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PROLOG
ОглавлениеDer Wind hatte aufgefrischt, eine starke Bö wirbelte ihre Notizblätter über die Dachterrasse …
Karen ließ die Zeitung sinken und sah blinzelnd zur dunklen Wolkendecke hinauf. Eben war der Himmel noch wolkenlos gewesen, fast schon ein wenig zu blau für diese Breiten, aber jetzt wanderten lange Schatten übers Haus. Der untere Teil der Wolkenfetzen trieb nach Norden, während der andere sich in entgegengesetzter Richtung bewegte. Es sah aus, als berührten seine Ausläufer bereits die Hochhaustürme. Zwischen den beiden Wolkendecken schien gleißend helles Sonnenlicht.
Karen stand auf und sammelte ihre Notizen für die Klausur ein. Sie legte alles in den chinesischen Kalender, den Vater ihr zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
Als sie sich auf die Sonnenliege zurücksinken ließ, war plötzlich ein merkwürdiger Fleck zwischen den beiden Wolkendecken zu sehen – lang gestreckt und dunkel. Nur ganz vage, wie durch eine Milchglasscheibe. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war. Er bewegte sich völlig lautlos und war sofort wieder zwischen den treibenden Wolkenfetzen verschwunden. Ein Segelflugzeug? Ein großer Vogel?
Karen strich sich verwirrt über die Augen, als habe sie schlecht geträumt. In den letzten Tagen vor der Abschlussprüfung schlief sie manchmal bei der Arbeit ein. Dann wusste sie gar nicht genau zu sagen, ob sie wirklich geschlafen oder sich alles nur eingebildet hatte.
Es war wie der Sekundenschlaf auf der Autobahn, wenn man sich plötzlich auf der anderen Fahrbahn wiederfand.
Daran waren natürlich ihre unsäglichen Prüfungsaufgaben schuld. Welcher Mensch konnte schon ernsthaft etwas über die „ontologische Differenz von Sein und Wesen in der Philosophie des Thomas von Aquin“ sagen, ohne aufgeblasen und lächerlich zu wirken?
Karen richtete sich überrascht auf. Da war es wieder … irgendetwas wie ein riesiger, dunkler Flügel … aber gab es denn überhaupt so große Vögel?
Sie packte eilig ihre Sachen zusammen und lief zur Wendeltreppe. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und zerrte an den großen Topfpflanzen. Manchmal neigten sich die Kronen der jungen Bäume so stark über das Geländer der Terrasse, als drohten sie jeden Augenblick in die Tiefe zu stürzen.
Karen liebte diese Wohnung über dem ehemaligen Naturkundemuseum, weil sie diesen großen Dachgarten besaß.
Schon halb auf der Treppe stehend musterte sie noch einmal argwöhnisch die Wolkendecke. Dann eilte sie quer durch die Wohnung bis zur Eisentür, die erst vor kurzem als provisorischer Durchbruch zum benachbarten Gebäude eingebaut worden war, und beugte sich ins Institut.
„Paps? – Da draußen ist irgendetwas Merkwürdiges in der Luft!“
Durch eine Glaswand am Ende des lang gestreckten Raumes sah man Wissenschaftler, deren Kunststoffanzüge und Helme an plumpe Raumanzüge erinnern. An den Arbeitstischen arbeiteten Wissenschaftler in makellos weißen Kitteln. Born trug als einziger normale Kleidung. Er wandte sich auf seinem Drehstuhl nach Karen um, als er ihre Stimme hörte.
„Kommst du gut mit der Arbeit voran?“
„Es geht nicht ums Studium. Ich war gerade auf der Dachterrasse. Erst gab es eine fürchterliche Sturmbö – und dann tauchte plötzlich dieser Schatten auf …
„Ein Schatten – wovon?“
„Ich weiß nicht …“
Born kam zu ihr herüber und legte lächelnd seinen Arm um Karens Schulter. „Du bist wieder mal eingeschlafen, hab’ ich Recht? Weil du zu viel arbeitest.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Himmel, ich bin spät dran. Diese senilen alten Millionäre im Club nehmen es ganz genau mit der Pünktlichkeit.“
„Glaubst du, du wirst das Geld für deine Forschungen von ihnen bekommen?“
„Keine Ahnung“, sagte er achselzuckend. „Vielleicht imponiert es ihnen ja, dass ihr Antragsteller für den diesjährigen Nobelpreis nominiert ist …“
„Du bekommst es, Paps – genauso wie den Preis, das spüre ich!“
Karen küsste ihn auf die Wange.