Читать книгу Endzeit - Peter Schmidt - Страница 12

6

Оглавление

Am späten Nachmittag fuhren sie mit Borns Landrover in die Wälder jenseits der nördlichen Stadtgebiete.

Der Ort, wo er das Gewehr verloren hatte, lag einen knappen Kilometer hinter der Straßenbrücke. Die Straße folgte in Kehren dem Flusslauf und bog dann über eine schmale Steinbrücke zum Wald ab.

„Da oben an der Felswand hat er mich erwischt“, sagte Born und streckte seinen Arm aus.

Von hier unten wirkte die Felswand viel niedriger als vom Plateau aus.

„Wir sind einen weiten Bogen geflogen, etwa bis zur Mitte des Tals. Ich glaube, das Gewehr ist mir gleich zu Anfang aus der Hand gefallen.“

„Das wäre dann dort unten“, sagte Linda. Sie zeigte auf eine Sandbank.

Auf dem hellen Ufersand lag angeschwemmtes Holz. Wegen des dichten Unterholzes war das Gelände schwer zugänglich. Born steuerte den Landrover ins Bachbett. Einmal rutschten die Hinterräder durch und Wasser spritzte an den Scheiben hoch. Aber weil der Wagen Allradantrieb besaß, kamen sie sofort wieder frei.

„Wissen Sie, was der Unterschied zwischen einem seriösen Wissenschaftler und einem Scharlatan ist, Linda?“

„Nein – Sie werden es mir gleich sagen, oder?“

„Es gibt keinen. Sie pfuschen beide in Gottes Schöpfung herum und gaukeln uns vor, es gäbe echten Erkenntnisfortschritt.“

„Sie glauben nicht an wissenschaftliche Fortschritte, Alex?“

„Rein materiell, sachlich gesehen schon. Aber haben Sie sich mal gefragt, was uns all diese angeblichen Fortschritte einbringen?“

„Damit meinen Sie, was die Zivilisation für unser Glück bedeutet?“

„Sie bedeutet sehr wenig für unser Glück. Glück hat mit Gefühlen zu tun. Aber fragen Sie mal einen Psychologen oder Philosophen, was er unter Gefühlen versteht!“

„Sind Sie Buddhist, Alex?“

„Nein.“

„Hört sich aber so an …“

Hinter der Sandbank wurden die Wiesen feucht, und diesmal versackte der Landrover fast bis zur Hinterachse im Morast.

„Großer Gott … glauben Sie, wir kommen hier wieder raus?“, fragte Linda.

Born stellte den Motor ab. Er öffnete die Heckklappe und zog zwei Siebe aus Maschendraht aus dem Kofferraum. „Die haben mir Freunde für meine Expeditionen in Norwegen geschenkt.“

Mit den Drahtnetzen unter den Hinterrädern war es ein Kinderspiel, aus dem Morast zu kommen. Die Sträucher waren von gelben Schlammspritzern bedeckt, als sie wieder auf der Böschung standen. Born steuerte den Landrover jetzt immer am Ufer entlang.

Linda musterte aufmerksam die Hügelkämme. Noch hatte die Dämmerung nicht eingesetzt. Wegen der tief stehenden Sonne waren die Konturen der Bäume ungewöhnlich scharf umrissen. Sie nahm ihre Fototasche vom Rücksitz und setzte ein lichtstarkes Zweihunderter-Tele ein.

Sie blickte prüfend durch den Sucher. Gleich darauf entdeckte sie das Gewehr auf der Böschung.

„Da liegt es!“

Sein Lauf ragte vor ihnen aus dem Farn. Es sah aus, als sei es dort vergessen worden. Während sie ausstiegen, war plötzlich wieder dasselbe Sirren in der Luft wie damals über der Felswand.

„Schnell zum Wagen“, rief Born. „Schließen Sie die Tür.“

Er lief zur Böschung, um sein Gewehr zu holen. Linda hatte ihre Kamera am Fenster in Position gebracht. Jetzt war kein Laut mehr zu hören. Der Wald schien zu schweigen, als ahnten seine Bewohner, dass Gefahr drohte.

„Hören Sie das auch?“, fragte Linda. „Es ist plötzlich totenstill. Wo sind die Vögel?“

Sie warteten einige Minuten ab – Born mit dem Jagdgewehr im Anschlag. Aber der Himmel über der Schlucht blieb leer.

„Glauben Sie, er wird unseren Wagen attackieren?“

„Schwer zu sagen.“ Born hob das Gewehr. „Es dürfte ihm schlecht bekommen.“

„Wir sollten weiterfahren, bevor es dunkel wird.“

Sie überquerten den Bachlauf auf einem uralten Steg. Die Bohlen knarrten unter dem Gewicht des Landrovers. Das Wiesengelände war von einzeln stehenden Weidensträuchern durchsetzt. Born musterte voller Unbehagen die steilen Felswände des Talkessels.

„Ein idealer Platz, um …“

Er schwieg und starrte vorgebeugt durch die Windschutzscheibe.

Sie entdeckten den Leichnam fast gleichzeitig inmitten der sumpfigen Wiese. Er lag mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken. Born erkannte die Frau sofort an ihrem hellen Kleid. Der Stoff war zerrissen. Im Brust– und Bauchraum klaffte ein tiefes Loch, das mit geronnenem Blut gefüllt war.

„Großer Gott, er hat sie regelrecht … ausgeweidet!“, rief Linda entsetzt.

Im Gras lagen Teile ihrer inneren Organe – die Leber und ein Rest der Luftröhre. Die abgerissenen ausgefaserten Stücke der Trachea mit ihren starken Knorpelspangen deuteten darauf hin, dass das Tier ungewöhnliche Kräfte besaß.

„Sehen Sie besser nicht hin, wenn Sie schwache Nerven haben“, warnte Born. Er stieg aus, das Gewehr in Hüfthöhe, und warf einen prüfenden Blick zu den Hügeln hinüber.

„Ich muss meine Fotos schießen.“

„Überlassen Sie das lieber der Polizei.“

„Peter Bertram steinigt mich, wenn ich diese Gelegenheit verpasse.“

„Solche Fotos kann man ohnehin nirgendwo veröffentlichen.“

„Aber es könnten wichtige Hinweise sein.“

Linda kletterte mit ihrer Kameraausrüstung aus dem Wagen. Sie begann sorgfältig jedes Detail zu fotografieren. Manuelle Scharfeinstellung – kleine Blende – große Blende – als lägen die Zeiten automatischer Kameraeinstellungen noch in ferner Zukunft. Die Lage des Körpers, die Öffnung im Bauchraum, Nacken und Schultern, an denen der Flugsaurier zugepackt hatte. Am Nacken lagen die Sehnen und Muskeln frei. Die Haut darunter war dunkelblau angelaufen.

„Sie wollen doch, dass man Ihnen glaubt, Alex? Wir könnten auf dem Revier die Fotos vorlegen.“

„Leihen Sie mir Ihr Handy, wenn Sie fertig sind?“ Born streckte seine Hand aus.

„Wozu?“

„Um die Polizei zu rufen.“

„Wenn Sie die jetzt verständigen, haben wir bald eine ganze Meute Journalisten hier. Das wäre das Ende der exklusiven Berichterstattung für den Reporter.“

„Wir können die Leiche nicht gut sich selbst überlassen.“

„Zwanzig Meter weiter links, und wir hätten sie glatt übersehen.“

„Ich würde Ihnen gern jeden Gefallen der Welt tun, Linda, wenn es Ihrer Karriere nützt …“

„Im Ernst, Alex? Wie soll ich das verstehen?“

„Genauso, wie ich’s sage.“

Linda legte ihre Kamera auf den Beifahrersitz und wandte sich langsam nach ihm um, ein unmerkliches Lächeln auf dem Gesicht. „Wir müssen ihnen doch nicht sagen, dass es ein Flugsaurier war, oder? Wo sie sich so schwer tun, dir zu glauben? Hat das nicht noch etwas Zeit?“

Born ließ sich nicht anmerken, wie sehr es ihm gefiel, dass sie ihn plötzlich duzte. Er genoss es, wenn Linda in seiner Nähe war. Obwohl er das Kapitel Frauen eigentlich als abgeschlossen betrachtete. Er war jetzt einundvierzig. Er hatte seinen Entschluss gefasst, nachdem Karens Mutter weggegangen war. Aber womöglich war das wie mit den Zigaretten? Die Frauen aufzugeben, ist ganz einfach … wiederholte er in Gedanken.

„Ja, vielleicht.“

Linda reichte ihm wortlos ihr Telefon.

Born wählte eine Nummer und ließ sich mit dem leitenden Polizeibeamten verbinden. Er beschrieb ihm, wo sie die Leiche gefunden hatten und schlug vor, wegen des unwegsamen Geländes einen Hubschrauber zu benutzen.

„Hinter uns ist eine alte Holzbrücke. Mehr ein Steg als eine Brücke“, verbesserte er sich. „Kaum oder gar nicht passierbar für schwere Fahrzeuge.“

„Mit welchem Fahrzeug sind Sie dort?“

„Roter Landrover. Wollen Sie die Nummer?“

„Nein, das reicht. Bleiben Sie auf jeden Fall am Tatort, bis wir eingetroffen sind“, sagte der Beamte.

Es dauerte kaum mehr als eine halbe Stunde. Der erste Wagen, ein Zivilfahrzeug, kam aus entgegengesetzter Richtung den Hang herunter. Offenbar gab es noch einen schnelleren Weg ins Tal. Dann tauchte ein Hubschrauber über der Schlucht auf, zog lärmend in niedriger Höhe einen weiten Kreis und landete in etwa dreißig Metern Entfernung am Bach.

Der nächste Wagen war ein offizielles Fahrzeug der Stadtpolizei mit fünf Beamten.

„Die machen keine halben Sachen“, sagte Linda verächtlich. Man sah ihr an, dass sie nicht sehr glücklich über das Aufgebot war.

Ein dünner Mann in grauem Anzug stieg aus dem Zivilfahrzeug. Er war braun gebrannt, mit hageren, scharfen Gesichtszügen und wachsamem Blick. Er trug trotz der Wärme einen dunklen Hut. Er hätte jedem Herrenmagazin entstiegen sein können, wäre er nicht einen ganzen Kopf zu klein dafür gewesen. Mit seinem federnden Gang wirkte er drahtig wie ein Foxterrier – und genauso bissig.

„Das ist Inspektor Mahler – einer von der schwierigen Sorte“, warnte Linda. „Hat mich schon mindestens drei gute Storys gekostet. Lass dich nicht von ihm einwickeln, Alex.“

Born hatte vorsorglich sein Gewehr im Kofferraum verstaut, weil man ihm deswegen vielleicht unangenehme Fragen stellen würde. Er versenkte abwartend seine Hände in den Jackentaschen.

„Frank Mahler, Mordkommission …“

„Alexander Born. Meine Freundin Linda Meyer.“

„Unser künftiger Nobelpreisträger, nicht wahr? Der Stolz der ganzen Region. Und Linda ist Ihre Freundin?“ Mahler warf Linda einen spöttischen Blick zu.

„Es gibt immer noch Menschen auf der Welt, die sich mögen, Frank. Nicht nur Kerle, die sich selbst im Wege stehen und anderen das Leben schwer machen.“

„So was soll vorkommen“, bestätigte Mahler ungerührt. „Darf ich wissen, was Sie in diese abgelegene Gegend verschlagen hat? Das hier ist Naturschutzgebiet. Zufahrt mit dem Wagen verboten. Haben Sie die Schilder am Eingang des Tals nicht gesehen?“, fragte er an Born gewandt.

„Ehrlich gesagt, nein.“

„Der Wagen ist auf Ihren Namen zugelassen?“

Born nickte und reichte ihm die Schlüssel.

„Danke, nicht nötig. Haben Sie irgendetwas angerührt?“

„Nein.“

„Verdächtige Beobachtungen?“

„Nur ein eigentümliches Sirren in der Luft, als wir ausstiegen.“

„Ein Sirren?“

„Ziemlich laut – und schwer einzuordnen.“ Born bewegte unbestimmt die Hand.

„Von einer Schusswaffe?“

„Nein, eher wie das Schlagen großer Flügel.“

Inspektor Mahlers Gesicht war nicht anzusehen, ob er schon von Borns Meldung auf der Polizeiwache gehört hatte.

„Großer Flügel … aha.“

Der Hubschrauber der Gerichtsmedizin landete auf der Wiese am Bach. Zwei Männer mit Metallkoffern stiegen aus und liefen unter den drehenden Rotorblättern auf den Platz zu, wo die Leiche lag.

„Lassen Sie von meinen Kollegen Ihre Personalien aufnehmen und halten Sie sich für weitere Vernehmungen bereit“, sagte Mahler.

Endzeit

Подняться наверх