Читать книгу Endzeit - Peter Schmidt - Страница 7
1
ОглавлениеDoktor Born hatte den Nachmittag im Gordon-Club verbracht – einer Vereinigung seniler Millionäre, die sich Röntgenaufnahmen ihrer künstlichen Hüftgelenke zeigten und einander mit klappernden Zahnprothesen vorschwärmten, wie sie ihre ersten illegalen Millionen eingefahren hatten …
Denn darüber waren sich alle einig – dass man mit ehrlicher Arbeit selten reich wurde.
Das Gebäude lag in einem verfallenen Park hinter hohen Backsteinmauern. Seine Fassade glich eher einem verarmten Kinderheim als einem vornehmen Club. Aus den Ritzen der Portaltreppe wuchs Unkraut. Die blinden Fensterscheiben gaben nur widerwillig den Blick auf schäbige nikotingelbe Gardinen frei, und an der Tür empfing einen das Faktotum der Gesellschaft, die perfekte Personalunion von unterwürfigem Hausdiener, emsigem Hausmeister und grauer Eminenz.
Ansinnen von außerhalb des Clubs, die den Rahmen üblicher Plaudereien sprengten, wurden auf einem vervielfältigen Formular herumgereicht. Landete das schlecht leserliche Blatt nach einem flüchtigen Blick – der magisch von der mit rotem Filzstift eingekreisten Geldsumme angezogen wurde – im herumgereichten Korb, dann bedeutete es das unwiderrufliche Aus für den Besucher.
Das gleiche Ergebnis bewirkte auch ein unmerkliches Kopfschütteln.
Doch jedes Kopfschütteln in der Runde orientierte sich an den wackelnden Köpfen der anderen, und wie, um Himmels willen, dachte Doktor Born resignierend, hielten sie überhaupt ihr seniles Zittern und ihr ablehnendes Kopfschütteln auseinander?
Er hatte gehofft, er würde hier jemanden finden, der seine Genversuche finanzierte. Aber diese sabbernden alten Männer lebten nur noch in der Vergangenheit.
Der Name des Clubs war von der bekannten englischen Gin–Marke abgeleitet. Das sagte eigentlich schon alles über die wahren Interessen seiner Mitglieder. Er würde niemals Geld für private Studien von ihnen bekommen, gleichgültig, ob es dem Wohle der Menschheit diente oder (wie man argwöhnte) nur seiner beruflichen Karriere.
Man hatte ihm geraten, nichts von seiner Nominierung für den diesjährigen Nobelpreis in Biologie zu erwähnen. Das hätte als Angeberei aufgefasst werden können, wenn nicht sogar als eine Form von finanzieller Nötigung.
Und auf gar keinen Fall zu viele wissenschaftliche Einzelheiten! Einfache Gegenüberstellung von Aufwand und Nutzen. Ruhm und Verdienste in nicht zu blendenden Farben gemalt! Doch wie so oft hatte sich auch hier wieder gezeigt, dass noch so clevere Regeln unter Menschen nicht dasselbe waren wie die Gesetzmäßigkeiten in den Naturwissenschaften.
Er trank eine Tasse grünen Tee ohne Zucker, während die Versammlung entschied. Wohlweislich keinen Alkohol – obwohl er in zahlreichen Flaschen und Variationen bereitstand –, weil einen das in den Augen von Alkoholikern leicht als Alkoholiker diskreditierte.
Nach diesem Fehlschlag hatte er drei Straßenzüge weiter im Old Barber zu Abend gegessen.
Etwas zu fett, etwas zu viel, etwas zu schlecht. Es gab in diesem Moloch von Stadt einfach kein gutes englisches Restaurant, wie er es während seines Studiums auf der Insel schätzen gelernt hatte.
Obwohl der Barber direkt aus Oxford auf den Kontinent herüber gekommen war, schienen die Zutaten mit der Überquerung des Ärmelkanals ihre chemische Beschaffenheit zu verändern.
Als er im Lokal an der U–Bahnstation ein letztes Glas Bier trank, um sein Völlegefühl loszuwerden, sprach ihn ein alter Bekannter an – zumindest glaubte Born, dass der andere sich noch gut genug an ihn erinnerte. Er hatte Wladimir auf einer Fachtagung kennen gelernt. Wladimir Karow gehörte zur russischen Delegation, Abteilung Genreproduktion. Die Russen waren vor allem daran interessiert, mit Biogenetik Geschäfte zu machen. Die Forschung selbst interessierte sie herzlich wenig. Der Mann in seiner Begleitung hatte ein südländisches Gesicht.
„Sind Sie nicht Karl?“, erkundigte sich Wladimir. „Sind Sie nicht der verrückte Biologieprofessor, der gar kein richtiger Professor ist?“
Obwohl Born den Kopf schüttelte, fuhr er ungerührt fort: „Ist es wahr, dass Sie Ihren Professorentitel wegen einer Frauengeschichte verloren haben?“
„Ich hab’ ihn nicht verloren, weil ich ihn gar nicht erst bekommen habe.“
„Sie hatte solche Titten“, schwärmte Wladimir und legte seine gewölbten Handflächen vor die Brust. „Sie war die schärfste Vorzimmersekretärin, die man je an irgendeiner Universität gesehen hat.
Sie konnte kaum aufrecht sitzen, weil sie wegen ihres Vorbaus immer auf die Schreibmaschine zu kippen drohte. Man muss sich das mal vorstellen“, sagte Wladimir. „Die Kleine streckt ihre Hände aus, um die Tasten anzuschlagen – und dann kippt ihr Körper wie in Zeitlupe nach vorn … Karl steht auf so was.“
„Sie haben Ihren Doktortitel wegen ihrer Titten verloren?“, fragte Wladimirs Begleiter. „Alle Achtung.“
„Sie hatte noch andere Vorzüge …“
„Okay, okay, Themawechsel“, schlug Wladimir vor. „Haben Sie schon von den Gerüchten gehört?“
„Welche Gerüchte? Nein.“
„Es war doch in allen Zeitungen. Das Fernsehen soll sogar eine Sondersendung darüber planen.“
„Ach, Sie spielen auf diese dubiosen Erscheinungen am Himmel an?“
„Riesenvögel, die nachts auf die Jagd gehen.“
„Sie meinen, wie bei Alfred Hitchcock?“
„Nein, das waren harmlose Raben oder Krähen. Viel größer und gefährlicher.“
„Um was für eine Spezies sollte es sich denn dabei handeln?“
„Einige Experten bei uns in Russland glauben, dass die CIA dahinter steckt. Irgendeine genetische Manipulation, um Tiere zu Spionagezwecken zu missbrauchen.“
„Ehrlich gesagt, halte ich das alles für ausgemachten Blödsinn“, sagte Doktor Born. Er trank sein Bier aus und legte ein paar Münzen auf die Theke. Der Kellner wischte sie in sein Portemonnaie, ohne hinzusehen.
Danach fuhr er mit grummelndem Bauch und leise vor sich hin rülpsend zur U–Bahnstation am Naturkundemuseum. Sein Völlegefühl hatte keinen Deut nachgelassen. Er sehnte sich nach einem kalten Schluck Bier und einem lauwarmen Bad. Vielleicht würde er diese Nacht wieder auf der Dachterrasse schlafen.
Zwei Jungen im Abteil sprangen plötzlich von ihren Sitzen auf und starrten wie gebannt durchs Fenster. Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber er konnte nicht erkennen, was sie dort draußen in der Dunkelheit faszinierte.
Durch die Scheiben des Waggons sah der Himmel in der Dämmerung aus wie flüssiges Wachs.
Doktor Born lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es blieb alles beim Alten – für außerplanmäßige Forschungen keine Mittel.
Den folgenden Tag verbrachte er damit, noch einmal sein Material zu sichten. Zum Mittagessen nahm er die Unterlagen mit in sein Lieblingsrestaurant zwei Straßen vom Institut entfernt, weil er dort das Gefühl hatte, genügend Abstand zu haben und die Situation gewissermaßen „von außen“ zu betrachten.
Die Vorstandssitzung der Chrysler-Bondt-Stiftung bewilligte nur außerordentliche Mittel, wenn der wissenschaftliche Nutzen gesichert war. Aber wann wusste man das schon vorher?
Ihr Vorsitzender Herbert Kahn wurde von allen im Institut wegen seiner Unnachgiebigkeit gefürchtet. Aber vielleicht ließ sich dieser scheinbare Nachteil ja in einen Vorteil verwandeln?
Born stand jetzt an einem Punkt seiner Untersuchungen, der es ihm erlauben würde, fehlerhafte Erbinformationen innerhalb einer DNS-Kette zu überbrücken. Die Israelis waren möglicherweise genauso weit. Und auch in seinem eigenen Institut gab es Konkurrenz.
Als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, stand er abrupt auf und winkte der Kellnerin wegen der Rechnung. Er würde den Vorsitzenden der Stiftung einfach persönlich ansprechen.
Das hatte vor ihm noch niemand gewagt!
Auf dem Weg versuchte er sich die besten Formulierungen und Argumente einzuprägen. Weil er zu viel im Büro saß, nahm er nicht die U-Bahn, sondern ging zu Fuß, etwas Bewegung konnte nicht schaden …
Vor Universität sah er eine alte Frau in einem Geschäftseingang kauern. Sie schien völlig verängstigt zu sein. Als er sich über sie beugte, hörte er sie schluchzen.
„Was ist passiert?“, fragte er und berührte vorsichtig mit der Hand ihre Schulter.
Die Frau zuckte erschreckt zusammen. „Da war etwas in der Luft“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ein großer Schatten hat sich auf mich gestürzt.“
„Unsinn, das bilden Sie sich nur ein – wegen der Horrorgeschichten in den Zeitungen!“
„Er hat mich am Kopf erwischt … hier.“
Doktor Born betastete ihren Hinterkopf. „Eine Beule. Sie sind gestürzt.“
„Nein, es war das Tier!“
„Hm …“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Dann sollten wir die Polizei verständigen, oder?“ Born blickte sich suchend um. „Bleiben Sie hier und rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ich werde vom Lokal drüben anrufen.“
Aber als er gerade die Fahrbahn überqueren wollte, kam ein Polizeiwagen mit abgeblendeten Scheinwerfern die Straße hinunter. Born hob die Hand, und der Wagen stoppte neben ihm am Straßenrand. Der Beifahrer kurbelte die Scheibe hinunter.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Drüben im Hauseingang sitzt eine Frau, die von einem großen Tier aus der Luft angegriffen wurde.“
„Aus der Luft angegriffen ... ist sie verletzt?“
„Nur eine leichte Beule.“
Der Beamte warf seinem Kollegen einen wissenden Blick zu. „Wieder dieser verdammte Wetterballon …“
„Was denn, ein Wetterballon?“, fragte Born. „Das würde allerdings einiges erklären. Aber wie kann man einen Ballon mit einem großen Vogel verwechseln?“
„Oh, manche dieser Konstruktionen der Wetterfritzen sehen ziemlich abenteuerlich aus.“
„Verstehe. Vielen Dank.“
Er ging zu der alten Frau im Hauseingang hinüber. „Sie können jetzt beruhigt nach Hause gehen“, sagte er. „Die Sache ist aufgeklärt. Es war nur ein Wetterballon.“