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Оглавление»Die Sozis werden von den Kommunisten aus der DDR finanziert, weil die Roten heimlich zusammenhalten, verstehst du? Ihr größter Feind sind wir, die Katholiken, weil wir nicht an einen Willy Brandt oder Herbert Wehner glauben, sondern allein an unseren Herrgott. Hast du das verstanden, Peter?«
»Hab ich.«
Er saß an meinem Bett und nickte zufrieden.
»Gute Nacht, Papa.«
»Halt, eines noch: Welche Partei kämpft für uns?«
»Die Schwarzen.«
»Die CSU. Bist ein gescheiter Bub«, sagte er und hätte mich aus Versehen beinahe gestreichelt, obwohl er eigentlich nur kraulte, was ich ja nicht mochte.
»Soll ich das Licht ausmachen?«
»Ja, bitte.«
Ich wohnte als Einziger im Erdgeschoss, warum, hatte mir nie jemand erklärt. Aber meine jüngeren Brüder durften ja auch am Tisch näher beim Vater sitzen. Da war es logisch, dass sie auch näher am Elternschlafzimmer im ersten Stock schliefen. Es gab Nächte, da hatte ich das Gefühl, dass ich in einem anderen Land lebte als der Rest der Familie, so groß war die Entfernung zwischen Berti, Sigi, meinen Eltern und mir. Dann drückte ich mich in meinem Bett ganz nah an die Wand. Trotzdem überfielen mich manchmal Gespenster oder ich hörte Einbrecher tuscheln und bekam so eine Panik, dass ich bis zum Morgengrauen wach lag.
Doch jetzt hatte der Wahlkampf um den Bayerischen Landtag begonnen, und ich musste unbedingt mutiger werden. Während meine Eltern im Wohnzimmer nebenan das ZDF-Magazin von Gerhard Löwenthal sahen, dachte ich an den jungen Märtyrer Tarzisius, den ich in einem Theaterstück für Ministranten gespielt hatte. Ihn hatten Heidenbuben erschlagen, weil er geweihte Hostien nicht rausrücken wollte. Sicher hatte er noch mehr Angst gehabt als ich in manchen Nächten, als ihm sein Pfarrer sagte: »Bring mal schnell die Hostien zu den Katakomben rüber.« Jetzt war er weltberühmt. Gut, das hatte vor allem damit zu tun, dass die Heidenbuben ihn totgeschlagen hatten. Ich wollte eigentlich gern noch ein paar Jahre leben. Aber Mission war Mission.
Ich wartete, bis meine Eltern endlich ins Bett gegangen waren, dann kletterte ich aus dem Fenster. Es war November geworden, die Nacht war bitterkalt.
Willi Lucke kannte ich aus der Sonntagsmesse. Er hatte wie mein Vater eine große Nase, aber nur am Hinterkopf Haare, ein eckiges Kinn und spitze Ohren. Er saß immer in der vordersten Kirchenbank, schließlich sollten die Leute ihn sehen, damit er wieder in den Landtag gewählt wurde. Das Plakat von Willi Lucke mit den Buchstaben CSU hing überall. Sogar in Allach. Aber da traute ich mich nachts nicht hin. Allach war ein Arbeiterviertel, und wenn ich der moderne Tarzisius war, waren die Arbeiterbuben womöglich die Heiden von heute.
Ich rannte am Bolzplatz vorbei über feuchte Wiesen, huschte über die nachts kaum befahrene Hauptstraße und erreichte eine große Plakatwand. Als ich mich keine zwei Minuten später wieder davonschlich, hatten unser Ministerpräsident Alfons Goppel und Willi Lucke die Wand für sich alleine. Ihre Konkurrenz lag im Gras. Die Plakate der Roten hatte ich zur Sicherheit zerfetzt.
Zurück im Bett, zitterte ich wie die Nadel unserer Singer-Nähmaschine, und mein Herz schlug so laut, dass ich befürchtete, meine Eltern im ersten Stock zu wecken. Trotzdem zog ich in der nächsten Nacht wieder los und in der übernächsten auch. Ich traute mich immer weiter von unserem Haus weg, einmal sogar bis nach Allach. Dort verfolgte mich ein Rottweiler – zum Glück ohne sonderlichen Ehrgeiz –, in Obermenzing sogar eine Funkstreife. Ich musste mich im Müll des Alten Wirts verstecken und roch, weil meine Mutter uns nur alle zwei Wochen die Haare wusch, noch tagelang nach verfaultem Gemüse und Blut.
Der Einzige, dem das auffiel, war Sigi, obwohl er in der Familie mit Abstand die kleinste Nase hatte. Er riefjedes Mal »bäh«, wenn ich ihm zu nahe kam. Das passierte nicht oft, denn ich interessierte mich nicht für seine Welt aus Bauklötzen und Matchbox-Autos, und er ging mir und Berti möglichst aus dem Weg. Wahrscheinlich hatten wir ihn zu lange als lebendes Spielzeug betrachtet und ihn durch unsere Experimente mit ihm verstört. Am spannendsten war die Zeit gewesen, als er laufen lernte. Wir freuten uns, wenn Hertha – unser Dienstmädchen, das wir neuerdings Hausangestellte nennen mussten – freihatte und wir ihn beaufsichtigen durften. Sigi war unheimlich stolz, als er endlich selbstständig stehen konnte. Er zog sich am Gitter des Laufstalls hoch und gluckste vor Vergnügen. Wir wurden Zeugen, wie er taumelnd seine ersten Schritte wagte. Er plumpste auf sein Windelpaket, zog sich wieder hoch und versuchte es erneut. Er war unermüdlich und schaffte es bald ohne Sturz von der einen auf die andere Seite des Laufstalls und wieder zurück. Wir lobten ihn und applaudierten, bis uns das Hin und Her langweilig wurde. Unsere Mutter hätte uns längst ablösen sollen, nur deswegen knoteten wir die Beine von Sigis Strumpfhose zusammen und stellten ihn wieder auf. Er lief los und fiel ungebremst aufs Gesicht. Er versuchte es sofort noch einmal – mit demselben Ergebnis. Aber Sigi war nicht der Typ, der schnell aufgab. Seine Stürze wurden immer übler, er heulte vor Verzweiflung und blutete aus der Nase. Da tat er uns leid, wir erlösten ihn und wischten ihm die Nase ab. Als unsere Mutter endlich nach Hause kam, entdeckte sie trotzdem, dass Sigi Nasenbluten gehabt hatte.
»Er weiß noch nicht, dass man nicht so tief bohren darf«, sagte ich, und Berti meinte: »Das musst du ihm beibringen, sonst verblutet er noch mal.«
Beim gemeinsamen Frühstück am Wochenende erschreckte unser Vater uns manchmal damit, dass er bei seiner Zeitungslektüre plötzlich eine Zeile laut las. Das passierte meistens, wenn er wütend wurde. Fast immer war Willy Brandt, also der Deserteur Herbert Frahm, der Anlass, weil er sich zum Beispiel mit dem stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden der DDR getroffen hatte oder zusammen mit seinem »nützlichen Idioten« Walter Scheel den Moskauer Vertrag unterschreiben wollte. Zu diesem Ritual gehörte, dass ich empört den Kopf schüttelte und »die verkaufen uns doch alle für dumm« sagte. Mein Vater freute sich, dass ich so ein gelehriger Schüler war, und vertiefte sich wieder in den Münchner Merkur.
Mein letzter nächtlicher Ausflug, der im Müll des Alten Wirts geendet hatte, lag fünf Tage zurück und ich stank kaum noch. Da las er eine Schlagzeile vor, die nichts mit Willy Brandt zu tun hatte.
»Aufregung im Plakatwahlkampf. Oppositionsparteien beklagen Vandalismus.«
Ich wusste zwar nicht, was Vandalismus bedeutete, hatte aber so eine Vermutung und schwieg zur Sicherheit. Mein Vater war es nicht gewohnt, dass ich nicht reagierte, und schaute fragend hinter der Zeitung hervor. Unsere Blicke trafen sich. Ich versuchte noch schnell, ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, aber da wusste er es schon. Jetzt komme ich doch nach St. Ottilien, schoss es mir durch den Kopf. Vandalismus klang so schlimm, dass es keine Rolle mehr spielen würde, ob mein Großvater im Jahr 1905 irgendetwas ausgefressen hatte, was in einem Klosterinternat zum Rauswurf führte. Meinen Eltern blieb gar keine andere Wahl, als mich, nachdem ich nun auch noch zum Vandalen geworden war, ins Internat zu stecken. Mein Vater brummte hinter seiner Zeitung wie ein gereizter alter Bär. Danach war es in unserem Esszimmer so still, dass ich meine Kommunionsuhr ticken hörte.
Drei Tage lang geschah nichts. Wieso ließen meine Eltern mich so schmoren? Es war doch klar, dass einer, der als Vandale in der Zeitung gestanden hatte, nicht länger zu Hause leben durfte. Ich war so zermürbt, dass ich beinahe von mir aus vorgeschlagen hätte, nach St. Ottilien gebracht zu werden, da rief mein Vater mich in den Raum, der Arbeitszimmer hieß und den wir nur betreten durften, wenn die Lage sehr ernst war. Anders als der Arzneimittelkeller war das Arbeitszimmer konsequent abgeschlossen, wenn unser Vater nicht zu Hause war. Nicht mal meine Mutter besaß einen Schlüssel.
»Weil er sich wegen seinem Verhau schämt«, sagte sie.
Aber das war nicht der Grund. Zwar stapelte mein Vater auf seinem Schreibtisch, dem Cordsofa, zwei Stühlen und einem Sessel die Vertraulichen Mitteilungen aus Politik und Wirtschaft, die Deutsche Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur und Werbeprospekte mit Schnäppchenangeboten aller Art, aber doch nur, weil er immer auf dem neuesten Stand sein musste. Schließlich konnte der Warschauer Pakt, den er gern als »Warschauer Pack« bezeichnete, jederzeit angreifen. Es war verständlich, dass er angesichts der Bedrohungslage keine Zeit mit Aufräumen vergeuden wollte. Auch die Schnäppchen interessierten ihn weniger aus Sparsamkeit als aus politischen Gründen. Er musste doch für den Fall, dass der Dritte Weltkrieg ausbrach – was mehr als wahrscheinlich war –, vorsorgen. Deswegen waren die Regale im Vorratskeller immer gut gefüllt. Tante Afra, die Schwester meines Vaters, hatte für den Notfall sogar Soleier eingelegt. Das fand er allerdings altmodisch, wo es doch diese wunderbaren »Büchsen« gab, mit Ananas, Ravioli, Leberwurst, Bismarckhering und Hühnerragout.
Er saß auf seinem Schreibtischstuhl, rollte ein Stück vor und zurück und wieder vor und blickte mich dabei mit unbewegter Miene an. Ich stand an der Tür und wartete auf die Urteilsverkündung. Weil er nichts sagte, schaute ich mich unauffällig um. Mein Blick schweifte von einem Ölbild mit einem Karwendel-Gipfel über Haufen mit ausgerissenen Zeitungsartikeln bis zu dem die ganze Wand einnehmenden Bücherregal.
Plötzlich wusste ich, warum er sein Arbeitszimmer so streng bewachte. Hier, in einem tiefen Regalfach, das sonst immer hinter einer Klappe verborgen war, befand sich sein Allerheiligstes.
Das Altarbild war dreigeteilt wie in unserer Kirche. Das Zentrum bildete ein vergrößertes, schwarz-weißes Foto. Es zeigte unsere Familie, kurz nachdem Sigi geboren und meine Mutter seltsam pausbäckig gewesen war. Links daneben hatte mein Vater ein Foto von sich aus dem Krieg aufgestellt. Er trug eine Uniform, die an Armen und Beinen viel zu kurz war, und blickte mit großem Ernst in die Kamera. Der rechte Altarflügel bestand aus einer Urkunde. Mein Vater war kurz nach meiner Geburt noch einmal für ein paar Jahre als Arzt zum Militär gegangen, hatte dort offenbar aber keine guten Erfahrungen gemacht. Jedenfalls wurde er sehr schweigsam, wenn man ihn nach dieser Zeit fragte. Auf den dritten Platz im Kleinkaliberschießen seiner Einheit war er dennoch stolz.
Vor dem Altar standen eine Schnapsflasche und ein Glas mit einem Edelweiß drauf. Daneben lag eine Art Wurst aus speckigem Leder mit einer Schlaufe an einem Ende und einer Kugel am anderen. Ich ahnte, was das war. Mein Klassenkamerad Thomas hatte mal von seinem Großvater erzählt, der im Krieg einen Bosniaken mit einem einzigen Hieb getötet hatte – mit einem Totschläger. Während ich noch überlegte, was wohl ein Bosniake war und wen mein Vater totschlagen wollte, stieß er sich mit einem Fuß vom Schreibtisch ab und schoss mit seinem Stuhl auf mich zu. Auf halber Strecke bremste er ab, sprang auf, schlug die Klappe vor seinem Allerheiligsten zu und sagte: »Also …«
Ich senkte den Blick. Bestimmt hatten sie meinen Umzug ins Internat schon organisiert. Dort würde ich bis zum Abitur eingesperrt bleiben, falls ich es bis zur dreizehnten Klasse schaffte. Anders als mein Opa Hammerl war ich ja nicht so strebsam, dafür aber wenigstens noch nicht wegen Unzucht aufgefallen.
»Ich weiß von nichts«, sagte mein Vater und grinste seltsam schräg. »Deswegen ist das auch keine Belohnung.«
Er hielt mir eine Papierrolle hin. Wahrscheinlich ein Poster von St. Ottilien, dachte ich, damit ich mich schon mal an den Anblick gewöhnen kann. Ich wollte das Gummiband abstreifen, doch mein Vater schob mich ungeduldig zur Tür. Er ertrug keine längeren Besuche in seinem Arbeitszimmer. Ich spähte durchs Schlüsselloch, sah aber nur seinen Schreibtisch. Zu gern hätte ich gewusst, ob er sich jetzt ein Gläschen genehmigte oder doch lieber mit dem Totschläger übte.