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Zum Schulbus gab es zwei Wege. Einen über Untermenzing und einen über Obermenzing. Das kam daher, dass wir in beiden Vierteln wohnten. Die Grenze verlief mitten durch unser Grundstück, das Gebäude gehörte noch zu Untermenzing, der Garten schon zum südlichen Nachbarstadtteil.

»Wenn euch jemand fragt«, riet unser Vater, »seid ihr besser Obermenzinger.«

Bertis Einwand, dass wir doch nicht im Garten wohnten, ließ er nicht gelten. Ich begriff zwar nicht, warum die Ober- den Untermenzingern überlegen sein sollten, folgte aber seinem Rat. Berti hingegen bezeichnete sich stur als Untermenzinger. Er hatte, nachdem viele Wissensfelder bereits durch mich belegt waren, in der Familie die Rolle des Geografieexperten übernommen. Er saß stundenlang vor dem großen Globus, den er zu seinem neunten Geburtstag bekommen hatte, oder blätterte in Dierckes Erdkundeatlas. So kannte er Städte, von denen ich noch nie gehört hatte. Beim Hauptstädte-Raten gewann er immer, seine Lieblinge waren Ulan-Bator und Kuala Lumpur. Geografische Schlampereien korrigierte er sofort, durch ihn war mir bewusst, dass es ein erheblicher Unterschied war, ob ich unser Grundstück durch das Eingangstor oder über den Gartenzaun verließ.

Der Untermenzinger Weg war der erlaubte. Er führte über eine kleine Straße vorbei an Mitte der Sechzigerjahre erbauten Einfamilien- und Reihenhäusern mit kahlen Vorgärten. Auf der Höhe eines Friedhofs erreichte er eine Ausfallstraße. Sie musste an einem Zebrastreifen überquert werden, der von eiligen Pendlern gern übersehen wurde. Es wurden aber nur selten Kinder an- und nur einmal eines totgefahren. Auf der anderen Straßenseite ging es weiter über eine Brücke und um ein Hauseck herum zu der vor einem Friseursalon gelegenen Haltestelle.

Der Obermenzinger Weg war der verbotene. Den nahm ich nur, wenn ich sicher sein konnte, dass meine Eltern mich nicht sahen. Verboten war er wegen des Maschendrahtzauns mit seinen spitzen Enden, die Einbrecher abhalten sollten. An ihnen zerriss man sich leicht die Hose. Das war so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren konnte. Ich besaß nur zwei lange Hosen, die gute Hose und die für jeden Tag. Mit der für jeden Tag ging ich normalerweise in die Schule, mit der guten in die Kirche. Wenn die Hose für jeden Tag mal wieder ein Loch hatte – meistens am Knie –, musste ich, bis Hertha sie geflickt hatte, die gute Hose tragen. Der verbotene Weg war nicht verboten, wenn ich in meiner kurzen Leder- oder der schwarzen Turnhose zum Bolzplatz ging.

Als ich an diesem Tag in der guten Hose über den Zaun stieg, weil der Reißverschluss der anderen geklemmt hatte, überlegte ich kurz, ob ich sie absichtlich zerreißen sollte. Vielleicht würde mein Vater mich dann in Unterhosen in die Schule schicken. Das wäre auch eine Methode gewesen, um Aufsehen zu erregen, aber mein Plan war besser. Alles ging gut. Auch der Bolzplatz war kein Problem, es gab keine Pfützen und keine Schafsscheiße, meine Sandalen und die weißen Frotteesocken blieben sauber. Gefährlich wurde es wieder im Wäldchen. Hier musste ich über Eisenschrott, Bauschutt, rostige Mopeds und Tierkadaver steigen. Alle im Viertel wussten, dass das Wäldchen bald für den Bau mehrerer Doppelhäuser abgeholzt werden würde, deswegen wurde es als Müllplatz verwendet.

Ein Bub aus Heidelberg war in den Winterferien in unser Viertel gekommen und hatte sich im Wäldchen beide Beine gebrochen. Wahrscheinlich hatte er sich geärgert, weil wir ihn immer als Preußen beschimpften, und nicht aufgepasst. Er war in eine Fallgrube gestürzt, die ein größerer Junge namens Andi gebaut hatte. Angeblich hatte er geplant, für sein Opfer Lösegeld zu erpressen. Als er seine gebrochenen Beine sah, hatte er doch lieber den Krankenwagen gerufen.

Ich machte einen Bogen um die Fallgrube und eine Ölpfütze und kam rechtzeitig an der Haltestelle an. Mein Klassenkamerad Hans-Jürgen, der schon auf mich wartete, sagte: »Servus, Gillitzer«, ich brachte nur ein Krächzen zustande. Obwohl ich das, was ich im Schulbus vorhatte, stundenlang im Kellerflur geübt hatte, war mir vor Lampenfieber schlecht. Als der Bus am Ende der Straße auftauchte, wäre ich am liebsten weggerannt wie einmal vor einer Lateinschulaufgabe, für die ich nicht gelernt hatte. Damals hatte ich mir auf dem Heimweg den Finger in den Rachen gesteckt und auf meine Sandalen gekotzt. Sie hatten so gestunken, dass meine Eltern keinen Augenblick daran zweifelten, dass ich mir den Magen verdorben hatte. Meine Mutter hatte mir Kamillentee gemacht, mein Vater mir den Ratschlag gegeben, beim Händewaschen auch auf die Fingerspitzen zu achten, die oft vergessen würden. Nach dem Kamillentee bekam ich eine Haferschleimsuppe, die so schleimig war, dass ich noch mal kotzte – diesmal ohne den Finger in den Rachen gesteckt zu haben.

Der Bus kam unaufhaltsam näher. Ich lasse den lieben Gott entscheiden, dachte ich, oder die Muttergottes oder Franz Josef Strauß, und steige nur ein, wenn er so hält, dass die Tür sich exakt vor mir öffnet. Das war noch nie passiert, ich musste mich in der Schülerhorde immer mit aller Kraft von der einen oder anderen Seite zur Tür drängen, um noch mitgenommen zu werden. Diesmal wurde ich zum ersten Mal auf geradem Weg in den Bus geschoben und hatte keine Chance zur Flucht in letzter Sekunde. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich musste es tun.

Ich hatte mich zuletzt trotz meiner Abneigung gegen das nördliche Nachbarviertel mit zwei Allachern angefreundet, die auf eine Realschule gingen, die vom Schulbus ebenfalls angefahren wurde. Obwohl, Freundschaft ist ein zu großes Wort, wir waren eher eine Zweckgemeinschaft. Die beiden besetzten für mich und Hans-Jürgen, der eine Schlüsselfigur in meinem Plan war, zuverlässig einen Platz in der hintersten Reihe. Dafür mussten wir mit ihnen Karten spielen. Während der Junge, den alle Hitler nannten, weil er mit Nachnamen Adolph hieß, mischte und gab und sein Freund Rudi einen unauffälligen Blick in mein Blatt warf, hielt ich Ausschau nach ihr.

Sie stand wie immer vorne beim Fahrer und unterhielt sich mit ihm, obwohl ein Schild das ausdrücklich verbot. Sie trug einen Jeansrock, der so kurz war, dass man beinahe ihre Unterhose sah, und rote Lackstiefel mit Plateausohlen. Ihr ärmelloses Oberteil war aus schwarzem Samt, aber für meine Zwecke war nur wichtig, was sich darunter abzeichnete. Sie hatte schon Busen. Ich verwendete das Wort im Plural. Es waren schließlich zwei. Ihre Busen waren kleiner als die meiner Mutter, aber groß genug, dass das Mädchen der Star im Schulbus war.

Es war mir egal, dass ich schon wieder beim Watten verlor – ein paar Wochen später sollte ich entdecken, dass Hitler und Rudi ihre Karten gezinkt hatten. Jetzt ging es nur darum, dass ich den richtigen Augenblick erwischte. Mindestens einer auf unserer Bank, am besten Hans-Jürgen, musste gerade zu mir schauen. Das war leicht, beim Kartenspielen sah man sich ja ständig an. Dann musste ich sie unmittelbar vor dem Moment erwischen, in dem sie sich wie üblich umdrehte, um mit überlegenem Lächeln zu kontrollieren, ob auch alle im Bus sahen, dass sie verbotenerweise mit dem Fahrer redete. Ich durfte keine Zehntelsekunde zu spät dran sein, sonst würde sie sehen, was ich tat, und mich möglicherweise beim Aussteigen zur Rede stellen. Wahrscheinlich würde sie mich als Pimpf beschimpfen, bei einem 1.45 Meter großen Sechstklässler konnte sie gar nicht anders.

Meine Absicht war es, bei Hans-Jürgen und vielleicht auch den beiden Allachern den Eindruck zu erwecken, dass sie und ich einen verschwörerischen Blick gewechselt hatten, bevor sie sich wieder wegdrehte.

Meine Hand mit den Karten zitterte, mein Mund wurde trocken, trotzdem reagierte ich blitzschnell, als ich bei ihr das erste Anzeichen einer Bewegung wahrnahm. Ich zwinkerte ihr zu und hob verstohlen die Hand zum Gruß. Hans-Jürgen sah es und blickte erstaunt zu ihr. Als ihr Kontrollblick die letzte Bank erreichte, war ich schon wieder in meine Karten vertieft.

»Sag mal, kennst du die?«, fragte Hans-Jürgen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich hab doch gesehen, wie du ihr zugezwinkert hast. Und sie hat gelächelt.«

Es hatte geklappt! Ich wurde für meinen schlauen Plan und die präzise Vorbereitung belohnt. Danke, lieber Gott, danke, heilige Maria Muttergottes, danke Strauß.

»Wer hat wem zugezwinkert?«, fragte Hitler.

Ich zuckte unschuldig die Achseln.

»Der Gillitzer dem heißen Feger da vorne.«

»Hat er was mit der?«

»Frag ihn doch selber.«

Ich ließ Hitler warten. Inzwischen hatten sich die Schüler in den Reihen vor uns umgedreht.

Hitler riss mir die Karten aus der Hand.

»He, red!«

Ich seufzte.

»Es darf doch niemand wissen.«

»Was?«

»Ja, dass sie und ich …«

»Du … du gehst mit ihr?«, stotterte Hans-Jürgen.

»Bitte, schwört, dass ihr es keinem sagt!«

Ich wusste, dass es nichts Besseres als einen Schwur gab, wenn man sicher sein wollte, dass sich ein Gerücht schnell verbreitete.

»Wieso … nicht?«, sagte Hans-Jürgen.

»Sie will es nicht.«

»Aber«, sagte Hitler, »die könnte doch glatt den Busfahrer haben.«

»Ja, eben«, sagte ich.

»Wieso geht sie dann ausgerechnet mit dir?«

Hans-Jürgen hatte vor Aufregung einen roten Kopf bekommen.

»Entweder sie ist pervers oder der Gillitzer kann ein Kunststück«, sagte Rudi.

Ich wusste zwar nicht, was er damit meinte, lachte zur Sicherheit aber genauso dreckig wie er. Als sie am Mädchengymnasium ausstieg und ihren Blick zum Abschied noch einmal schweifen ließ, hatte ich wieder Glück und erwischte den richtigen Zeitpunkt. Ich winkte einen winzigen Moment, bevor sie es hätte bemerken können. Bei meinen Freunden verflogen die letzten Zweifel.

»Und wie heißt sie?«, erkundigte Rudi sich.

Ich weiß nicht, wieso mir Uschi Obermaier einfiel, über die mein Vater mal gesagt hatte: »So hübsch wie versaut. Aber was muss eine aus Sendling auch nach Berlin gehen?« Jedenfalls taufte ich sie Uschi.

Nun war ich also mit Uschi zusammen. Dank Hans-Jürgen verbreitete sich die Neuigkeit an der Schule wie ein Lauffeuer. Im Pausenhof standen überall tuschelnde Grüppchen. Ich hörte »Uschi«, »Uschi«, immer wieder »Uschi«. Zum ersten Mal seit einem Weitsprung in der Fünften, bei dem mich eine wundersame Kraft – damals hatte ich meinen Schutzengel in Verdacht – ein einziges Mal weiter als alle Konkurrenten getragen hatte, erlebte ich wieder eine allgemeine Bewunderung. Ich genoss die verstohlenen, anerkennenden und neidischen Blicke. Nur Hetti schaute so finster, als wäre ich an diesem Tag endgültig der Unzucht überführt worden (von der ich immer noch nicht genau wusste, worum es sich handelte).

Es gab natürlich auch Zweifler, die mir nicht zutrauten, dass ausgerechnet ich jetzt auch mit einer ging, noch dazu mit so einer. Zwei wollten mit eigenen Augen sehen, was an der Geschichte dran war, und fuhren mittags in meinem Schulbus mit, obwohl sie ganz woanders wohnten. Ihre kontrollierenden Blicke setzten mich unter Druck, und prompt versagte ich. Uschi drehte sich zwar wie immer in meine Richtung, aber ich war mit dem Zwinkern zu spät dran. Das heißt, ich wäre zu spät dran gewesen und zwinkerte zur Sicherheit lieber nicht. Da es nicht das geringste Anzeichen einer Verbindung zwischen Uschi und mir gab, begannen meine Kontrolleure bald hämisch zu grinsen. War es das schon wieder mit meinem Ruhm? Würde die kurze Zeit der Bewunderung erbarmungslosem Spott weichen? Sollte ich wieder der werden, der nur dann interessant war, wenn er den ekligen Abfalleimer säuberte oder sich beim Kartenspiel abziehen ließ?

Ich musste dringend etwas tun. Aber was? Nach vorne rennen und nach ihrer Hand greifen? Sie hätte sicher geschrien, und der Busfahrer mich wahrscheinlich rausgeworfen. Sollte ich laut »Uschi« rufen und ihr winken? Sie hieß ziemlich sicher nicht so, würde nicht reagieren, und alle würden mich für verrückt halten.

»Wir müssen raus«, sagte Hans-Jürgen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Doch.«

Ich weiß nicht, wer aus mir sprach. Es war meine Stimme, aber nicht meine Idee.

»Ich gehe noch mit zu Uschi. Aber, bitte, verratet mich nicht.«

Das sagte ich so laut, dass es auch meine Kontrolleure hörten. Ich blieb sitzen, als Hans-Jürgen ausstieg, und genoss das ungläubige Staunen um mich herum. Als Uschi sich drei Haltestellen weiter vom Fahrer verabschiedete, stand ich in aller Ruhe auf. Sie verließ den Bus durch die vordere, ich durch die hintere Tür. Ich folgte ihr in drei Metern Abstand. Ich hatte den Allachern, sodass es alle hören konnten, noch erklärt, dass Uschi mich sofort verlassen würde, wenn jemand sah, dass wir miteinander gingen – deswegen der Abstand. Im Bus war es die Sensation schlechthin, dass einer in meinem Alter von einem Mädchen mit nach Hause genommen wurde. Normalerweise musste man dafür mindestens achtzehn sein, wenn nicht einundzwanzig. Als der Bus an Uschi und mir vorbeifuhr, schauten alle Köpfe in unsere Richtung. Vor allem meine Kontrolleure bekamen die Münder vor Staunen nicht zu.

Wir befanden uns in einem Teil von Untermenzing, wo es noch einen Bauernhof gab, aus dem einige Jahre später der Einrichtungsladen Würmwohnen werden sollte, benannt nach dem Flüsschen, das den Münchner Westen durchteilte. Uschi bog in einen Fußweg ein. Weil der Bus noch in Sichtweite war, ging ich schneller, als wollte ich zu ihr aufschließen. Sobald uns niemand mehr sah, machte ich auf dem Absatz kehrt. Ich hatte einen Fußmarsch von einer knappen Stunde vor mir, aber mein Glücksgefühl ließ mich nach Hause schweben.

Wie ich den Sex erfand

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