blick so starr, dass sie mir wie eines der ausgestopften Tiere mit den Glasaugen im Missionsmuseum vorkam.

»Wieso fragst du mich das?«

»Weil es mich interessiert.«

Hetti hörte nicht auf, mich anzustarren.

»Ich nehme kein Rauschgift mehr, ehrlich«, sagte ich.

Aber das war ihr egal.

»Wieso mich?«, sagte sie noch mal.

»Na ja, ich denke, du kennst dich mit solchen Sachen aus.«

Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde zuschlagen oder mir ins Gesicht spucken. Dann sagte sie nur: »Schwein« und lief weg.

Nach dieser Begegnung wollte Hetti mich nicht mehr retten. Dafür hielt sie mich unter ständiger Beobachtung. Wenn ich mich im Pausenhof aus Versehen irgendeinem einzelnen Mädchen näherte, zog sie es schnell weg. Ich hatte den Eindruck, dass sie sämtliche Schülerinnen der fünften und sechsten Klasse vor mir warnte, denn alle wichen plötzlich angewidert oder verängstigt vor mir zurück.

Wie ich den Sex erfand

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