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ОглавлениеDoktor Born bewohnte mit seiner Tochter die oberste Etage im geschlossenen Naturkundemuseum, in der früher der Hausmeister gelebt hatte, weil das praktisch für seine Arbeit war und das Gebäude seit der Verlegung der Sammlung: Mitteleuropäische Kristalle nicht mehr genutzt wurde.
Karens Freunde und Kommilitonen fanden den Ort „schauerlich“. Da es momentan nur den Treppenzugang durch das Museum gab, passierte man bei jedem Besuch Glaskästen voller Knochenfunde und Reihen ausgestopfter Tiere, die einem mit ihren toten Augen nachblickten.
Für Born war die Wohnung einfach nur zweckmäßig. Sie besaß einen Durchbruch zum benachbarten Institut für Genforschung, das sich den Museumsbau einverleiben würde, und wurde wie sein Arbeitgeber, die Bondt-AG, von der Chrysler-Bondt-Stiftung finanziert. Er hatte bei der Stiftung bis zum Abschluss der Umbauarbeiten eine provisorische Außentreppe zum Hinterhof beantragt.
Für Karen war es der gefragteste Partystützpunkt. Sie liebte den riesigen Dachgarten, weil man sich dort im Sommer unbeobachtet sonnen konnte. Der vorübergehende Zugang durch das Museum schreckte niemanden wirklich ab.
Seitdem ihr Vater für den Nobelpreis vorgeschlagen war, hatten selbst längst vergessene alte Freunde ihre Sympathie für die Familie wieder entdeckt. Oder besser gesagt: Sie schätzten es, sich im Glanze des nächsten Preisträgers für Molekularbiologie zu sonnen. Keine Woche verging, ohne dass jemand mit einer aufgeschlagenen Zeitung bei ihnen auftauchte, um sich nach seiner Nominierung zu erkundigen.
„Was ist los?“, fragte Karen. „Du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen?“
„Sagen wir mal: Ich wünschte mir, ich hätte nur schlecht geschlafen.“ Born trug seinen zerfransten grünen Pullover mit Ärmelschonern aus braunem Wildleder, den Karen nicht ausstehen konnte, und braun melierte Hausschuhe aus den fünfziger Jahren, obwohl er gerade mal vierzig war. Er sah ziemlich gut aus für einen Wissenschaftler, der sich nächtelang in seine Arbeit vergrub. Aber er verstand nichts daraus zu machen. Angeblich war das Kapitel Frauen für ihn beendet.
„Doch keine Gelder für Forschungen, Paps?“
„Nein, die Zukunft der Molekularbiologie ist weiter auf Gedeih und Verderb den Geldgebern der Chrysler-Bondt-Stiftung ausgeliefert.“
Born schlug einen schweren Folianten auf und begann sorgfältig die Abbildungen zu vergleichen. Es waren Rekonstruktionen aus archäologischen Knochenfunden und Abdrücken in Stein, die meisten vermutlich mit einem ordentlichen Schuss Fantasie ihrer Zeichner angereichert.
„Was ist das für ein Bildband?“
„Vögel – urzeitliche Vögel.“
„Seit wann beschäftigst du dich denn mit Paläontologie? Ein neues Forschungsprogramm?“
„Nein.“
Karen nahm achselzuckend ihre Studienhefte aus der Mappe und ging zum Kühlschrank. Sie stellte eine Flasche Mineralwasser und eine Karaffe Weißwein auf den Tisch.
Born blickte besorgt über den Rand seiner Lesebrille. „Du gehst noch aufs Dach?“
„Es ist so heiß hier unten.“
„Mir wär’s lieber, du würdest heute Abend nicht auf den Dachgarten gehen.“
„Aber wieso denn? Ich muss für die Klausur in Philosophie pauken. Wenn ich durchfalle, wird nie eine anständige Lehrerin aus mir.“
„Bitte tu mir den Gefallen – nur heute Abend, ja?“
„Darf ich wissen, was so schlimm daran sein soll, sich an einem warmen Sommerabend auf den Dachgarten zu setzen?“
„Ich sag’s dir, sobald ich mit Bertram in der Redaktion gesprochen habe.“
„Ist wieder irgendein Spanner unterwegs? Der würde mich doch gar nicht sehen können …“
Anscheinend hatte Karen den merkwürdigen Schatten zwischen den Wolkendecken vergessen. Die nächsten Hochhäuser waren gut zweihundert Meter entfernt. Selbst mit einem Fernglas hätte ein neugieriger Verehrer wegen der Pflanzen nur schlechte Sicht auf den Dachgarten gehabt.
„Ich werde noch mal eine Runde mit dem Landrover drehen. Mach einfach etwas Durchzug, wenn dir zu heiß wird.“
Seine Arbeit im Institut hatte ihn den ganzen Tag über in Atem gehalten, aber die Sache am Vorabend war ihm keinen Moment aus dem Sinn gegangen. Er nahm das Jagdgewehr aus dem Wandschrank. Im Handschuhfach des Wagens lag ein Feldstecher, mit dem er im Urlaub Vögel beobachtete. Die großen Wälder außerhalb der nördlichen Stadtgebiete waren nur etwa sechs Kilometer entfernt.
Doktor Born fuhr die schmale Straße zum Schiffshebewerk hinunter und dann trotz der Einbahnstraße in verkehrter Richtung über die Brücke, um den Weg abzukürzen.
Die Wolkendecke hing noch genauso tief wie gestern Abend, und zwischen den aufgerissenen Wolkenfetzen war wieder eine zweite, höhere Wolkenschicht zu erkennen. Ihre Ränder hatten eine helle Färbung angenommen, als würden sie vom Mondlicht angestrahlt.
Vielleicht ist es jetzt irgendwo da oben, dachte er, während er argwöhnisch beobachtete, wie sich die beiden Wolkenschichten übereinander schoben. In Gedanken nannte er es meist „es“ – das „Tier“, das „Ungeheuer“ –, obwohl er aus unerfindlichen Gründen glaubte, dass es männlichen Geschlechts sei.
Auf dem Hügel oberhalb des Kanals angekommen, richtete Born prüfend sein Fernglas zum Naturkundemuseum. Wie er erwartet hatte, war jetzt Licht auf der Dachterrasse. Karens zierliche Gestalt kam gerade mit einem Tablett die Wendeltreppe hinauf; sie stellte es am Vordach ab und verschwand für einen Augenblick hinter den hohen Zierpflanzen, bevor sie in den Liegestuhl plumpste.
Ein paar Kilometer jenseits der Hügelspitze gab es außer einigen Lichtungen mit frischen Tannen– und Fichtensetzlingen nur hohen alten Laubwald. Der Landrover rumpelte über die Bodenwellen. Born schaltete das Fernlicht ein. Auf diese Weise konnte er bis tief in den Waldhang hineinblicken – weiter als mit jeder Taschenlampe.
Er hielt an und suchte sorgfältig mit dem Feldstecher das Gelände ab. Dann fuhr er den Wagen ein Stück nach rechts, um den übrigen Wald abzuleuchten. Er war es gewohnt, systematisch zu arbeiten.
Auf der anderen Seite, nach Osten hin, stand zerrissener Dunst zwischen den Stämmen. Manchmal sah das Unterholz so aus, als habe es die Form eines großen Tieres – und er zuckte unwillkürlich zusammen – obwohl er erleichtert gewesen wäre, das verdammte Ding endlich zu entdecken! Er zweifelte keinen Augenblick an seiner Geistesverfassung. Und doch war die Szene gestern Abend zu fantastisch gewesen, als dass er sich nicht immer wieder fragte, was er wirklich gesehen habe.
Er schätzte, dass das Tier bei einer Flügelspannweite von achtzehn Metern im Sitzen ungefähr zwölf Meter hoch war. Es hatte einen lang gestreckten Hals und einen überdimensionalen Schnabel. Sein Körper war schwarzgrau und glänzend. Er tippte eher auf ein kurzes dichtes Fell, als auf das Federkleid eines großen Vogels. Dann handelte es sich wohl tatsächlich um einen Flugsaurier – aber diese Rasse war bekanntlich seit Millionen Jahren ausgestorben.
Born steuerte den Landrover tiefer in den Wald hinein. Weiter unten gab es ein paar Hügel, hinter denen es zum nächsten Kanal hinunterging; deshalb achtete er darauf, dass der Weg nicht zu schmal wurde, um immer noch problemlos wenden zu können.
Inzwischen war die Wolkendecke aufgerissen, und die Mondsichel stand scharf umrissen über den Baumwipfeln. Er nahm das Gewehr vom Beifahrersitz und stieg aus.
Weiter hinten, in den äußersten Industrievororten, flimmerten nur noch wenige Lichter. Ein paar Kamine trugen wegen des Flugverkehrs Lampen, die im regelmäßigen Rhythmus rote Signale gaben.
Wenn er sich irgendwo versteckt hält, dann hier im Wald, dachte Born. In den Städten und auf dem flachen Land würde man ihn zu schnell entdecken.
Er lehnte das Jagdgewehr an einen Baum und zündete sich eine Zigarette an. „Mit dem Rauchen aufzuhören ist ganz einfach“, zitierte er halblaut Mark Twain. „Ich selbst habe es schon hundertmal getan.“
Eigentlich hatte er schon vor Monaten mit dem Rauchen aufgehört – nach jenem unsäglichen Prozess, mit dem ihm Doktor Haderer den Born-Repro-Effekt, seine Entdeckung der Erbgutmultiplikation ohne Wirtszellen, streitig machte, für die er jetzt vielleicht den Nobelpreis bekam.
Während der Verhandlung hatte er begonnen, vier bis fünf Päckchen am Tag zu rauchen. Es stand viel auf dem Spiel. Es war so etwas wie sein Lebenswerk, wenn man das in seinem Alter sagen durfte. Die Frucht von fünfzehn Jahren harter Arbeit.
Dabei hatte er Raucher immer als haltlos verachtet. Nichts gegen maßvolle Pfeifen– oder Zigarrenraucher! Aber er hatte mit einer starken Zigarettenraucherin zusammengelebt. Gloria war Kettenraucherin gewesen. Sie wusste, dass Zigaretten für das Aussehen einer Schauspielerin Gift waren. Aber sie hatte es nicht lassen können.
Sie hatte dieses Leben bis an den Rand ihrer Möglichkeiten gelebt, mit allem, was es hergab – bis sie ihr eigenes Bild nicht mehr im Spiegel ertragen konnte. Bis sie auch ihn und ihre Tochter nicht mehr ertragen konnte. Denn man sieht den anderen leicht durch die Brille seiner eigenen Probleme.
Born warf ärgerlich seine Zigarette weg und trat näher an die Felswand; Nikotingeruch erinnerte ihn zu sehr an jene letzten Wochen mit Gloria, an diese unsägliche Mischung aus Schweiß, Parfüm und Alkohol.
Er sah mit dem Fernglas auf die Ebene mit den in der Dunkelheit wie ein kleines Manhattan beleuchteten Anlagen der Petrochemie hinaus. Aber dort regte sich nichts. Nicht einmal Vögel waren um diese späten Stunden auszumachen. Sein Blick wanderte über die Baumkuppen auf der anderen Seite. Nein, wenn überhaupt, dann musste das Tier sich hier im Wald verstecken.
Müdigkeit überkam ihn, und er setzte sich an einen Baumstamm und legte das Fernglas neben sich auf den Boden. In der Eiche gegenüber hockte ein Turmfalke.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Er sah gähnend auf seine Armbanduhr – zweieinhalb Stunden. Er hatte wahrhaftig zweieinhalb Stunden geschlafen. Plötzlich hörte er ein rhythmisches Rauschen in der Luft – wie das Schlagen großer Flügel. War er davon geweckt worden?
Born blickte sich irritiert um. Am Himmel jenseits der grauen Hügel war nichts zu erkennen. Auch nicht über den Baumwipfeln. Und doch war das Geräusch so deutlich, als befinde es sich fast neben ihm.
Dann verstummte es und in der Luft war nur noch ein unmerkliches Sirren.
Born griff nach seinem Gewehr. Er hatte noch nie einen Schuss damit abgefeuert; es war ein Geschenk seines verstorbenen Bruders. Er kletterte eilig den fußbreiten Pfad an der Hügelkuppe entlang, um das Plateau zu erreichen, von dem aus man ins Tal blicken konnte.
Als er auf der Felsplattform stand, schwebte der riesenhafte schwarze Schatten über ihm. Noch ehe er das Jagdgewehr hochziehen konnte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter und wurde nach oben gerissen.
Das Gewehr fiel in die Tiefe … und gleich darauf gewahrte er unter sich den Abgrund, weil der Saurier mit ihm vom Felsplateau wegflog.
Dann drehte er im Gleitflug wieder auf den Waldhügel zu, und Born spürte, dass sein Schnabel ihn mit seinen langen spitzen Zähnen beim Pullover gepackt hielt. Offenbar hatte das Tier seinen Nacken verpasst.
Borns Fäuste stießen mit aller Kraft gegen den harten schwarzen Schnabel über sich.
Er hörte, wie die Nähte seines Pullovers rissen und das morsche Gewebe nachgab …
Gleich darauf fiel er wie ein Stein in die Tiefe, mitten in das Geäst eines großen Laubbaums. Ein Ast traf seine rechte Hüfte. Dann streiften Zweige wie glühendes Metall sein Gesicht, und er stürzte hart ins Unterholz.
Er tastete nach dem Blut in seinem Nacken. Offenbar hatten die Zähne des Untiers keine tiefen Wunden gerissen. Auch seine Beine fühlten sich nicht so an, als sei etwas gebrochen. Glück gehabt … ausgerechnet der uralte grüne Pullover, den Karen so verabscheute, hatte ihm das Leben gerettet.
Hier unten war es fast vollständig finster. Vom Himmel konnte er durch das Blätterdach nur noch Ausschnitte sehen.
Einen Augenblick später hörte er wieder das Sirren in der Luft. Und durch den Ausschnitt im Blätterdach sah er das riesige Tier zum ersten Male aus der Nähe. Es schwebte mit aufmerksamem Blick über dem Wald.
Born hielt den Atem an. Er hatte keine Ahnung, wie gut es in der Dunkelheit sah. Doch selbst, wenn es ihn entdeckte, würde es nicht so einfach sein, ihn aus dem Unterholz zu ziehen. An der Vorderseite seiner gewaltigen Flügel befanden sich zwar lange, dünne Greifarme, und die drei kurzen Finger trugen scharfe Krallen. Aber anscheinend jagte es seine Beute lieber mit dem Schnabel.
Dann war es mit einem krachenden Geräusch auf dem einzigen dicken Ast über ihm gelandet, der sein Gewicht trug.
Born beugte sich erschreckt ins Dunkel der Blätter zurück. Der Schnabel des Tieres war jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Seine Augen musterten aufmerksam die Umgebung. Gleich darauf stieß es einen Mark erschütternden Schrei aus, der an einen riesigen Raben erinnerte, und schwang sich mit einer einzigen gewaltigen Flügelbewegung in die Luft.
Blätter und kleine Zweige rieselten auf ihn herab.
Großer Gott! Das war knapp gewesen!
Born wartete noch eine Weile ab, ehe er zu seinem Landrover zurück stolperte. Er bewegte sich immer dicht an den Stämmen der hohen Laubbäume entlang, weil er hoffte, auf diese Weise weniger leicht entdeckt zu werden.
Um das Gewehr im Tal würde er sich später kümmern. Die Redaktion des Reporter war auch nachts besetzt. Er hätte sich jetzt unmöglich ins Bett legen können …
Wenn die Polizei ihm nicht glaubte, würde er eben die Presse einschalten müssen.