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Manche sind geistesgestört,

aber die meisten sind nicht krank.

Sie sind böse, weil sie sich bewusst

entscheiden, was sie tun.

Ein Mensch mag den Wunsch danach haben,

und der ist krankhaft.

Aber ihn in die Tat umzusetzen, ist böse.

Andrew Vachss

Er war besser in Form als die meisten Dreißig oder Vierzigjährigen, keine Frage. Aber er versuchte gar nicht erst, es allen zu beweisen, es war ohnehin kein Geheimnis.

Er würde den Polizeidienst in drei Tagen verlassen und sich danach ganz seinen Hobbys widmen – Schluss aus. Was für ein Leben!

Keine Psychopathen mehr, die der anderen, dunklen Seite ihres Charakters so verfallen waren, dass weder Gefängnisse noch Therapien sie jemals wieder von ihrer Besessenheit heilen würden, weil sie etwas in ihnen zum Klingen brachte, das allen Heilungsversuchen widerstand. Der letzte, den er erledigt hatte, war von dem Wahn besessen gewesen, seine Gegner anzünden zu müssen …

Auch keine Kleinkriminellen mehr, die für eine Packung Kaugummi ihre berufliche Karriere aufs Spiel setzten.

Keine fürsorglichen Onkels, die ihre Nichten schwängerten. Keine neurotischen Hausfrauen, die sich vom Wind in der Dachrinne belästigt fühlten …

Er würde allen Verrückten den Rücken kehren und sich ganz seiner klassischen Landschaftsmalerei widmen. Schon der bloße Gedanke daran war, als habe man ihm ein neues Leben geschenkt.

Man sagte ihm nach, im tiefsten Innern sei er genauso der Faszination des Verbrechens verfallen wie der Verbrecher – mit dem kleinen Unterschied, dass er auf der anderen Seite stehe. Aber das war nichts weiter als eine böswillige Verleumdung. Von uneingestandener Faszination konnte überhaupt keine Rede sein.

Man hatte einfach seine Cleverness mit Faszination verwechselt.

Ein gewisses Maß an Faszination gehörte allerdings zum Job. Sonst konnte man seine Arbeit nicht so gut machen, dass man erfolgreich war. Und, verdammt noch mal, er war schließlich erfolgreicher gewesen als alle anderen. Er steckte sie geistig genauso in die Tasche wie körperlich.

Er war unbestritten der beste Mann in der Abteilung, was die Jagd auf psychopathische Killer anbelangte, den sie je gehabt hatten.

Und er war mindestens genauso gut bei Kaugummidiebstählen, neurotischen Hausfrauen und Fixern auf Bahnhofstoiletten.

Das klang in den Ohren von Uneingeweihten vielleicht überheblich. Er hütete sich auch davor, es lautstark herauszuposaunen, aber er wusste, was er wert war. Seine Berichte sprachen Bände.

Seine Erfolgsbilanz hätte ihm in der Stadt längst zu einem hohen Posten mit Schwingstuhl und Vorzimmersekretärin verholfen, wäre er nur darum verlegen gewesen.

Aber Büroarbeit machte ihn mürbe. Er brauchte die freie Wildbahn. Er balancierte lieber auf einem Flachdach – das eine Bein in der Dachrinne des Nachbarhauses und unter sich den Abgrund zwischen den Häuserwänden – und versuchte einem dieser verrückten Amokläufer klarzumachen, wo im Leben seine wahren Interessen lagen.

Cilli ließ wieder mal das Haus erbeben. Harris sah amüsiert an der weißgestrichenen Mauer des Gartens hinauf. Manchmal dachte er, seine Nichte habe schon vor Jahren das Gehör verloren, so stark dröhnten die Lautsprecher in dem alten Gemäuer.

Ehe er ins Haus ging, umrundete er erst einmal den abgestorbenen Baum in der Mitte des Gartens. Das war wie ein Ritual – wie bei einem Hund, der sich um seine Achse drehte und sich dann zum Schlafen legte.

Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er bald frei sein würde. Durchs Salonfenster konnte er einige von Cillis Freunden aus dem Psychologischen Seminar sehen. Sie feierten ihre erfolgreiche Klausur:

„Psychische Labilität nach der Pensionierung“ – auch kein Thema, das irgend jemanden gesünder machte, weil kluge Theorien selten zu Verhaltensänderungen führten. Es sei denn, der Patient fiel darauf herein wie auf die Geisterbeschwörungen von Medizinmännern.

Harris sog genießerisch die kühle Abendluft ein. Die Sommernächte waren jetzt wieder wärmer, fast so warm wie in seiner Kindheit, aber dieser Abend war angenehm frisch.

Er betrachtete die Fassade des Hauses und versuchte sich vorzustellen, wie die neue Holzveranda wirken würde. Er hatte das Haus erst vor ein paar Wochen erworben, und sogar zu einem überraschend günstigen Preis.

Der Makler hatte ihm anvertraut, die Vorbesitzer seien froh, endlich einen Polizeibeamten dafür gefunden zu haben, als wenn die Gegend besonders unsicher wäre.

In der Eingangshalle hatten Cillis Kommilitonen eine Strohpuppe aufgehängt, die Professor Bohrländer darstellen sollte.

Sie schwebte mit ausgebreiteten Armen und einer schwarzen Drahtbrille auf der Nase unter dem Lichtschacht, als stürze sie gerade auf sie herab. Ein wenig makaber und würdelos für jemanden seines Alters und seiner beruflichen Reputation.

„Setz dich zu uns in den Salon, Harris,“ rief Cilli gutgelaunt vom Treppenabsatz. „Wir diskutieren gerade darüber, was für ein Charakter Mutters Kidnapper ist ...“

Nach seinem Geschmack versuchte sie mit ihrem schwarzen Pagenschnitt und den engen Jeans immer ein wenig zu sehr den Männern zu imponieren.

Er fand, Cilli hatte das gar nicht nötig. Sie nannte ihn nie „Onkel“, geschweige denn „Paps“ oder „Vater“, wie andere Mädchen, weil er nur ihr Ersatzvater war, und sie vermied es auch, ihn mit seinem Vornamen anzureden. Vielleicht, weil sie ihm damit signalisieren wollte, er sei ein ganz gewöhnlicher Mann, der zufällig bei ihrer Vormundschaft das Rennen gemacht hatte.

Harris versuchte im Gedränge der Party herauszufinden, ob Cilli auch Harald Remmer eingeladen hatte. Remmer war sein Nachfolger in der Abteilung und Cillis uneingestandener Schwarm.

Trotz ihres Altersunterschieds von zehn Jahren machte er ihr ständig den Hof wie ein mittelalterlicher Galan. Seine Umgangsformen verbesserten sich auf geradezu verblüffende Weise, sobald sie erschien.

Und Cilli schreckte nachts aus dem Schlaf auf und rief Remmers Namen. Aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen konnten sie wie Romeo und Julia nicht zueinander kommen.

Harris hatte Remmer nie das Haus verboten, aber er geriet auch nicht in Begeisterungstaumel, wenn er ihn sah. Er schätzte ihn als Arbeitskollegen, das war alles.

Remmer würde seine Arbeit so gut machen wie jeder andere mit seiner Erfahrung und Begabung. Allerdings hätte er Cilli als guter „Stiefvater“ eher einen Mann gewünscht, der auf weniger riskantem Fuß lebte.

Manchmal stellte Harris sogar Betrachtungen darüber an, ob er vielleicht nur ein wenig eifersüchtig auf Cillis Jugend und das Leben war, das vor ihr lag.

„Hättet ihr euch die Puppe im Lichtschacht nicht sparen können?“, fragte er. „Sieht ziemlich abgeschmackt aus.“

„Das gehört zur Feier“, erklärte Cilli bestimmt. „Professoren, die ihre Sache so schlecht machen wie Bohrländer, werden von uns gehenkt – nur rituell natürlich.“

„Ich denke, ihr habt eure Klausur bestanden?“

„Aber seine Noten sind ein Witz.“

Aus der Runde antwortete beifälliges Gemurmel. Harris versuchte unter all den bebrillten Jünglingen, die jetzt schon wie erfahrene Psychotherapeuten und Sozialarbeiter aussahen, denjenigen auszumachen, der für Cillis kriminalistischen Spleen verantwortlich war – für ihre fixe Idee, den Kidnapper ihrer Mutter zu finden. Er brauchte mehr als zwei Minuten, um ihn zu entdecken.

Max saß im hintersten Winkel des Salons auf der weinroten Ledercouch, die Arme verschränkt, und sah Harris halbherzig lächelnd entgegen, als wenn jetzt wieder eines von Harris’ berüchtigten Donnerwettern über ihn hereinbrechen würde.

Aber Harris hatte sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung niemals wieder außer Fassung zu geraten. Und vielleicht waren ja ein paar Tage Einstimmung vor dem eigentlichen Beginn auch keine schlechte Übung.

„Spielen wir etwa wieder ‘Suche nach dem Kidnapper’, Max?“, fragte er in so verbindlichem Tonfall, dass selbst ein Schwachsinniger keinen Zweifel mehr an seiner grenzenlos guten Laune hegen konnte.

„Sie haben ihn doch nie fassen können, oder?“, erkundigte sich Max. „Das war Ihnen in Ihrer Laufbahn nicht mehr vergönnt – der große Harris erfolglos! Also dürfen Sie uns auch nicht abschlagen, im Seminar ein paar Psychogramme solcher Kidnapper zu erstellen, wenn es Cillis Mutter nützt.“

„Ich war überhaupt nicht für den Fall zuständig“, widersprach Harris. „Darum kümmert sich mein Kollege Remmer.“

Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Er hatte sich laufend von Remmer über den Fall berichten lassen und insgeheim hatte er sogar daran mitgearbeitet, soweit es in der Abteilung nicht auffiel.

„Harris glaubt, meine Mutter habe ihr Verschwinden bloß vorgetäuscht“, erklärte Cilli. „Es gebe gar keinen Kidnapper. Sie habe sich einfach das Leben genommen, weil sie sich an der Börse verspekuliert hatte. Aber für ein paar Aktienpakete nimmt sich niemand das Leben.“

„Auch nicht, wenn es sich um fünfzehn Millionen handelt?“, fragte Harris.

„Vierzehneinhalb, sie hat vierzehneinhalb Millionen verloren – innerhalb eines Tages.“

„Dollar oder Mark?“, erkundigte sich Max unverschämt grinsend.

Er saß als einziger auf Harris’ roter Couch, während alle anderen standen, als halte er Audienz, als sei er der intellektuelle Guru der Gruppe.

Eine bösartige kleine Intelligenzmaschine, immer darauf lauernd, ob sich eine Gelegenheit bot, mit spitzzüngigen Kommentaren einzugreifen.

Harris würdigte Max keines weiteren Blickes. Er nahm Cilli am Arm beiseite, schob sie zum Fenster und sagte mit halblauter Stimme:

„Ich finde, das Verschwinden deiner Mutter ist ein zu ernstes Thema, als dass wir hier in aller Öffentlichkeit darüber diskutieren sollten.“

„Aber das sind alles psychologisch versierte Leute, Harris“, widersprach Cilli. „Max hat ein abgeschlossenes Studium. Er bekommt bald einen Lehrauftrag an der Universität. Und Rupert Domm schreibt Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften, obwohl er erst im siebten Semester ist.“

„Ich weiß, in welchen Kreisen Domm verkehrt. Am Bahnhof gibt’s Etablissements, die sich darauf spezialisiert haben, Burschen, die noch um ihre sexuelle Orientierung kämpfen, ein paar Hinweise in eigener Sache zu geben.“

„Sexuelle Orientierung? Was soll das sein? Entweder, man ist stockschwul wie Rupert, oder man bevorzugt das andere Geschlecht.“

„Lernt man das in euren Seminaren? Ich will ja hier nicht den großen Erzieher spielen, Cilli, schließlich bist du inzwischen volljährig und kannst tun und lassen, was du willst. Aber wenn du einmal im Leben den Rat eines alten Freundes annehmen würdest …“

„Danke, deine Ratschläge riechen mir zu sehr nach Polizist.“

„Das kann man auch als Kompliment auffassen. Polizeibeamte sind schließlich keine Buhmänner.“

Harris hatte Cillis Vormundschaft nur übernommen, weil seine Schwester nicht mehr fähig gewesen war, ihr eine normale Mutter zu sein, aber er fragte sich manchmal, ob er ihr jemals ein normaler Vater hätte sein können, vorausgesetzt, sie wäre nicht erst mit fünfzehneinhalb Jahren zu ihm gekommen.

Jemand in ihrem Alter hatte damals nach Katrins Meinung längst flügge zu sein, wie sie selbst, als sie in die Stadt gegangen war, um „Aktionärin“ zu werden. Was auch immer das damals für sie bedeutet haben mochte, denn zu diesem Zeitpunkt verstand sie von Aktien wohl nicht mehr als ein Tellerwäscher von der ersten Million.

Katrin hatte seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr Anzüge und Krawatten getragen. Sie war der Typ von Frau, der in die Männerwelt einbrach, um allen zu beweisen, dass Frauen die besseren Männer waren. Sie hatte sich Cilli auf der Ledercouch eines Managers andrehen lassen – als Preis für einen Posten in der Führungsetage, wie Harris immer noch argwöhnte. Sie war eine Rabenmutter gewesen und vielleicht bewahrte ihr spurloses Verschwinden Cilli sogar vor einer schwierigen Zukunft.

Harris

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