Читать книгу Wie ich den Sex erfand - Peter Probst - Страница 8
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ОглавлениеAn meiner Schule, einem altsprachlichen Gymnasium, besuchte ich die Klasse 6 A, die letzte mit ausschließlich katholischen Knaben. Die beiden Parallelklassen und der Jahrgang unter uns waren bereits gemischt. Einige ältere Lehrer, vor allem der Biologielehrer mit Schmiss und der einarmige Geschichtslehrer, rieten, uns als Elite zu fühlen, der Rest der Schule bedauerte uns.
Am ersten Tag nach den Herbstferien starteten die Mädchen der unteren Klassen, angeregt durch die Lektüre der in meinem Elternhaus streng verbotenen und deswegen von mir brav ignorierten Zeitschrift Bravo, eine Abstimmung.
Mit welchem Jungen würdest du am liebsten gehen?
Gleich mehrere meiner Klassenkameraden rechneten sich gute Chancen auf den ersten Platz aus. Die geheime Wahl mit Namenslisten zum Ankreuzen zog sich über drei Tage hin, sodass ich genug Zeit hatte, meine Attraktivität im von mir noch kaum benutzten Spiegel zu überprüfen. Meine Nase war zu groß, der Mund leicht schief, die Haare waren seit meiner Trennung von der Muttergottes gewachsen, aber zu ordentlich von rechts nach links gescheitelt, die Segelohren durch jahrelanges, nächtliches Ankleben mit Heftpflaster im Normbereich, die Schultern im Vergleich zum übrigen Körper zu ausgeprägt, der gelbe Rollkragenpulli sah genauso peinlich aus wie die Jeans – ich gehörte zu den wenigen in meiner Klasse, die ausschließlich bei C & A eingekleidet wurden. Ganz nett waren nur meine Augen, fand ich.
Ich verstand zwar nicht, wieso ein normaler Bub drauf scharf sein sollte, mit einem Mädchen zu gehen – ich stellte mir einsame Spaziergänge vor, bei denen ich langweiligen Geschichten zuhören musste. Aber verlieren wollte ich bei der Wahl auch nicht. Meine geheime Hoffnung war ein unauffälliger Platz im Mittelfeld.
Noch bevor das Ergebnis der Abstimmung verkündet wurde, suchte ich Kontakt zu Sanne, der Wahlleiterin.
»Und?«
»Was, und?«
»Vielleicht …«
»Was?«
»Vielleicht magst du es mir ja schon verraten …«
»Was denn, Peter?«
»Auf welchem Platz ich bin, halt.«
Sanne starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen.
»Ach, Mist«, sagte sie, »du warst überhaupt nicht auf unserer Vorschlagsliste.«
Sie hatten mich vergessen. Glatt vergessen. Und es war keinem einzigen Mädchen in allen fünften und sechsten Klassen aufgefallen. Nicht mal den hässlichsten.
Als Sanne im Pausenhof die Namen der Buben vom letzten bis zum ersten Platz feierlich vorlas, hörten alle, dass ich nicht dabei war.
Da ging es los.
»Auf welchem Platz bist du denn, Gillitzer? – Auf gar keinem? Heißt das, die Weiber denken, du bist ein Mädchen? Wieso hast du dann nicht mit abstimmen dürfen? Hättest du mit mir gehen wollen, Gillitzer?«
Ich stand reglos da und ließ den Spott über mich ergehen. Mir fiel kein lässiger Spruch ein, und eine Prügelei hätte ich mit Sicherheit verloren. Die meisten meiner Mitschüler waren in den letzten Monaten ein ganzes Stück gewachsen, nur ich nicht. Als Thomas aus der letzten Bank mich »Petra« nannte und mich unter dem Gejohle der anderen zu küssen versuchte, traf ich einen Entschluss: ab sofort wollte ich auffällig werden – auch außerhalb des Religionsunterrichts.
Im Haus meiner Eltern gab es einen Kellerraum, den wir Arzneimittelkeller nannten. Alle Zimmer hatten bei uns Namen, was sie fast zu Lebewesen werden ließ. Es gab freundliche, abweisende, einladende und verbotene Zimmer. Dazu gehörte der zwischen Vorrats- und Hobbykeller gelegene Arzneimittelkeller. Eigentlich sollte er immer abgeschlossen sein, aber meine Mutter vergaß das regelmäßig, weil sie gestresst war. In den drei Wände bedeckenden Regalen verstauten meine Eltern die Wein-, Sekt- und Schnapsflaschen, die Patienten in die Praxis brachten, weil sie hofften, dann weniger lang warten zu müssen. Dazwischen lagerten, nach Krankheiten sortiert, die sogenannten Ärztemuster, die uns der Postbote täglich brachte. Gleich neben der Abteilung Erkältungen/Grippe gab es ein staubiges Eck mit Medikamenten für Psychische Erkrankungen. Sie hießen zum Beispiel Tavor oder Haldol. Ich wusste, dass es auf der Welt viele Irre gab, einigermaßen harmlose wie den alten Schäfer und teuflisch gefährliche wie Hitler, bei dem ich immer Angst hatte, er könnte doch noch leben. Ich wusste nicht, wer besser welche Arznei bekommen hätte. Deswegen ließ ich eine größere Auswahl an Tablettenröllchen, Fläschchen und Packungen in meinem Schulranzen verschwinden. Trotz eingehender Gewissenserforschung fühlte ich mich nicht als Sünder. Erstens war es unwahrscheinlich, dass ausgerechnet jetzt ein Mitglied unserer Familie psychisch krank wurde und behandelt werden musste. Zweitens lieh ich die Medikamente ja nur aus.
Der Flur zwischen Heizungs- und Vorratskeller war mein Probenraum. Ich übte mit geschultertem Schulranzen das natürliche Stolpern. Ich ging ein paar Schritte, blieb an einer imaginären Wurzel hängen, verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, zog mit einem Ruck meine breiten Schultern hoch und schleuderte den Inhalt meines offenen Schulranzens über den Kopf. Ich trainierte stundenlang, bis mir der perfekte Wurf gelang, mit Pervitin und Ritalin auf dem Lateinbuch.
Henriette Kurz, die alle Hetti nannten, war in der 6 B. Mein und ihr Vater waren Todfeinde, trotzdem hatte ich sie ausgesucht. Sie war nämlich ebenfalls ein Arztkind, und damit bestand eine gute Chance, dass sie wenigstens eine der Arzneien und ihre Bestimmung kannte. Ich wusste, aus welchem Schulbus Hetti stieg – fast immer als Letzte – und dass sie grundsätzlich links an der alten Kastanie vor dem Schulhaus vorbeiging.
Hetti blickte sich zweimal verunsichert um, als sie merkte, dass ich ihr folgte. Beim dritten Mal lächelte sie einladend, was mir beinahe so rätselhaft vorkam wie das Wort Empfängnisverhütung. Ich ging aber erst schneller, als sie hinter dem dicken Stamm der Kastanie verschwand.
Mein Stolpern war perfekt. Der Schleuderwurf über den Kopf ebenfalls. Allerdings hatte es nachts geregnet und meine Schulbücher landeten in einer Pfütze. Aber das war egal. Wichtig war, dass Hetti die Aufschrift auf dem braunen Fläschchen erkannte, das zwischen Tablettenschachteln und Büchern schwamm.
»Cannabis?«, sagte sie.
»Cannabis indica, um genau zu sein.«
Sie starrte mich entsetzt an.
»Heißt das, du bist ein Hascher?«
Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte mich für verrückt und gefährlich gehalten, aber ein zweiter Wurf wäre unglaubwürdig gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Ich setzte das Gesicht auf, das ich lange geübt hatte. Mein Vorbild war ein Bild mit dem Titel »Der arme Sünder schaut das Fegefeuer«, das bei meiner Gymnastik-Oma hing. Nachdem ich im Rahmen meiner Vorbereitung auch dem Sanostol abgeschworen hatte, waren meine Augenringe zurückgekehrt und verstärkten den Eindruck.
Hetti schrie: »Mein Gott, Peter« und riss mich in ihre Arme. Sie atmete sehr schnell und laut und flüsterte: »Oh, wie schlimm. Ich verrat’ keinem was. Ich schwör’s!«
Weil mein Ohr von ihrer nassen Aussprache feucht wurde, schob ich sie von mir weg.
»Du kannst mich gern verraten.«
»Nein, auf keinen Fall.«
»Doch, mach ruhig!«
Mein Plan war es ja, dass Hetti meine Botschafterin wurde und allen erzählte, in welcher Gefahr ich schwebte, damit ich die Zone der Unauffälligkeit für immer verlassen konnte. Und nie mehr bei der Wahl zum Buben, mit dem Mädchen gern gehen wollten, übersehen wurde.
Dann tat Hetti etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Sie stopfte eilig meine Medikamente in ihren Schulranzen und stürzte davon.
Am Schultor drehte sie sich noch mal um.
»Ich werde dich retten, Peter.«
»Bitte nicht«, murmelte ich und musste an die Muttergottes denken, die mir unbedingt hatte erscheinen wollen.
Leider war Hetti nicht nur verschwiegen, sondern auch sehr hartnäckig. Nach dem Vorfall an der Kastanie und der Beschlagnahmung meiner Medikamente steckte sie mir täglich kleine Zettel zu, die mich retten sollten. Auf ihnen stand zum Beispiel: Mens sana in corpore sano oder Frisch, fromm, fröhlich, frei oder Es ist so mit Tabak und Rum. Erst ist man froh, dann fällt man um.
Diese Sprüche hatte Hetti, wie ich später erfuhr, von ihrem Großvater, dem im Krieg wegen eines Granatenbeschusses beide Trommelfelle zerplatzt waren. Deswegen redete er immer zu laut, konnte aber immerhin perfekt Lippen lesen.
Wenn ich meiner selbst ernannten Retterin im Schulhaus über den Weg lief, tat ich so, als würde ich sie nicht kennen. Das stachelte Hetti erst richtig an. Plötzlich war sie nicht mehr die Letzte, die aus dem Schulbus stieg, sondern die Erste und stellte sich mir an der Kastanie in den Weg. Sie reichte mir mit ernster Miene Birnen oder Äpfel oder Nüsse und sagte: »Auch gut und kein Hasch.«
Obwohl sie das immer nur flüsterte, bekam ein Schüler aus der Fünften etwas mit und verbreitete das Gerücht, an der Kastanie würde mit Rauschgift gehandelt. Hetti wollte selbstverständlich keine Drogenhändlerin sein und änderte ihre Strategie. Sie schickte mir anonyme Briefe mit kleinen Zeichnungen. Sie zeigten immer dasselbe magere Männlein mit schnurgeradem Seitenscheitel und übertrieben breiten Schultern. Manchmal erbrach das Männlein sich, manchmal war es schon tot. Darunter stand zum Beispiel: Wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!
Meine Eltern hatten das Fehlen der Medikamente noch nicht bemerkt, und ich fing in meiner Not doch wieder zu beten an.
»Bitte, heilige Maria Muttergottes, mach, dass Mama und
Papa und Berti und Sigi nicht psychisch krank werden, und Hetti mich nicht mehr retten will!«
Dass sie mich nicht erhörte, begriff ich, als mein Vater mich beim Abendessen mit der Frage überraschte, was der Satz Die Drogen werden dich töten, Peter! zu bedeuten habe. Meine Mutter hatte aus Versehen einen von Hettis Briefen geöffnet.
»Was für Drogen denn?«, sagte Berti, und Sigi krähte wie meistens: »Ich auch!«
Während ich verzweifelt nach einer rettenden Erklärung suchte, begann mein Vater mit dem Kochlöffel auf den Tisch zu klopfen. Sehr langsam und sehr regelmäßig.
Ich hätte sagen können, dass ich viel zu jung für Rauschgift war, oder dass der anonyme Brief von einem fiesen Klassenkameraden stamme, der mir eins auswischen wolle. Aber es gab das 8. Gebot in der Kinderbibel, das Du sollst nicht lügen hieß. Obwohl die Muttergottes und ich uns getrennt hatten, war ich ja nach wie vor sehr fromm. Vielleicht nicht mehr ganz so fromm wie Bernadette, aber doch fast.
Deswegen sagte ich: »Die mir das geschrieben hat, meint, ich wär ein Hascher.«
»Den Merkur, Traudi!«, sagte mein Vater. »Die ganze letzte Woche.«
Während meine Mutter in den Keller eilte, wo wir die alten Zeitungen aufhoben, klopfte mein Vater weiter.
»Von wem kriegst du das Rauschgift? Wer ist der Dealer?«
Er sagte »De-aler«, weil er Englisch gern so aussprach, wie man es schrieb.
»Ich weiß nicht, was ein De-aler ist, Papa.«
»Du wirst auch noch frech!«
Er holte mit dem Kochlöffel aus, meine Brüder gingen in Deckung.
Da kehrte zum Glück meine Mutter mit einem Packen Zeitungen zurück.
Mein Vater war ein gewissenhafter Leser und fand sofort, was er suchte.
»Neunjährige stirbt an einer Überdosis Marihuana. Eine Neunjährige! In Böblingen!«
»Schrecklich. Allein, wenn ich an die Eltern denke«, sagte meine Mutter.
»Die Eltern«, raunzte mein Vater. »Sind doch keine Eltern, wenn sie so was nicht von Anfang an unterbinden.«
Er griff zur Wochenendausgabe seiner Hauszeitung.
»Hier, das habe ich gesucht: Haschisch, bald die beliebteste Droge unter deutschen Volksschülern?«
»Schrecklich«, sagte meine Mutter wieder, und mein Vater stand auf.
»Ich will jetzt sofort wissen, wer dich verführt hat, Peter?«
Ich weiß nicht, warum ich Hetti nannte. Ich wollte nicht lügen, aber angesichts des Kochlöffels hatte ich nicht den Mut, mich zur Lücke im Arzneimittelkeller zu bekennen.
Es rutschte mir einfach so raus.
»Hetti sagen sie zur Tochter vom Kurz«, warf meine Mutter ein.
»Vom roten Kurz?«, sagte mein Vater. Nein, er schrie es, und beim Namen Kurz machte seine Stimme einen gefährlichen Sprung nach oben.
Meine Mutter nickte so schuldbewusst, als wäre sie die Dealerin. Oder die eineiige Zwillingsschwester vom roten Kurz.
»Die Tochter von diesem Menschen treibt unseren Sohn in die Rauschgiftsucht?«
»Ich glaub nicht, dass ich schon süchtig bin, Papa.«
Aber das interessierte ihn nicht. Sein Kollege Kurz, ein Internist, war, bevor er ein Roter wurde, einer seiner besten Freunde gewesen. Dann hatten sie sich furchtbar wegen Willy Brandt gestritten, den mein Vater immer Herbert Frahm oder einfach den Deserteur nannte, und danach hatten sie nie mehr ein Wort miteinander geredet.
Meine Mutter schlug vor, dass er Hettis Vater anrief, um die Sache mit ihm zu besprechen. Aber mein Vater war nicht der Typ, der sich wegen einem rauschgiftsüchtigen Sohn versöhnte. Abgesehen davon telefonierte er nie. Er hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen unser schwarzes Bakelit-Telefon, war aber gleichzeitig magisch von ihm angezogen. Wenn es klingelte, rannte er in den Flur zum Apparat, blieb daneben stehen und rief: »Traudi, Telefon! Telefon! Jetzt beeil dich schon! Gertraud!«
Meine Mutter antwortete immer mit: »Dr. Gillitzer, grüß Gott.« Bevor sie fragen konnte, mit wem sie sprach, flüsterte er schon aufgeregt: »Wer? Wer ist dran?« Dann deckte sie die Sprechmuschel ab und sagte den Namen. Und er sagte, egal, wer es war: »Ich bin nicht da.«
Eigentlich hätte auch meine Mutter, die eine entspannte Beziehung zum Telefon pflegte, Dr. Kurz anrufen können, aber mein Vater traute ihr nicht zu, ein Problem mit einem Roten zu klären. Er hielt sie für politisch anfällig und bestellte deswegen immer Briefwahlunterlagen, um für sie abzustimmen. Sie protestierte zwar, das sei nicht demokratisch, aber er erklärte, an der Demokratie sei bekanntlich auch nicht alles perfekt. Er persönlich würde zum Beispiel halbe, Drittel- und Viertelstimmen für politisch weniger Informierte einführen.
»Aha, und wie viel Stimme würdest du mir zugestehen?«
Auf diese Frage bekam meine Mutter nie eine Antwort.
Dr. Kurz wurde also nicht angerufen, und mein Vater setzte sich wieder. Er legte den Kochlöffel vor seinen Teller und presste beim Nachdenken die Lippen so zusammen, dass sie blau wurden. Er konnte es auf keinen Fall zulassen, dass sein Sohn weiter vergiftet wurde, schon gar nicht vom politischen Gegner.
»Wir stecken ihn ins Internat.«
»Was? Er ist noch keine zwölf!«, rief meine Mutter.
»Wie sie mich in den Krieg geschickt haben, war ich auch erst neunzehn.«
Sie fand das keinen guten Vergleich. Ich sagte nichts, weil ich mir sicher war, dass er bluffte. Ich hatte gehört, dass Internate eine Menge kosteten. Ein Vater, der das Corned Beef so streng rationierte, würde sein Geld nie für die Kindererziehung verschwenden.