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Remmer hatte den größten Teil seiner Kindheit in öden Waisenhäusern zugebracht, wo man Jahrestage so beging, als handele es sich um die Ausgabe von Habseligkeiten bei der Entlassung aus dem Gefängnis oder von Essen gegen Essensmarken in einer Werkskantine.

Vielleicht feierte er deshalb jeden seiner Geburtstage, als müsse er alle entgangenen Vergnügen der Kindheit nachholen. Die Maschine, die er sich von Cilli zum Geburtstag gewünscht hatte, würde ihm bei den Wettkämpfen mindestens einen zweiten oder dritten Platz sichern, wenn nicht sogar die Meisterschaft, denn es gab momentan kein anderes Modellflugzeug auf der Welt, das mit seinen Flugeigenschaften konkurrierenden konnte, vor allem nicht mit den programmierbaren Flugfiguren.

Man gab ein paar Koordinaten ein, und die Maschine bewegte sich wie von Geisterhand auf der vorgezeichneten Bahn.

Remmer liebte den Wettkampf, weil er ihm half abzuschalten. Aber anders als Harris, der anscheinend jeden Tag eine bestimmte Dosis Mord und Totschlag brauchte, um gesund zu bleiben, arbeitete er gern im Büro.

Er hatte schon während seiner ersten Besichtigung des Polizeimuseums bei den Fotos all der Erdrosselten und Erschlagenen nichts als Übelkeit verspürt.

Inzwischen war er so weit, sich auch bei herausgerissenen Eingeweiden oder einer abgetrennten Hand nicht mehr allzu viel anmerken zu lassen.

Am besten konnte er über einen Fall nachdenken, wenn er eines seiner Modellflugzeuge von einem Hügel aus zwischen den Baumwipfeln hindurchsteuerte oder es dicht über ein Feld oder die Wasseroberfläche eines Sees lenkte. Bei strahlender Sonne, wenn die heiße Luft über dem Land stand. Das weit entfernte und trotzdem kraftvolle Surren des Flugzeugmotors versetzte ihn in einen Zustand, den er immer als „kreativen Dämmerzustand“ bezeichnete.

Es war, als wenn das Gefühl der Kontrolle über alle Funktionen der Maschine auch seine Gedanken beflügelte.

Harris würde ihm Cilli nur anvertrauen, wenn er in der Abteilung gute Arbeit leistete. Wahrscheinlich wäre sie auch ohne seine Einwilligung zu ihm kommen. Aber Remmer zog es vor, jedem Konflikt mit Harris aus dem Wege zu gehen. Und der einfachste Weg war sicher, seine Schwester ausfindig zu machen.

Wenn er den Fall löste, oder besser noch, wenn er Katrin wohlbehalten zurückbrachte, hatte er Harris auf seiner Seite.

Als er das Gartentor aufschob, entdeckte er, dass Cilli ihm von ihrem Zimmer aus zuwinkte, und Remmer winkte gutgelaunt zurück. Anscheinend hatte sie sein Geburtstagsgeschenk bekommen, sonst wäre sie nicht so aufgedreht gewesen. Aber einen Augenblick später, beim Anblick des alten Hauses, verdüsterte sich seine Laune auch schon wieder ...

In der Dämmerung wirkte das Gebäude mit seinen beiden hohen Backsteinkaminen immer etwas bedrückend, vor allem, wenn man sich noch nicht an seine altmodischen Erker und die eigenartigen roten Zinnen auf den Türmen gewöhnt hatte.

Daran änderte auch der großzügige Anbau mit den modernen Fenstern nichts.

Remmer fand, das Haus war eigentlich kein Platz für ein junges Mädchen wie Cilli, weil sie beim Studium schon genug problematische Charaktere um sich hatte, ob nun leibhaftig oder nur auf dem Papier. Aber Cilli schien Gefallen daran gefunden zu haben.

Wenn sie der Hafer stach, zeigte sie ihren Gästen sogar den Gynäkologenstuhl im Keller des Anbaus, den der junge Robert Quant als Sitzmöbel für seine Opfer benutzt hatte.

Quant war immer noch flüchtig, man vermutete, dass er sich irgendwo in der Dritten Welt herumtrieb. Cilli sah seine Experimente mit Frauen eher von der positiven Seite. Er hatte nur versucht, sich selbst aus einer seelischen Notlage zu befreien, aber niemals aus Sadismus. Und außerdem hatte man seine Opfer – zwei Frauen und einen erpresserischen Vertreter, der ihm auf die Spur gekommen war – noch rechtzeitig mit Suchhunden hinter einer zugemauerten Kellertür des Anbaus entdeckt.

„Hallo Harald, herzlichen Glückwunsch“, sagte Harris in der Tür des Salons stehend und streckte seine Hand aus, als Cilli aufgedrückt hatte. „Wie alt wirst du eigentlich? Vierzig?“

„Nein, zweiunddreißig.“

„Siehst aber älter aus … du solltest dir nicht so viele Nächte um die Ohren schlagen. Ändert auch nichts daran, dass wir auf verlorenem Posten kämpfen. Das ist die wichtigste Lehre, die ich aus meiner Arbeit gezogen habe.“

„Dein Optimismus macht mir immer wieder Mut.“

„Ich glaube, Cilli packt gerade deine Geschenke ein, sie ist furchtbar aufgeregt. Trinken wir erst ein Gläschen?“

„Ja, gern.“

Sie setzten sich zusammen in den Salon.

„Schon irgendwelche Neuigkeiten wegen Katrin?“, erkundigte sich Harris.

„Du weißt doch, wie empfindlich Bertram reagiert, wenn du dich in den Fall einmischst.“

„Katrin ist schließlich meine Schwester.“

„Wir prüfen gerade die Liste der Gläubiger. Natürlich könnte sich jeder von ihnen an Katrin gerächt haben. Ich meine, wenn man sich die Verluste ansieht, die sie wegen ihrer Leichtsinnigkeit und Chuzpe gemacht haben.“

Chuzpe ...?“, fragte Harris.

„Unverfrorenheit, Dreistigkeit ...“

„Ja, unverfroren und dreist, das scheint sie schon immer gewesen zu sein. Obwohl Katrin fast zwanzig Jahre jünger war als ich, hat sie mich als ihren Bruder immer wie den letzten Dreck behandelt. Für sie war ich nichts weiter als ein geiler alter Bock, der sie unter der Dusche beobachten wollte ...“

„Und – hast du?“, erkundigte sich Remmer grinsend.

„Katrin sah mit dreizehn aus wie achtzehn. Sie war bemerkenswert gut entwickelt für ihr Alter.“

„Gab’s schon mal Ärger deswegen?“

„So weit ging mein Interesse an ihr nun auch wieder nicht. Aber es scheint eine Art fixe Idee gewesen zu sein. Katrin konnte sich nur schwer vorstellen, dass einem Kerl bei ihrem Anblick nicht das Taschenmesser in der Hose losging.“

Remmer nickte und nippte gedankenverloren an seinem Anis seco. „Es sind nur drei Anleger, die für einen Racheakt in Frage kommen. Die anderen haben einwandfreie Alibis, weil sie zum Zeitpunkt von Katrins Verschwinden auf einer Aktionärsversammlung im sonnigen Florida waren.“

„Jemand darunter, der schon mal wegen ähnlicher Delikte aufgefallen ist?“

„Zwei von ihnen sind Frauen Ende Fünfzig. Sie wären auch rein körperlich kaum in der Lage gewesen, eine trainierte Sportlerin wie Katrin zu überwältigen und aus dem Haus zu schaffen.“

„Manchmal entwickeln Frauen geradezu übermenschliche Kräfte, das hängt von ihrer emotionalen Situation ab. Eine Frau, die hasst, kann gefährlicher sein als ein Mann.“

„Die eine ist bettlägerig, und die andere leidet an Lähmungserscheinungen der Hände. Meiner Meinung nach war keine von ihnen fähig, einen Mord zu begehen.“

„Und wenn es sich um ganz gewöhnliche Erpressung handelt? Wenn man nur versucht, an Katrins verstecktes Vermögen heranzukommen?“

„Falls sie Gelder an die Seite gebracht hat? Ja, das wäre möglich.“

„Was ist mit dem Dritten im Bunde?“

„Justus Harnack, ein pensionierter Offizier. Ging nach dem zweiten Weltkrieg für kurze Zeit in die Fremdenlegion. Danach war er Leiter einer Bundeswehrschule.“

„Hört sich doch vielversprechend an, oder?“

„Wie man’s nimmt …“

„Solche Leute verstehen es, logistisch zu denken. Ein guter Mörder oder Kidnapper muss vor allem ein guter Planer sein. Es genügt nicht, im Augenblick der Tat besonders kaltblütig zu handeln, man muss auch im Auge behalten, was passieren könnte. Und man sollte immer einen genauen Überblick haben, an welchem Punkt man steht und wie man bei unvorhergesehenen Ereignissen reagieren würde. Alles Eigenschaften, die einen guten Soldaten auszeichnen.“

„Harnack ist bekennender Christ.“

„Na, wenn schon. Auch Christen begehen Verbrechen. Wie viel hat Harnack denn bei Katrins Manöver verloren?“

„Alles, ich glaube, er hat so gut wie alles verloren.“

„Dann sollte ich mir den Burschen mal ansehen.“

„Aber nicht in meinem Auftrag“, protestierte Remmer. „Ich möchte nicht den Kopf hinhalten, wenn Bertram davon Wind bekommt. Ach übrigens, hier ist die Adresse des Wagenhalters, um die du mich gebeten hast.“

„Na, das überrascht mich nicht“, sagte Harris nach einem Blick auf Remmers Notizzettel. „Hab’ mir gleich gedacht, dass da was faul ist ...“

Als sie ihr Zimmer im Dachgeschoss betraten, stand Cilli bleich vor dem ausgepackten Modellflugzeug, einen Bogen Geschenkpapier in der Hand.

„Sie ist weg“, sagte sie, „verschwunden ... dabei könnte ich schwören, dass ich sie in den Karton gelegt habe.“

„Was ist weg?“, fragte Harris.

„Die Fernsteuerung.“

„Unsinn ...“ Harris durchsuchte ungläubig die Verpackung. Er erinnerte sich, dass Cilli die Fernsteuerung in den Karton zurückgelegt und den Deckel für den Transport vorsichtshalber mit Klebefilm befestigt hatte. Er hatte das noch so deutlich vor Augen, weil ihm erst im letzten Moment die Beschreibung auf dem Boden des Kartons aufgefallen war, mit der man den Autopiloten programmierte.

„Und die Gebrauchsanweisung fehlt auch“, sagte Cilli und hob so trostlos die Hand, als sei das die größte Geburtstagspleite, die sie je erlebt habe.

„Na, dann werden wir einfach eine neue Fernsteuerung bestellen“, sagte Remmer. „Das ist überhaupt kein Problem. Ich kann auch mit der alten Steuerung üben. Auf die programmierten Flugfiguren kommt es im Moment gar nicht an.

Wichtiger ist, die Maschine erst mal in die Luft und wieder heil auf den Boden zu bekommen. Es ist ein großartiges Geschenk, Cilli – genau das, was ich mir gewünscht habe.“

„Im Ernst, du bist nicht enttäuscht, Harald?“

„Nicht die Spur.“

„Wir werden dir sofort eine neue Steuerung bestellen“, erklärte Harris. „Ich kümmere mich persönlich beim Hersteller darum. Wäre doch gelacht, wenn das Paket nicht schon morgen früh als Expresssendung auf unserem Tisch läge. Aber ich kann mir trotzdem nicht erklären, wo das Ding geblieben sein könnte ...“ Er dachte voller Unbehagen an die Schmierereien auf Cillis Spiegel und den Mann im Garten.

Harris

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