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Herbert Kahn war ein kleiner Mann mit hoher Mathematikerstirn und kühlem Blick. Wenn er redete, hatte man schon nach wenigen Sätzen den Eindruck, dass es vor allem darum ging, ihm nicht zu widersprechen.

Der Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer war die spartanische Variante eines flandrischen Eichentischs, ohne Schubladen und ohne jede Verzierung. Herbert Kahn trug einen dünnen grauen Morgenmantel aus Satin, obwohl es bereits Abend war. Seine Villa wirkte so genauso kahl und kalt auf Born wie der Vorsitzende. Es gab keine Teppiche und kaum Bilder, nur riesige Räume mit wenigen alten Möbeln, in denen man leicht die Orientierung verlieren konnte, weil alles gleich aussah.

„Sehr ungewöhnlich, dass sich ein Mitarbeiter des Instituts direkt an mich wendet“, sagte Kahn und reichte ihm ein Glas trockenen Sherry.

„Wegen des besonderen Anlasses. Die Zukunft der Genforschung liegt möglicherweise in einer Eiweißverbindung, in der sich ein raffinierter – fast sollte man sagen genialer – Reparaturmechanismus verbirgt. Die Natur vollbringt auf diese Weise jeden Tag das Wunder, defekte Erbinformationen wiederherzustellen. Und wir sind dicht davor, diesen Mechanismus zu rekonstruieren! Aber die Bondt-AG kann dafür gegenwärtig keine weiteren Mittel aufbringen. Bitte verstehen Sie mich richtig, Doktor Kahn. Wir forschen auf anderen Gebieten, während der Fortschritt gerade dabei ist, uns offenen Auges zu überholen. Wir dürfen keinen Tag länger warten. Die Situation ist kritisch.“

„Ich werde mir die Unterlagen kommen lassen …“

„Oh, wenn Sie wollen? Ich habe einige Papiere mitgebracht?“

„Inwiefern unterscheiden sich diese Arbeiten von Ihren bisherigen Ergebnissen?“

„Sie meinen, was meine Nominierung für den Nobelpreis anbelangt?“

„Könnte es die Nominierung beeinflussen?“

„Es ist eine Fortsetzung meiner bisherigen Arbeiten. Ihr krönender Abschluss, würde ich sagen.“

„Aber das Komitee wird Ihnen den Preis für Ihre bisherigen Entdeckungen verleihen, verstehe ich das richtig?“

„Ich bin im Gespräch. Niemand weiß ganz sicher, wie sie entscheiden werden.“

Kahn trank mit spitzen Lippen etwas von seinem Sherry und musterte ihn entnervt.

„Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, Doktor Born: Könnten neue Ergebnisse Ihre Nominierung positiv oder negativ beeinflussen?“

„Möglicherweise, ja.“

„Wäre es dann nicht klüger, in der fast schon sicheren Position eines künftigen Preisträgers für Molekularbiologie abzuwarten? Ich meine, auch im Sinne des Instituts, das sich von diesem Preis natürlich erhebliches internationales Renommee verspricht?“

„Ja, vielleicht. Ich befürchte nur, dass wir kostbare Zeit vergeuden. Schon einhundertfünfzigtausend Euro könnten den entscheidenden wissenschaftlichen Durchbruch bringen.“

„Es geht uns immer darum, Kosten und Nutzen abzuwägen. Genmanipulation ist und bleibt ein sensibles Thema.“

„Das Gebiet der genetischen Reparaturmechanismen bietet ungeheure wissenschaftliche Aussichten.“

„Wir werden in der nächsten Vorstandssitzung der Chrysler-Bondt-Stiftung darüber entscheiden“, sagte Kahn. „Es wäre den anderen Mitgliedern gegenüber nicht fair, hinter ihrem Rücken Vereinbarungen zu treffen.“

„Nein, natürlich. Das habe ich auch nicht erwartet.“

Der Platz vor der U–Bahnstation war menschenleer, nur eine junge Frau strebte eilig zwischen den weit auseinander liegenden Laternen auf die Kreuzung zu, als sei jeder Lichtkegel so etwas wie eine rettende Insel in der Dunkelheit.

Doktor Born hatte gerade seinen Zigarettenstummel in den Rinnstein geworfen, als ein riesenhafter schwarzer Schatten über den Dächern auftauchte. Das merkwürdige Etwas schwebte fast lautlos zwischen den Hochhaustürmen heran. Seine Flügelspannweite betrug mindestens achtzehn Meter.

Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Einen Augenblick schien es über seinem ahnungslosen Opfer stillzustehen. Die Frau bemerkte das Tier erst, als sie von seinem langen Schnabel mit den verschränkten Zähnen beim Genick gepackt wurde. Ihr kurzer Schrei erstarb im Schlagen der Flügel.

Das Tier hob ihren hilflos zappelnden Körper mühelos in die Lüfte. Seine lederartigen Flughäute mit den dreifingrigen Armen, die an einen Flugdrachen oder eine überdimensionale Fledermaus erinnerten, bewegten sich ohne Eile auf und ab. Vor der verspiegelten Fassade des Versicherungsgebäudes beschleunigte es kraftvoll seinen Flügelschlag und zog steil nach oben, um über dem Flachdach im Gleitflug nach Südwesten abzudrehen. Dann war es auch schon hinter den Baumwipfeln jenseits der Straßenkreuzung verschwunden.

„Was, um Himmels willen, war das denn?“, murmelte Doktor Born.

Er stand vorgebeugt auf der Straße, als habe ihn eine Geistererscheinung heimgesucht. Sein Blick wanderte prüfend über die Häuserfronten. Keines der Fenster war beleuchtet. Anscheinend hatte niemand außer ihm den Vorfall bemerkt.

Irgendwo auf der anderen Straßenseite musste der Frau ihre Handtasche entglitten sein. Doch obwohl er eine Weile danach suchte, konnte er sie nirgends finden. Vielleicht war sie in einen der Gullys gefallen? Oder in die Vorgärten? Er musterte kopfschüttelnd die mannshohen Sträucher. In der Dunkelheit war es so gut wie aussichtslos, eine kleine schwarze Handtasche zu finden.

Auf dem Weg zum Polizeirevier blickte er argwöhnisch zum Himmel. Die Wolkendecke hing jetzt ungewöhnlich tief. Zwischen den aufgerissenen Wolkenfetzen trieb eine zweite, höhere Wolkenschicht in entgegengesetzter Richtung. Unangenehmer Gedanke, das Tier könne zwischen den beiden Wolkendecken schweben, auf der Lauer nach dem nächsten Opfer. Es war immer noch irgendwo da draußen. Aber wo war es hergekommen? Und wo fand es Unterschlupf? Vielleicht in den großen Wäldern jenseits der nördlichen Stadtgebiete?

Das Polizeirevier war um diese Zeit nur noch mit zwei Beamten besetzt. Der eine saß am Bildschirm; sein Kollege reparierte einen zerlegten Wasserkocher. Er hatte ein freundliches junges Gesicht und zog beflissen seine Uniformjacke an, als Born hereinkam.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Bitte halten Sie mich nicht für übergeschnappt“, sagte Born. „Aber was ich eben beobachtet habe, ist ziemlich ungewöhnlich.“

„Oh, wir sind hier einiges gewohnt! Wir hatten heute schon einen Koch, der sich nur knapp vor der Feuerwalze aus seiner brennenden Fritteuse retten konnte. Ein Buchhalter bekam einen elektrischen Schlag, als er die Druckpatrone seines Faxgeräts wechselte. Eine Rentnerin wurde von ihrem Kanarienvogel angegriffen …“

„Sie wollen sich über mich lustig machen?“

„Nein, das ist alles in unseren Tagesberichten protokolliert“, sagte der Beamte und zeigte auf seine Kladde.

„Ich habe vor wenigen Minuten beobachtet, wie zwei Straßenzüge weiter ein riesiges schwarzes Etwas – ein reptilienartiger Vogel oder ein Flugsaurier – fragen Sie mich nicht, was genau es war – eine junge Passantin packte und mit ihr über die Häuserdächer wegflog.“

„Ein … Flugsaurier, sagen Sie?“

„So etwas Ähnliches.“

Der junge Polizist forschte in seinem Gesicht. Seine Miene blieb völlig unbewegt dabei. Er war nicht viel jünger als Born. Schwer zu sagen, ob er ihn für verrückt hielt. Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, schob die Einzelteile des Wasserkochers an den Rand der Tischplatte, nahm ein Formular aus der Schublade und wandte sich nach hinten.

„Paul? Hier ist jemand, der einen Flugsaurier gesehen hat.“

„Ich weiß nicht, ob es ein Flugsaurier war“, verbesserte Born. „Ich kenne mich mit diesen Viechern auch nicht aus. Ich weiß nur, dass die letzten großen Exemplare vor etwa 60 Millionen Jahren ausgestorben sind.“

„Was könnte es sonst gewesen sein?“

„Keine Ahnung. Vielleicht ein neuer Typ von Polizeihubschrauber.“

Paul war ein Beamter alten Schlages. Sein Gesicht strahlte unerschütterliche Ruhe, ja eine gewisse Heiterkeit aus, als er sich von seinem Bildschirm erhob; vermutlich, weil es durch all die Verrückten und Exzentriker geläutert war, die nachts die Polizeidienststellen heimsuchten.

„Wieder dieser verdammte Wetterballon“, stellte er grinsend fest. „Wir hatten schon ein paar Meldungen deswegen. Die Leute halten das Ding im Dunkeln für einen Vogel – wegen der Presseberichte“, fügte er hinzu.

„Nein, es war kein Ballon, sondern ein Tier.“

„Sie meinen, es war doch ein Flugsaurier?

„Irgend etwas, das aussah wie ein Flugsaurier.“

„Wie groß?“

„Fünfzehn bis zwanzig Meter Flügelspannweite. So groß, dass er mühelos eine Passantin im Fluge mit sich reißen konnte.“

„Als Beute, meinen Sie?“

„Er wird kaum mit ihr Halma spielen.“

„Ist Ihnen das … Opfer persönlich bekannt?“

„Nein, aber die junge Frau verlor ihre Handtasche, als es passierte. Leider konnte ich sie in der Dunkelheit nicht finden. Vielleicht befinden sich darin Ausweispapiere.“

„Ja, vielleicht. Nehmen Sie Drogen? Sind Sie in psychiatrischer Behandlung?“

„Nein.“

„Bitte füllen Sie dieses Formular aus. Name, Anschrift, Beruf. Zeit und Ort des Vorfalls. Alter, Aussehen, Bekleidung des Opfers. Unverwechselbare Kennzeichen. Genaue Beschreibung des unbekannten Flugobjekts.“

Keine Polizeistreife hatte in dieser Nacht etwas Auffälliges bemerkt. Es war das erste Mal, dass jemand die verdächtigen Flugobjekte der vergangenen Tage als „fliegende Saurier“ bezeichnete, und entsprechend verständnisvoll gingen die Beamten mit Doktor Born um. Sie waren darin ausgebildet, Verrückten möglichst nicht zu widersprechen. Das überließ man besser den Leuten von der Psychiatrie.

Sie durchsuchten mit ihren Stablampen die Sträucher, leuchteten die beiden Gullys in der Umgebung ab und befragten ein paar Anwohner. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt.

„Ihre Handtasche muss doch hier irgendwo sein“, sagte Born und blickte sich ratlos um.

„Vielleicht hat sie inzwischen jemand aufgehoben“, erwiderte der eine der beiden Polizisten und tippte sich unauffällig an die Stirn, während er seinem Kollegen ein Zeichen gab, zum Streifenwagen zurückzukehren.

Endzeit

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