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Linda Meyer war der Typ von hungriger Starreporterin, den Peter Bertram vergötterte, weil nur Mitarbeiter dieses Kalibers ihm garantierten, dass er beruflich die nächste Woche überlebte.

Sein Posten als Chefredakteur galt als Schleudersitz. Der Verleger des Reporter hatte in den letzten Jahren drei leitende Redakteure verschlissen. Der Grund lag nicht etwa in Unfähigkeit oder persönlichen Aversionen, sondern in jener neuen Mentalität der „Gewinnmaximierung“, die aus den USA herübergekommen war und jetzt auch in Europa gesellschaftsfähig wurde.

Als Lindas Handy jenen nervigen Ton von sich gab, der jede Party und den lautesten Straßenverkehr übertönte, befand sie sich gerade auf einem Dauerlauf im ersten Morgengrauen durch die City. Ihr Körper war schweißnass. Ihr lilafarbenes Stirnband umschloss dunkelbraunes, halblanges Haar, das nie einen Friseur sah. Sie hatte dieses Haar von ihrer Großmutter geerbt. Es war so kräftig und unverwüstlich, dass man daraus die besten Bürsten der Welt hätte herstellen können.

Die Kerle an den Marktständen kommentierten ihren Auftritt immer mit Gejohle. Dann knallten sie die eisernen Gestelle noch ein wenig lauter zusammen.

„Hallo Darling“, flüsterte Bertrams Stimme ins Telefon. „Du studierst doch Paläontologie? Oder liege ich da falsch?“

„Hab’s ein Semester vor der Abschlussprüfung auf Eis gelegt. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, warum?“

„Hilf mir bitte auf die Sprünge?“

„Weil in eurer Nervenheilanstalt kein Platz für ernsthafte Studentinnen mit Nebenjobs ist. Ihr braucht Redakteure, die vierunddreißig Stunden am Tag verfügbar sind.“

„Vierundzwanzig, Linda, wir wollen doch nicht unverschämt sein. Bist du nun Expertin oder nicht?“

„Expertin wofür?“

„Ich glaube, ich hab’ da was nach deinem Geschmack – Flugsaurier!“ Bertram betonte mit gespieltem Ekel das „i“ in Saurier, als fasse er einen schmuddeligen Küchenlappen an.

„Du meinst neue Funde? Doch nicht bei uns?“

Linda dachte an ihre letzte Vorlesung. Den jüngsten Flugsaurier – genauer gesagt, seine versteinerten Überreste – hatten Berliner Forscher kürzlich in einem Steinbruch nahe der südspanischen Stadt Valdepenas entdeckt. Eine unbekannte Spezies, mit einer Flügelspannweite von zwölf Metern größer als ein Lear-Jet. Man hatte ihn den „Drachen von Solana“ getauft, nach dem spanischen Fundort La Solana. Bisher galt der Quetzalcoatlus mit einer Spannweite von zehn Metern als größter fliegender Saurier.

„Nein, ein lebender Flugsaurier. Ich rede von den Gerüchten, die seit einiger Zeit durch die Presse geistern.“

„Du willst mich auf den Arm nehmen?“

„Sagt dir der Name Doktor Alexander Born etwas?“

„Anwärter für den nächsten Nobelpreis in Biologie.“

„Mein lieber Freund Alex sitzt hier neben mir in der Redaktion. Und wenn man ihm glauben darf, hatte er eben ein Erlebnis der besonderen Art. Er wirkt ziemlich fertig. Ich weiß, dass du heute erst mittags antreten musst. Aber wenn du ausnahmsweise …?“

„Danke, dass du dabei sofort an mich gedacht hast.“

Es gab in der Redaktion noch drei junge Reporterinnen, die Linda insgeheim den „Klub der Dünnen“ nannte, zwei davon freie Mitarbeiterinnen: zerbrechliche Geschöpfe mit Kreislaufstörungen und psychosomatischen Beschwerden. Trotzdem durfte man keine Frau als Konkurrentin unterschätzen. Ihre Spezies hatte in der Evolution vor allem deswegen überlebt, weil Frauen diplomatischer waren als Männer.

Als sie vor den Stufen des Reporter anlangte, warf sie einen Blick an der altehrwürdigen Fassade hinauf. Im steinernen Kranz über dem Portal saß eine Eule, das Symbol der Weisheit. Dieses Gebäude hatte seit seiner Grundsteinlegung schon drei Zeitungen erlebt – und irgendwann, davon war sie fest überzeugt, würde sie an der Spitze der Redaktion stehen. Welchen Preis auch immer sie dafür zahlen musste …

Alexander Borns Gesicht wirkte auf Linda viel weniger introvertiert, als sie es bei einem Wissenschaftler seines Kalibers erwartet hatte, vielleicht, weil man darin nichts von den Ausschweifungen der Männer seines Alters entdecken konnte – einmal abgesehen davon, dass er momentan ziemlich ramponiert aussah.

Er saß neben Bertrams Bildschirm und kühlte sich die Beulen am Hinterkopf mit einem Eisbeutel. Auf seinem Nacken klebten zwei große Heftpflaster.

„Lass mir noch was übrig von Alex“, mahnte Bertram. Er war unrasiert, und unter seinem verschwitzten Unterhemd zeichnete sich ein rundlicher kleiner Bauch ab. Was seine Attraktivität anging, war ihr Chefredakteur das genaue Gegenteil seines Besuchers.

Born streckte mit jungenhaftem Lächeln die Hand aus. „Meine Freunde nennen mich Alex. Sie sind also die Expertin?“

„Kommt drauf an, wofür?“

„Es handelt sich um ein fliegendes Tier mit etwa achtzehn Metern Flügelspannweite.“

„Ein Vogel?“

„Kein Vogel, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Ein unbekanntes Flugobjekt also“, sagte Linda und kräuselte spöttisch die Nase.

„So hat man es auch auf dem Revier genannt – und den Fall zu den Akten gelegt.“

„Sie waren bei der Polizei?“

„Dort scheint man mich für verrückt zu halten.“

„Schon irgendwas darüber in den Medien zu finden?“, fragte Linda an Bertram gewandt.

„Nein.“

„Und? Was war es?“

„Keine Ahnung“, sagte Born. „So ähnlich stelle ich mir einen urzeitlichen Flugsaurier vor. Aber das ist nicht mein Fachgebiet. Er hat ein dunkles, kurzhaariges Fell und einen spitzen Schnabel.“

„Könnten Sie das Tier skizzieren?“

„Ich bin kein guter Zeichner.“

Linda schob ihm ein Blatt Papier und ein paar farbige Filzstifte hin. „Probieren Sie’s einfach.“

Born zeichnete eine Weile und setzte eine menschliche Figur zum Vergleich daneben. Aufgerichtet war das Tier nach seiner Schätzung etwa fünf– bis sechsmal so groß wie ein Mensch. Er hob das Blatt in die Höhe und betrachtete es kopfschüttelnd. Beim zweiten Versuch sah es so aus, als bekomme die Figur langsam Konturen. Aber er war immer noch nicht zufrieden und radierte am Schnabel des Tieres.

„Der Kopf ist das Schwierigste“, sagte er. „Er sieht nicht aus wie ein Vogelkopf. Eher wie ein Reptil. Und die Beine sind ungewöhnlich kurz. An der Vorderseite der Flügel befinden sich lange dünne Arme, die in kleinen Greifhänden mit drei Fingerkrallen münden.“

Linda betrachtete die Skizze. „Das ist eindeutig ein Flugsaurier“, stellte sie fest. „Und seine Flügelspannweite beträgt über achtzehn Meter? Dann wäre es der größte Saurier, den man je entdeckt hat.“

„Ich glaube, im Vergleich zum Menschen ist er noch ein Stück größer, als ich ihn gezeichnet habe.“

„Peter, was halten Sie davon?“

„Was wir jetzt brauchen, sind beweiskräftige Fotos“, sagte Bertram. „Das bringt den Reporter in die Schlagzeilen der Weltpresse.“

„Und dem Verleger ein Umsatzplus von hundert Prozent …“

„Der Mann muss schließlich auch leben.“

„Dann sollten wir sehr vorsichtig mit der Weitergabe von Informationen sein“, überlegte Linda.

„Wer weiß sonst noch davon?“

„Außer der Polizei und ein paar Zeugen – denen anscheinend keiner glaubt – wohl niemand. Aber ein Tier dieser Größe kann nicht lange unentdeckt bleiben. Es scheint vor allem in der Nacht aktiv zu sein, vielleicht aus Vorsicht und Selbsterhaltungsinstinkt.“

„Ich möchte, dass wir es exklusiv vermarkten, Alex“, sagte Bertram. „Ehe es ein anderer tut, schießen wir den Vogel lieber ab und schaffen ihn irgendwo hin. Da bleibt er so lange unter Verschluss, bis wir alle Rechte mit internationalen Verträgen abgeklärt haben.“

„Sie wollen ihn doch nicht etwa umbringen?“, fragte Linda.

„Es handelt sich um ein Raubtier. Es tötet Menschen.“

„Wir sollten herausfinden, wo es herkommt und ob es noch mehr von seiner Art gibt“, sagte Born. „Vielleicht hat es ja sogar einen Schöpfer? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich als Spezies Millionen Jahre lang vor uns auf der Erde verbergen konnte.“

„Einen Schöpfer?“

„Genmanipulation.“

„Das ist Ihr Fach. Davon verstehen Sie mehr als wir“, sagte Linda. „Halten Sie das denn für machbar?“

„Momentan noch nicht. Aber es gibt viel versprechende Ansätze, tiefgefrorenes Genmaterial wieder zu aktivieren. Ich arbeite selbst an solchen Versuchen.“

„Dann werden Sie hiermit zu meinem Mitarbeiter ernannt“, sagte Linda und reichte ihm lächelnd die Hand.

„Könnte es vielleicht aus dem Innern der Erde kommen?“, fragte Bertram. „Durch ein Erdbeben oder einen Erdrutsch freigesetzt?“

„Nein, ausgeschlossen.“ Linda schüttelte den Kopf. „Es lebt davon, aus der Luft zu jagen, wenn ich richtig verstehe.“

Sie frühstückten im Dachcafé hinter Borns Institut, weil die Kantine noch nicht geöffnet hatte. Born schwor darauf, dass es dort den besten Milchkaffee gab. Später würde er Linda seinen Arbeitsplatz zeigen. Sie glaubte, dass der künftige Nobelpreisträger in ihrer Story als „Entdecker“ des Flugsauriers präsentiert werden müsse. Danach wollten sie in die Wälder jenseits der nördlichen Stadtgebiete fahren, um nach Borns Gewehr zu suchen.

Linda war fest davon überzeugt, dass der „Drache“ sein Opfer nicht mit Haut und Haaren verschlungen hatte. Also mussten irgendwo Knochenreste und Kleidungsstücke von ihr zu finden sein.

Die Sonne schob sich gerade über die verspiegelte Fassade der ALBENGA-Versicherung, als sie auf der Terrasse Platz nahmen.

„Da hab’ ich ihn zum ersten Mal gesehen“, sagte Born und streckte seine Hand aus.

„Schauerlicher Gedanke, er könnte am helllichten Tag hier auftauchen …“

„Ja, das gäbe ein hübsches Chaos.“

„Weiß die Paläontologie etwas darüber, wovon sie sich ernährten?“

„Manche urzeitlichen Flugsaurier lebten von Reptilien, die sie aus der Luft jagten, und von Aas. Andere fingen Insekten und Fische, vor allem die kleineren Arten, die nur etwa drosselgroß wurden. Einige fischten sogar Plankton. Ehe man den Drachen von Solana entdeckte, galt der Quetzalcoatlus als größter Flugsaurier. Aufgerichtet war er etwa sechs Meter groß. Er hatte ein Gewicht um die sechzig bis siebzig Kilo.“

„Damit wäre er wohl kaum im Stande, einen Menschen in die Luft zu heben?“

„Nein, Ihr Drache muss erheblich größer und schwerer sein, Doktor.“

„Alex …“

„Oh, ja, Verzeihung. Sind Sie eigentlich verheiratet, Alex?“

„Ich habe eine erwachsene Tochter. Karens Mutter Gloria starb bei der Geburt ihres zweiten Kindes.“

„Das hört sich nicht so an, als sei es Ihr Kind gewesen?“

„Nein.“

„Verstehe …“

Born setzte seine Tasse ab und erwiderte ohne jede Befangenheit ihren Blick. „Das würde nicht in Ihren Artikel gehören, Linda. Mein Privatleben geht niemanden etwas an.“

„Nein, natürlich nicht.“

„Ehrenwort?“

Sie nickte.

„Ich zeige Ihnen das Institut. Sie können über meine Arbeit bei der Bondt-AG und die Stiftung schreiben, was immer Sie wollen. Wahrscheinlich hat es wenig mit Ihrer Titelstory zu tun. Für einen Außenstehenden sind es nicht viel mehr als endlose Reihen von Versuchen in kleinen Glaszylindern und grauen Plastikbehältern. Aber ersparen Sie mir bitte Ausflüge in meine Vergangenheit.“

„Einverstanden.“

„Und sollten Sie irgendwann auf einen Prozess stoßen, bei dem es um das Urheberrecht am Born-Repro-Effekt geht – davon möchte ich ebenfalls nichts in der Zeitung lesen.“

Endzeit

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