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Meine Oma mütterlicherseits, die wir Gymnastik-Oma nannten, hatte, schon als ich sieben oder acht war, angefangen, mir regelmäßig aus dem Neuen Universum vorzulesen. Weil die Bände eigentlich für die reifere Jugend gedacht waren, hatte ich vieles nicht verstanden, aber dass im Leben berühmter Erfinder die Eltern eine wichtige Rolle spielten, war klar. Sie können sehr arm sein, Hirten zum Beispiel, dann erfinden die Erfinder meistens etwas, was sie reich macht. Oder etwas, was Reichtum überflüssig macht. Erfindereltern können auch früh sterben, dann erfinden ihre Kinder eine Medizin gegen Pocken oder Pest. Oder die Eltern trennen sich und fügen ihrem Kind Leid zu, dann erfindet es vielleicht ein nicht nachweisbares Gift für den Elternmord.

Die Eltern des Erfinders, der den Sex erfinden sollte – also meine –, waren, wie schon erwähnt, Ärzte. Beide. Er Augenarzt, sie praktische Ärztin. Er sah so gut aus, dass sie immer seufzte: »Wenn der Beppo bloß nicht so schön wär, dass ihn mir jede Frau am liebsten wegschnappen würde!« Seine Freunde nannten ihn Italiano. Seine Haare waren sehr schwarz und seine Nase sehr prominent.

Sie besaß dafür ein Honiglächeln und Grübchen und Lachfältchen. Wer sie sah, wollte sie sofort in den Arm nehmen. Sie roch nach Babypuder, er immer ein bisschen modrig.

Mein Vater war stolz darauf, dass er seine Kindheit und Jugend ohne Badezimmer verbracht und sich wie seine Eltern und Schwestern nur einmal pro Woche in einem städtischen Brausen- und Wannenbad gereinigt hatte. Diese Gewohnheit habe er beibehalten, erklärte er, weil er, anders als die meisten Menschen, nicht schwitzte. Nur eben leicht moderte. Aber das traute sich ihm keiner zu sagen.

Vor allem beim Abendessen war mein Vater das unumstrittene Familienoberhaupt. Dann sagte er uns, wie viele Millimeter Corned Beef wir abschneiden durften und welcher seiner drei Söhne neben ihm sitzen sollte. Ich war der älteste und kam grundsätzlich nicht zum Zug. Weshalb, hat mein Vater mir nie erklärt. Vielleicht war er gekränkt, weil ich mir nicht von ihm den Nacken kraulen lassen wollte. Für uns Kinder, fand ich, müsste er sich schon andere Zärtlichkeiten ausdenken als für unsere Schäferhündin Britta. Nie neben dem Vater sitzen zu dürfen, machte mich traurig, obwohl es auch seine guten Seiten hatte. Vor seinem Teller lag nämlich ein Kochlöffel. Den benutzte er nicht zum Kochen und nicht zum Essen. Er schlug damit auch nicht zu, aber oft beinahe. Für meine Brüder war der Kochlöffel ein Drohlöffel. Ich war durch meinen Randplatz außerhalb seiner Reichweite.

Wenn wir Ausflüge machten – meistens zu einer weit entfernten Bauernwirtschaft, weil dort der Schweinebraten eine Mark billiger war –, fuhr er unseren blauen VW 411.

Sie war nur an den Tagen das Familienoberhaupt, an denen sie ihre Migräne hatte. Dann mussten wir im Auto ganz still sein und steuerten eine bessere Wirtschaft an, wo es Wild gab. Meine Mutter bekam zwar feuchte Augen, wenn sie beim Rehgulasch Essen an Bambi denken musste, bestellte es sich aber trotzdem immer wieder. War die Migräne nach dem Genuss einer Wildspezialität nicht verschwunden, besichtigten wir noch eine Kirche und lobten die schönen Fresken und Skulpturen – vor allem die der Muttergottes, wenn es eine gab.

Auf der Rückfahrt redete er gern über die Unfehlbarkeit von unserem Papst, und ich stellte mir vor, wie Paul VI. in der vatikanischen Mannschaft einen Elfer nach dem anderen im gegnerischen Tor versenkte. Mein Vater fand es auch gut, dass der Stellvertreter Christi die Empfängnisverhütung verbot. Er wurde wütend, wenn ich aus Langeweile meinen zweijährigen Bruder Sigi zwickte oder mit meinem Bruder Berti schwätzte, weil wir keine Ahnung hatten, was eine Empfängnis war oder eine Verhütung. Noch wütender wurde er, als ich einmal fragte, ob es auch eine unbefleckte Empfängnisverhütung gab.

Sie sagte, dass man auch moderne Bilder schön finden dürfe, wenn sie nicht unanständig seien, er sagte: »Geh, Traudi, das ist doch wirklich wissenschaftlich erwiesen, dass alle modernen Künstler verrückt sind.«

Wenn bei unserer verfressenen Britta mal wieder ein Knochen quer im Hals steckte und sie sich vor Schmerzen in einen brüllenden Wolf verwandelte, hielt er todesmutig mit einer Hand ihren Unterkiefer fest und griff mit der anderen beherzt in ihren Rachen. Nach solchen Heldentaten nahm er gern unseren Applaus entgegen. Auch Britta bellte jedes Mal dankbar mit. Vom Krieg erzählte mein Vater höchstens in Andeutungen, die unserer Fantasie viel Raum ließen. Berti, der erst zehn war, aber schon ziemlich schlau, und ich waren uneins, ob unser Papa im Krieg genauso heldenhaft gewesen war wie bei unserem Hund. Mein Bruder fand, bei Britta könne er leicht tapfer sein, da er wisse, dass sie in Wirklichkeit lammfromm sei. Bei einem Russen hätte unser Vater es sich sicher zweimal überlegt, ob er ihm ins Maul griff.

Mein Held war er auf jeden Fall – bis ich mich nach meiner missglückten Marienerscheinung allmählich für etwas interessierte, das es bei uns zu Hause nicht gab.

»Wir haben drei Mal zum lieben Gott gebetet, dass er uns Kinder schenkt«, sagte meine Mutter oft, »und drei Mal hat er unser Gebet erhört.« Sie sagte nie: »Dein Papa und ich, wir haben halt so Sachen gemacht, und irgendwann bin ich dick geworden.«

Das Wort Sex kam im Wortschatz unserer Familie gar nicht vor. Einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen meinem Vater und meiner Mutter, die sich nach drei Buben dringend noch eine Tochter wünschte. Da sagte mein Vater nicht: »Wir müssen ein viertes Mal beten«, sondern: »Am zu seltenen Beischlaf kann’s ja wohl nicht liegen, Traudi«. Ich versuchte mir vorzustellen, dass Kinder wuchsen, wenn eine Frau sich im Schlaf ganz fest an ihren Mann kuschelte. Ich schaffte es nicht. Aber als Wort gefiel Beischlaf mir gut. Deswegen schrieb ich es in das Heft, in dem ich seit einigen Wochen alle geheimnisvollen Wörter sammelte: unbefleckt und Hingabe, Empfängnis und feien, Unfehlbarkeit und so weiter.

Ich war mir nicht sicher, ob einer sich Erfinder nennen darf, der etwas erfindet, was es außerhalb der ihm bekannten Welt möglicherweise schon gibt.

Dann fragte unser Religionslehrer, Herr Habermann, uns, ob einer, zum Beispiel ein Südseeinsulaner, der noch nie von der Bibel und Jesus gehört hat, ein guter Christ sein könne.

Wie immer in diesem Fach meldete ich mich als Erster.

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Auch nicht, wenn er trotzdem so lebt, wie Jesus es von uns verlangt hat?«

»Warum sollte er das tun?«

»Weil seine innere Stimme ihm sagt, was gut und was böse ist.«

Herr Habermann erklärte uns, dass man so einen Menschen einen »anonymen Christen« nennen dürfe. Da begriff ich, dass ich ein anonymer Erfinder war. Ich wusste nicht, ob es noch irgendwo anders auf der Welt Menschen gab, die vor Marienerscheinungen Angst hatten und auch sonst so dachten und fühlten wie ich und ähnliche Pläne hatten. Ich machte einfach das, was meine innere Stimme mir sagte. Und erfand den Sex, von dem ich im November 1970 noch nicht einmal das Wort kannte. Sonst hätte es ja in meinem Heft der geheimnisvollen Wörter gestanden.

Wie ich den Sex erfand

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