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Dann passierte das mit Lothar.

Ich hatte, bis Uschi in meinem Leben auftauchte, ja sehr unter meiner Unauffälligkeit gelitten, aber im Vergleich zu mir war er quasi nicht vorhanden. Es hatte wochenlang gedauert, bis jemand merkte, dass wir in der 6A seit dem Beginn des zweiten Halbjahres einen neuen Mitschüler hatten. Den Lehrern war es ähnlich ergangen, sie hatten beim Elternsprechtag feststellen müssen, dass es in ihren Büchern keinerlei Aufzeichnungen zu Lothars Mitarbeit gab. Danach wurde er ab und zu aufgerufen, seine Beiträge waren nie besonders schlau, aber auch nicht richtig blöd. Bei Schulaufgaben schrieb Lothar eine Drei, er war nie besser oder schlechter. Wohlmeinende Klassenkameraden wie Meinhard, der mal Priester werden wollte, hatten nicht glauben können, dass es einen Menschen gab, der in jedem Bereich durchschnittlich war. Sie hatten Schach mit ihm gespielt und sich mit ihm über Musik und Politik, seine Familie oder die Ferien unterhalten, aber nichts gefunden, worin Lothar in irgendeiner Weise bemerkenswert war. Danach hatten sie ihn, wie alle anderen, wieder vergessen.

Als Lothar tot war, fragte ich mich, ob er wohl sehr gelitten hatte, nicht beim Sterben, das war sehr schnell gegangen, sondern davor, unter seinem Dasein als Schüler, den alle übersahen. Hatte einer, der nicht richtig anwesend war, vielleicht auch keine so starken Gefühle? Hätte er, wenn Trauer und Glück ein Schulfach gewesen wären, auch da nur eine Drei bekommen? Nein, das war Blödsinn. Ich wusste doch, wie weh es tat, beinahe unsichtbar zu sein.

Bei Lothars Begräbnis hielt der Pfarrer eine so langweilige Rede, dass mir nur ein einziger Satz in Erinnerung geblieben ist.

»Er wurde jäh aus seinem jungen Leben gerissen.«

Das war wahrscheinlich bildhaft gemeint, konnte aber auch wörtlich verstanden werden. Lothar war Fahrschüler gewesen und hatte damit an unserer Schule zur kleinen Gruppe der Provinzler gehört. Die große Mehrheit der Schüler kam aus den Stadtteilen des Münchner Westens, die Provinzler aus Orten wie Puchheim, Olching oder Gröbenzell. Lothar stammte aus Dachau. Wenn mein Vater den Ortsnamen aussprach, schaute er immer sehr ernst. Da ich noch nichts von Konzentrationslagern wusste, dachte ich, seine Miene hätte etwas mit der traurigen Existenz von Lothar zu tun.

Jedenfalls war Lothar wie jeden Morgen mit dem Zug nach Pasing gefahren. Mitten auf der Strecke war es passiert. Hinterher gab es Spekulationen, ein Fahrgast könnte die Tür nicht richtig geschlossen und der Schaffner es nicht bemerkt haben. Ich vermutete eher, dass Lothar auf die rote Fläche direkt davor gestiegen war. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass er mit aller Kraft auf das Verbotszeichen mit den zwei durchgestrichenen schwarzen Sohlen vor der Tür gesprungen war – als würde er damit endlich sichtbar werden.

Das war ihm auch gelungen, obwohl sein Sarg jetzt schon fast mit Erde bedeckt war. Ich stand in meiner guten Hose und mit gefalteten Händen in der Schlange, die sich langsam auf das Grab zubewegte. Vor mir ging ein Junge aus der Fünften in langen Lederhosen, hinter mir Hetti in einem schönen schwarzen Kleid, wie ich es bis dahin nur bei Opernsängerinnen im Fernsehen gesehen hatte, bei Anneliese Rothenberger oder Erika Köth.

Hetti weinte still vor sich hin. Mir fiel ein, dass ich sie zwei, drei Mal im Gespräch mit Lothar gesehen hatte. Wie ich sie kannte, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihn aus seiner Isolation zu befreien.

Als ich mein Schäufelchen Erde auf den Sarg warf, überlegte ich mir, was wohl der letzte Eindruck Lothars vom Leben gewesen war? Der, dass unter ihm der Boden nachgab und er auf das vorbeirasende Schotterbett blickte, oder der, dass er wie von einem riesigen Staubsauger aus dem Zug gerissen wurde? Vielleicht war seine Seele da auch schon auf dem Weg in den Himmel, wohin einer wie er bestimmt kam. Ich schniefte und reichte Hetti das Schäufelchen. Sie stach mit ihm in die Kiste mit der Erde, erstarrte aber in der Bewegung.

»Habt ihr das gehört?«

Die Trauergemeinde schaute irritiert zu ihr.

»Das war seine Stimme! Lothar, er hat um Hilfe gerufen!«

Hetti geriet völlig außer sich und verlangte, dass man Lothar wieder ausgrub.

»Er erstickt doch da unten! Wir müssen ihm helfen!«

Sie machte Anstalten, ins Grab zu steigen, um den Sarg eigenhändig zu öffnen, da legte Lothars Vater den Arm um sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Hetti schaute ihn entsetzt an und zog sich beschämt zurück. Auf dem Weg zum Bus, der uns zur Schule zurückbringen sollte, fragte ich Hetti, was Lothars Vater ihr gesagt hatte. In ihrer Trauer vergaß sie, dass sie eigentlich nicht mehr mit mir redete.

»Im Sarg … Er … Sie haben nur noch Stücke von ihm gefunden.«

Sie bekam einen Weinkrampf, und ich sagte, weil mir nichts Besseres einfiel: »Herzliches Beileid.«

Während der nächsten Wochen redeten alle nur von Lothar. Einer wusste, dass er im Kinderheim aufgewachsen war, ein anderer, dass sein Vater nicht sein echter Vater war. Mal war Lothar ein Zirkuskind, mal der Sohn eines Polizisten, der ihm aus Angst vor einem Kindermörder wie Jürgen Bartsch beigebracht hatte, um keinen Preis aufzufallen. Viele behaupteten jetzt, sie hätten sich öfter mit Lothar unterhalten, und er sei schlau und witzig gewesen. Als ich fragte, wieso sie erst nach seinem Tod so viel über ihn redeten, sagten sie, ich sei bloß neidisch.

Das war nicht wahr, mir ging nur ihre Angeberei auf die Nerven, weil sie nichts, aber auch gar nichts mit Lothar zu tun hatte. Wäre er nicht aus dem Zug und dem Leben gerissen worden, wäre er wahrscheinlich für immer unbedeutend und einsam geblieben.

Für mich war Lothar wie ein verstorbener Bruder. Er hatte wie ich zur Familie der Menschen gehört, die von den anderen nicht oder nur am Rande bemerkt wurden. Es sei denn, sie strengten sich wahnsinnig an, erfanden haarsträubende Geschichten oder lagen zerfetzt auf den Gleisen. Ich spürte ja, dass das Interesse an mir schon wieder nachließ. Bald würde ich wieder fast so unsichtbar wie Lothar sein – wenn ich nichts dagegen unternahm. Aber was sollte ich noch tun? Der Tod war keine Lösung, da war ich mir sicher. Lothar hatte ja nichts mehr davon, dass er endlich die verdiente Aufmerksamkeit bekam.

Ich musste an die Kinder von Fátima denken, sie waren weltberühmt. Aber für eine Marienerscheinung kam ich schon länger nicht mehr infrage. Dazu hatte ich mir eindeutig zu viele Uschi-Geschichten ausgedacht. Die konnte man zwar als Notlügen werten, weil ein Mensch, der kaum oder gar nicht auffiel, sich ja irgendwie behaupten musste. Aber die Muttergottes machte keine Kompromisse und sah sich sicher längst nach einem Kind mit einer reineren Seele um. Ich war nicht traurig, sondern eher erleichtert, nicht mehr zu den Auserwählten zu gehören. Endlich konnte ich mir mehr von den Sünden leisten, die unser Pfarrer als »lässlich« bezeichnete. Sie hatten den Vorteil, dass man die Liebe Gottes nicht für immer verlor und schlimmstenfalls im Fegefeuer brutzelte. Unser Nachbar, der Professor mit den Schnecken, hatte sogar mal gesagt, das Fegefeuer sei möglicherweise nicht wörtlich zu nehmen und könne auch als Wartesaal vor dem Eingang zum ewigen Leben verstanden werden. Mein Vater hatte mich schnell vom Gartenzaun weggezogen. Wenn ich nicht mehr ans Fegefeuer oder die Hölle glaubte, wäre es für ihn deutlich schwieriger geworden, mich zu einem anständigen Menschen zu erziehen.

»Hör nicht auf den Deppen!«

»Er ist ein Professor.«

»Wer meint, dass er gescheiter ist als die Bibel, ist ein Depp.«

»Aber keiner weiß doch, wie es wirklich ist. Ist schließlich noch keiner aus dem Fegefeuer zurückgekommen.«

Mein Vater lächelte mitleidig.

»Meinst du, der liebe Gott hätte es Fegefeuer genannt, wenn da bloß eine Glühbirne brennen würde?«

Fegefeuer hin oder her hatte ich den Eindruck, dass ich mir nach dem weitgehenden Abschied der Muttergottes aus meinem Leben die eine oder andere Sünde mehr leisten sollte. Ich schadete ja keinem, wenn ich Uschi-Geschichten erzählte. Das Problem war der schreckliche Tod von Lothar. So grausam es klingt, jetzt brauchte ich eine echte Sensation, wenn ich mein Publikum zurückgewinnen wollte.

Wie ich den Sex erfand

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