Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 46
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ОглавлениеLeere. Nach den hektischen ISAT-Tagen nun völlige Leere. Mit taubem Gefühl sitzt Hauptkommissar Vitus H. Benedict an seinem fast aufgeräumten Schreibtisch im >Weißen Haus<. Keine Feldbetten mehr. Nicht mehr O’Connells Pfeife. Nicht McGraths Geraunze. Und auch nicht die spöttischen Bemerkungen des unauffindbaren S.I.B.-Captains. Kein Funkgerät und kein nervtötendes Schrillen der Telefone. Was ist mit Liszt und Herrmann? Auch sie verschwunden. Aus ISAT II tragen Angestellte der Fotofirma die letzten Kartons mit den geliehenen Geräten hinaus.
Wohl zum zwanzigsten Mal spitzt Benedict an diesem Morgen den einzig verbliebenen Bleistift im Spitzer an. Er hat nur noch einen Stummel in der Hand.
Heute hätte der Tag sein sollen, der Höhepunkt der aufreibenden Arbeit der vergangenen Wochen. Aber statt auf Schloss Benrath dinieren Prinz Charles und Lady Diana im Münchner Prinz-Carl-Palais.
Ein interfraktioneller Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags wird sich mit der sogenannten >Nacht von Benrath< befassen. Schon gestern Abend wurde dieser Beschluss von allen Fraktionen auf einer Sondersitzung gefasst. Kein Wunder. Bei der schlechten Presse! Viel würde gefragt werden, und viel würde vertuscht werden müssen. Oder wie sollte man der sogenannten Öffentlichkeit erklären, dass die angeblich so gut ausgebildeten Spezialeinheiten ihre Schießausbildung am Flipperkasten gemacht haben müssen. Schließlich wird man kaum zugeben können, dass die überraschend zusammengezogenen Einsatzkräfte nur unzulänglich munitioniert am Einsatzort eingetroffen waren, dass die deshalb dort bereitgestellte Munition durch ein Versehen der Logistik aus Übungs- und Leuchtspurgeschossen bestanden hatte, dass die Polizeiführung Leute ohne Geländekenntnis bei Dunkelheit einen unsinnigen Auftrag durchführen ließ. Nachdem die ersten scharfen Runden aus dem Mannbestand hektisch verschossen worden waren, gab es also nur ein munteres Platzpatronengefecht, umrahmt von sinnlosen Leuchtspurgarben. Das alles sollte mal jemand versuchen, der Öffentlichkeit zu erklären.
Benedict schüttelt den Kopf. Man wird sich sehr viel Mühe geben müssen, nicht allzu entlarvende Begründungen zu präsentieren.
Sein immer noch leerer Blick geht hinüber zum Klotzbau des Präsidiums. Durch die aufgerissene Wolkendecke tauchen Sonnenstrahlen das riesig wirkende Gebäude in gleißendes Licht.
*
Wut. Enttäuschung. Trauer. Noch immer toben die Gefühle in ihrem Inneren. Wie in Trance hörten sie am Tag nach ihrer geglückten Flucht aus dem Park die Nachricht und hielten es kurzzeitig sogar für eine gerissene Finte. Aber dann beobachtete Sean Savage, wie die Sicherheitsvorkehrungen am Schloss abgebaut wurden. Da begriffen sie langsam, dass all ihr Einsatz umsonst gewesen war. Gestern Abend war im Fernsehen zu sehen, wie die beiden Objekte ihrer Planungen in München von einem dicken Ministerpräsidenten begrüßt wurden. Donahue spuckte voller Hass auf den Bildschirm. Ende. Alles vorbei.
Aus halbgeöffneten Augen beobachtet Mairead Farrell ihre beiden Kampfgefährten, die auf der rüttelnden Ladefläche neben ihr liegen. Sean und Daniel haben die Augen geschlossen. Ob sie wirklich schlafen? Oder geht es ihnen wie mir?
Im Halbdunkel des geschlossenen TIR-LKW richtet sie ihren Oberkörper auf und lehnt sich an die klappernde Seitenwand. Bald würden sie in Antwerpen sein. Von da aus ging es auf einem Frachter nach Eire und über die grüne Grenze. Aber dann ...
Wieder steigt ein heftiger Schmerz in ihr auf, würgt in ihrer trockenen Kehle. Also keine Trikolore auf ihrem Sarg, in den stolzen Farben grün-weiß-orange. Keine standing ovations auf dem nächsten Ard Fheis Congress von Sinn Féin für die mutige Heldin Farrell. Und auch kein hallender Salut von den Kameraden mit den dunkelgrünen Baretten - am Grab der gefallenen Märtyrerin Farrell.
Und alles nur wegen der jämmerlichen Angst eines englischen Prinzleins.
Dabei war bis zum bitteren Schluss noch fast alles planmäßig gelaufen, trotz des unverhofften Zusammentreffens mit diesem verfluchten Deutschen in der Kirche. Daran war nur ihre Schwester schuld, die sie im Urlaub unbedingt verkuppeln wollte, und ihre eigene, verborgene Sehnsucht nach ein wenig so lange entbehrter Zärtlichkeit. Auch an diesem Montag hatten sie es geschafft. Und am Ankunftstag hätten sich Daniel und Sean in den Uniformen der GSG rechtzeitig unter die verschiedenen Polizisten gemischt, so wie sie es schon erfolgreich während des Besuches von Mitterand in Benrath gemacht hatten. McCann hätte seine Position auf dem Baum eingenommen, die Savage unten bewacht und abgeschirmt hätte. Bei ihm wäre das Funkgerät für die Auslösung der Ladungen gewesen, obwohl das alles wahrscheinlich überflüssig gewesen wäre. Ihr eigener, tödlicher Einsatz war so sicher geplant, so sicher, wie die ganze Aktion schon bei der ersten Kenntnis vom Ablauf des Staatsbesuches geplant worden war. Die sicherste Möglichkeit hatten sie im Schloss selbst gesehen, während des Festessens. Aber da würden sich nur die bekannten, persönlich geladenen Ehrengäste aufhalten — und das Bedienungspersonal! Der Schläfer hatte nicht lange gebraucht, um jemanden zu finden, der für einhunderttausend Deutsche Mark seinen Seelenfrieden verkaufen würde. Diese Person, Kellner eines Düsseldorfer Hotels, war schon des öfteren bei derartigen Anlässen als Bedienung eingesetzt gewesen, bei denen sich die Bedienungsmannschaft aus zusammengewürfeltem Personal verschiedenster Hotels und Restaurants zusammensetzte. Ein Freizeitjob, nicht mal besonders bezahlt, 12 Mark die Stunde und die Ehre. Er gehörte mittlerweile schon zum Stammpersonal derartiger Festempfänge und wurde auch bei bestehender Personalknappheit um die Vermittlung anderer Kellner und Kellnerinnen gebeten. Ihm war es ein Leichtes, dem mit der Ausrichtung des Empfanges beauftragten Hotel Nikko eine Kellnerin zu empfehlen, die äußerliche Ähnlichkeit mit Mairead Farrell aufwies. Die Frau sagte zu, und der Kontaktkellner ließ sich von ihr den Personalausweis geben. Wegen der erforderlichen Sicherheitsüberprüfung, wie er der Frau sagte. Dafür hätte allerdings die mündliche Übermittlung ihrer Personaldaten ausgereicht, denn nur diese wurden beim BKA überprüft. Nach erfolgter Sicherheitsbestätigung werden normalerweise zwei Lichtbilder der betreffenden Person über das Hotel an das BKA weitergeleitet, wo ein Zugangsausweis angefertigt wird. Für diese Bilder, die dann ans BKA gingen, hatte sich Mairead Farrell nach dem Foto des Personalausweises der Kellnerin zurechtgemacht. Am Mittwochabend hätte der Kontaktkellner dann die Frau angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ihre Hilfe leider nicht mehr benötigt würde. Den Ausfall freilich bekäme sie erstattet, und ihren Ausweis brächte er ihr am nächsten Tag vorbei. Er selbst hätte am Donnerstagmorgen Krankheit vorgetäuscht, während Farrell sich am Sammelpunkt eingefunden und gegen Vorlage ihrer falschen Personaldokumente den Zugangsausweis erhalten hätte. Mit dem restlichen Personal wäre sie dann in dem Sammelbus nach Schloss Benrath gefahren. Wie der Kontaktkellner sagte, wurde die Kontrolle bei dem schon sicherheitsüberprüften Bedienungs- und Küchenpersonal äußerst nachlässig gehandhabt. Ohne Probleme hätte sie die an ihrem Körper befestigten Sprengladungen eingeschleust. Wie gut, dass sie ihrer Schwester manchmal aus Spaß im Restaurant ausgeholfen hatte. Jedenfalls wäre es ihr sicher gelungen, sehr dicht an die beiden Engländer heranzukommen, und dann hätte sie die Ladungen gezündet.
Auf einmal war alles vorbei. Statt des Fanals zum letzten Kampf nun vielleicht ein Disziplinargericht beim Belfaster Armeerat, hunderttausend Mark, die unwiederbringlich verloren sind, und keine neuen Balladen über den Heldentod der schönen Mairead aus Belfast.
Ein neuer Schluchzer bleibt ihr in der Kehle stecken, als es vorne an die Wand der Fahrerkabine klopft. »Antwerpen! Wir sind gleich am Hafen.«
*
Frustration. Ministerialdirektor Riechmann verklammert die Finger beider Hände ineinander und lässt die Gelenke knacken. Ein unangenehmes Geräusch für Mithörer. Aber Johann Riechmann sitzt an diesem Donnerstag allein in seinem Zweckbüro im Bundeskanzleramt.
Er fühlt sich düpiert. Seine Pläne haben nicht funktioniert. Man hat ihn aufs Kreuz gelegt, ihn, den alten Fuchs.
Zwei Stunden feilschten sie damals mit dem noch gerisseneren Philipps um diese verflixte Klausel der TWC-Bedingungen. Aber Philipps blieb knallhart. Die Bedingungen des Vertrages seien auch dann zu erfüllen, wenn der Vertragsgegenstand - die unbeschadete Rückkehr der Staatsbesucher - aus anderen Gründen erreicht wird als im Vermögen der beteiligten Vertragspartner liegende.
Ein solcher Fall würde jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten. Obwohl der Beschluss zur Aussparung des Düsseldorfer Besuches von der Bundesregierung selbst gekommen war, würde Dr. Rappertswyl am Montag die geforderte Summe auf das Nummernkonto zugunsten der nordirischen Terrororganisation einzahlen. Und auch an den zweiten Teil der Vertragsbedingungen waren sie gebunden. Eine einseitige Aufkündigung des Vertrages mag Riechmann gar nicht in Betracht ziehen. Die IRA und die TWC zu Feinden haben? Die Konsequenzen wären nicht auszudenken.
Es würde lange dauern, diese Schlappe wieder auszubügeln.
*
Ärger. Arvi Hattunen ist sauer. Einer der wenigen Aufträge, die er nicht erfolgreich abgewickelt hat. Es würde keine Job-Prämie für das Alert-Team geben. Sein Aktions-Report würde ihm sicherlich Minuspunkte im TWC-internen Bewertungssytem einbringen. Vielleicht sogar eine Neubewertung der Gehaltsberechnung zum Ende des Jahres. Ärgerlich.
Hattunens Job-Report würde auch im Zentralrechner der TWC Inc. in Connecticut gecheckt und zu den Akten genommen werden. Sollte es zu irgendwelchen Auffälligkeiten, Unregelmäßigkeiten oder sonstigen Anomalien während des Einsatzes gekommen sein, würde der Rechner sie feststellen, codieren und mit einer geheimen Prioritätskennung versehen. Und mit jeder erneuten Auffälligkeit rutscht der Vorgang im Datenregister eine Prioritätsstufe höher. Liegt dann irgendwann eine Überschreitung der zulässigen Auffälligkeitstoleranzen vor, landet die Akte automatisch auf dem Tisch des Security Supervisors. Der entscheidet, ob die Sache weiterverfolgt werden soll. Ab einer bestimmten Priorität geht der Fall ohne Verzögerung auf den Schreibtisch von Adrian Simmons, Präsident der TWC Inc. in New York. Aber so weit ist es noch nicht. Der Name Vitus H. Benedict wird im November dieses Jahres seine zweite Prioritätskennung erhalten.
*
Am Nachmittag sitzt Benedict hinter seinem Schreibtisch im zweiten Stock des Präsidiums am Jürgensplatz. Alles ist ungewohnt und wieder neu. Lustlos liest er sich durch einige neue Anweisungen des Polizeipräsidenten.
Um 15 Uhr hat er die Nase voll.
Zusammen mit Ganser fährt er ins Benrather Krankenhaus, um die verletzte Kollegin zu besuchen. Als sie in Gansers rotem Sportflitzer am Schloss vorbeifahren, sieht der Kriminalhauptmeister diskret auf die andere Seite.
Maria Leiden-Oster geht es augenscheinlich besser. Der Kopfverband hat einem großen Kinnpflaster Platz gemacht. Sie kann bereits wieder richtig sprechen, wenn auch noch ziemlich leise und wegen der fehlenden Zähne mit leichtem Lispeln.
Nach den üblichen Besuchsverlegenheiten kommt die Kommissarin schnell zur Sache. Viel Zeit habe sie gehabt zum Nachdenken in den letzten Tagen. Über ihr Verhalten und so weiter. »Ich möchte Sie als erste von meiner Entscheidung in Kenntnis setzen, den Polizeidienst zu quittieren! Sofort nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus!«
Da muss sich Gernot Ganser erst mal hinsetzen. Der Hauptkommissar schluckt sichtbar, bleibt aber wie angewurzelt im Zimmer stehen. Lange Zeit ist es still in dem hellen Raum. Dann durchbricht Benedict endlich die lastende Stille: »So einfach ist das nicht, Kollegin. Kannst du uns mal ein paar Minuten allein lassen, Gernot? Bitte!«
Widerspruchslos verlässt der angehende Kommissar den Raum.
Die Minuten werden für den draußen Wartenden zu einer endlosen Zeit. Nach einer dreiviertel Stunde öffnet sich die Tür, und der zögernd Eintretende blickt in zwei Gesichter, die von großer Nachdenklichkeit gezeichnet sind.
Über den Inhalt des Krankenhausgespräches zwischen Kommissar Leiden-Oster und Hauptkommissar Benedict wird keine Menschenseele je etwas erfahren.
*
Festbeleuchtungen spannen sich seit einem Monat schon über Altstadt, Schadowstraße und Königsallee. Die Natur spielt auch mit: Kurz nach vier knipst die Sonne ihr bleiches Winterlicht aus.
Hoffentlich schneit es wenigstens diesmal an Weihnachten, denkt Benedict hoffnungsvoll. Einen schönen Iceberg-Pullover würde er sich unter den von Lore geschmückten Baum legen. Er hat da einen auf der Kö gesehen mit Sherlock Holmes vorne auf der Brust. Bloß nicht wieder dieses deutsche Regengepladdere und >Süßer die Glocken nie klingen !<
Kommissar Doemges singt. Benedict kann ihn durch die nur angelehnte Tür des Nebenzimmers hören. »Küss die Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau!« Es ist ja nicht direkt ein Weihnachtslied, aber auch Ausdruck der Freude. »Tirili, Tirila, Tirilo-hooo!« schallt es laut und falsch von nebenan.
Der Hauptkommissar steht von seinem Schreibtisch auf und zieht die Tür fest zu. Der hat gut singen, fliegt in zwei Tagen nach Fuerteventura. Auch ein Weihnachten. Mein Gott, Fuerte! Was wohl der Comisario macht? Ob seine alte Zauberin immer noch lebt?
Er würde, wie üblich, hier Junggesellen-Weihnachten feiern und vielleicht im Januar für eine Woche nach Langeoog fahren, um sich von der steifen Seebrise die letzten drei Monate aus den müden Knochen blasen zu lassen.
O’Connell und McGrath sitzen schon lange wieder in ihren Büros an Phoenix Park und Brooklyn Knock. Jerry Hart ist seit dem lächerlichen Nachtscharmützel im Benrather Schloss mit seinem Wohnwagen verschwunden. Bei seiner Dienststelle im Rhine Center am Nordpark gibt man auch auf Benedicts wiederholte Anfragen keine Auskunft.
Das >Weiße Haus< beherbergt wieder ganz normale Dienststellen der Kripo. Der Dank des Polizeipräsidenten war spärlich ausgefallen. »Na, jetzt wird wieder richtig gearbeitet, Benedict!« oder so ähnlich.
Die Leiterin des Benrather Schlossmuseums ist inzwischen wieder glücklich. Ein Bote lieferte vor 14 Tagen eine Kiste bei ihr ab, in der die aufgeregte Professorin inmitten polsternder Holzwolle das unversehrte Original ihrer Joly-et-Roy-Kaminuhr fand. Wenigstens ein letzter Rest Kulturrespekt, dachte Benedict, sie hätten die Uhr ja auch genauso gut auf den Müll schmeißen können.
Kriminalhauptmeister Ganser drückt seit fünf Wochen erneut die harten Bänke des Duisburger KD-Lehrgangs und büffelt kriminalistische Theorie.
Die weitere Vernehmung des festgenommenen Michael Helbig war für die Beamten des 1. K keine Quelle wahrer Freude. Helbig befand sich offenbar in einem hochgradigen Verwirrungszustand, redete von Siegen über schmutzige Feinde, Rache für verspottete Brüder und Kämpfen gegen drohende Stimmen. So telefonierte der Hauptkommissar nach einem Nervenspezialisten, der den vor sich hin murmelnden Helbig erst mal mit einer Spritze ruhigstellte und dann seine Einweisung in das Landeskrankenhaus in Grafenberg verfügte. Dort hält Helbig sich noch immer auf, und vor einer Woche hat Benedict einen Bericht der behandelnden Ärzte auf dem Tisch gehabt. Danach war es zweifelhaft, ob dieser kranke Mensch jemals wegen seiner Verbrechen - immerhin auch ein Mord und ein Mordversuch - von einem ordentlichen Gericht verurteilt würde. Benedict las das Krankenblatt eines Immer-noch-Kindes. Aufgewachsen ohne männliche Bezugsperson. Der Kindsvater verlässt die Mutter noch vor Michaels Geburt wegen einer anderen Frau. Michael wächst mit dem von der Mutter ständig genährten Negativbild fremder Frauen auf. Die Mutter wird zur einzig gültigen, allgegenwärtigen Autorität für den kleinen Michael. Die Psychologen des Landeskrankenhauses haben ein weiteres Trauma des Patienten Michael Helbig aufdecken können. Erste sexuelle Erfahrungen bekam der Junge wohl von seiner Mutter vermittelt. Gegen Erfahrungen mit anderen Frauen schirmte sie ihn bis zum Beginn seines Informatik-Studiums in Berlin konsequent ab. Dort nehmen die Dinge einen für die Mutter unerwarteten und gefährlichen Verlauf. Michael hat ein erstes sexuelles Abenteuer mit einer zwei Jahre älteren Studienkollegin. Wahrscheinlich gibt die räumliche Distanz zur Mutter dem jungen Helbig die Kraft dazu. Die Situation eskaliert, als Helbig das Mädchen, Brigitte Craatz, noch in Berlin heiratet, ohne Einwilligung der Mutter, die die nunmehrige Ehefrau ihres Sohnes mit Hasstiraden verfolgt. Sie kommt einmal im Monat nach Berlin und macht ihrem Sohn die Hölle heiß, lässt kein gutes Haar an der Ehefrau, droht, bettelt, weint, sät ständig neues Misstrauen. Michael Helbig, hin- und hergerissen zwischen der Bindung an die Mutter und schwacher Loyalität zur neuen Partnerin, hat Schwierigkeiten im Bett. Brigitte Helbig fühlt, dass sie bei dem Tauziehen als Verliererin auf der Strecke bleiben wird, und nimmt Zuflucht zu Spott und Zynismus gegenüber ihrem in jeder Beziehung unfähigen Ehemann. Schließlich nähert sich der Kampf einem Ende. Die Mutter greift zur letzten Waffe, produziert eine Herzkrankheit. So erzwingt sie den Umzug des Sohnes zurück nach Düsseldorf. Aus welchen Gründen Brigitte Helbig diesen Umzug noch mitgemacht hat, wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen. In Düsseldorf jedenfalls, wo die Mutter wieder die totale Kontrolle über ihr Kind hat, kommen das endgültige Zerwürfnis und die Scheidung. Danach arbeitet Michael Helbig noch für einen Monat als Programmierer. Dann kündigt der »unheimliche Eigenbrötler«, wie ihn eine frühere Arbeitskollegin bezeichnet hat, und beschäftigt sich mit seinem Computer in der Gartenlaube, die er sich eingerichtet hat. Dort, in der völligen Isolation, nur in Verbindung mit einem Bildschirm und zwei Ratten, müssen in Michael Helbig jene Entwicklungen stattgefunden haben, die letztlich zu seinen Taten geführt haben.
So sieht jedenfalls die Deutung der Psychologen nach vielen Gesprächen mit Mutter und Sohn Helbig aus. Der Bericht der Psychologen spricht von Gefühlen der Wertlosigkeit und mangelnder Selbstachtung, von einem durch Unsicherheit geformten negativen Selbstbild, von fehlender Kontrolle über das eigene Leben. Er diagnostiziert ein Frauenbild, welches auf Ausbeutung, Misstrauen und Feindseligkeit beruhe. Aufgrund des am eigenen Körper erfahrenen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit empfand der Patient möglicherweise Sexualität allgemein als Mittel von Kontrolle und Manipulation gegen den eigenen Willen. Ejakulation und sexuelle Befriedigung waren für ihn nur aus der Entladung von Wut und dem Ausleben von Machtgefühlen über seine weiblichen Opfer möglich.
Sicher würde das auf lebenslange Sicherungsverwahrung hinauslaufen. Und die Mutter? Vielleicht würde man sie wegen falscher Aussage noch belangen. Aber würde sie jemals in ihrem Leben zur Einsicht einer Mitschuld an den Verbrechen ihres Sohnes gelangen? Würde sie erkennen, welchen Anteil sie an dem Leid hat, das ihr Sohn anderen Menschen zugefügt hat? Und nicht zuletzt sich selbst!
*
Nach Weihnachten würde Kommissarin Leiden-Oster, er kommt mit diesem Doppelnamen immer noch nicht zurecht, wieder an ihren Schreibtisch im 1. K zurückkehren. Er hat ihr bis dahin Zeit gegeben, diese Geschichte mit der von ihr gegründeten Gruppe Düsseldorfer Frauenkampf zu bereinigen. »Auf dem kleinen Dienstweg!«, hatte er ihr im Benrather Krankenhaus halb scherzhaft gesagt.
Sie würden sich alle bemühen müssen, nicht die gleichen Fehler zu wiederholen.
Die Kollegen. Maria Leiden-Oster. Er selbst.
Hauptkommissar Benedict schüttelt den Kopf. Mit einem säuerlichen Geschmack im Mund starrt er auf die vor ihm stehende Flasche Mineralwasser. Heute morgen ist er nach zwei Jahren erstmals wieder auf die Badezimmerwaage gestiegen. Eine Mutprobe!
Aus dem nicht richtig zugedrehten Schraubverschluss des kalorienfreien Gesundbrunnens entweicht zischend Kohlensäure. Verstohlen horcht er nach nebenan - und macht sich dann in einem erleichternden Rülpser Luft.
Fastenzeit.