Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 61
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Оглавление„Na, haben Sie am Wochenende schon was vor? Sonst könnten Sie mit zu uns nach Rauchfangswerder kommen. Ich hab da so ’ne kleine Klitsche geerbt!“
Fast bekommt Benedict eine Kiefersperre, als der MUK-Leiter ihn am Freitagmittag in der Normannenstraße anruft. So was hätte er vielleicht von Engel erwartet, aber bestimmt nicht von dem verkniffenen Meißner. Aber, warum denn nicht? Sicher besser als in dieser volkseigenen Jugendherberge rumzuhängen. Also akzeptiert er das überraschende Angebot des Kollegen, der ihn wenig später mit seinem Lada in der Ruschestraße erwartet.
„Ich fahr Sie schnell am VP-Heim vorbei. Da können Sie sich umziehen und ... ja ich soll Ihnen von meiner Frau noch ausrichten, wenn Sie schmutzige Wäsche haben, bringen Sie die doch mit. Sie macht Ihnen das übers Wochenende fertig!“
Immer noch verblüfft über die plötzliche Gastfreundschaft des Ost-Kriminalen, ramscht er dann ein paar Jeans und T-Shirts in seinem Zimmer zusammen, während Meißner draußen im Wagen wartet. Nach einigem Zögern klemmt er sich dann doch den Beutel Schmutzwäsche untern Arm.
„Wohnen Sie nicht auch hier irgendwo in der Nähe?“, fragt er dann in der Annahme, dass sie Meißners Frau noch zu Hause abholen müssten.
„Gleich um die Ecke“, antwortet der mit einer vagen Handbewegung, „aber wir können direkt
raus fahren. Meine Frau und meine Tochter sind schon da!“
„Sie haben eine Tochter? Wie alt ist die denn?“
„Sechzehn. Geht noch zur Schule. Und Sie? Haben Sie Kinder?“
„Hm, hm“, verneint Benedict kopfschüttelnd, und damit hat sich der Gesprächsstoff vorerst für eine Weile erschöpft.
„Welche Richtung liegt das eigentlich, dieses Rauchfangwerder?“
„Rauchfangswerder! Mit s dazwischen. Richtung Grünau, wenn Ihnen das was sagt.“
„Können Sie da vorne halten?“
„Wo halten?“
„Da bei dem Blumenstand!“
Als Benedict nach einer Weile mit einem Blumenstrauß zurückkommt, schüttelt Meißner nur den Kopf. „Das Geld hätten Sie sich sparen können. Wir haben genug Blumen im Garten.“
Meißners Lada rattert auf einer vierspurigen Ausfallstraße am S-Bahnhof Grünau vorbei. Keine Plattenbauten, keine Mietsblöcke mehr. Benedict genießt den Anblick märkischer Kiefern links und rechts der Straße. Er versucht, das Seitenfenster runter zu kurbeln, aber die Mechanik scheint überdreht, und er belässt es bei dem Versuch.
„Da drüben wohnt auch Stefan Heym. Falls Ihnen der Name was sagt!“
Falls Benedict gekränkt ist, lässt er sich das jedenfalls nicht anmerken. Heyms „Kreuzfahrer“ waren ihm im Bücherschrank seiner Eltern in die Hände gefallen. Ein spannender Roman, der ihm den ersten Zugang zu deutscher Gegenwartsliteratur eröffnet hatte. Da war er so um die zwölf gewesen. Später, im Westen dann, hatte er den weiteren Weg des störrischen Schreibers immer mit Aufmerksamkeit verfolgt.
„Ja. Der Name sagt mir was“, erwidert er, aber seine leisen Worte dringen wohl nicht an die Ohren Meißners, denn der zeigt keinerlei Reaktion.
Schließlich überqueren sie eine Brücke. Links und rechts tauchen glitzernde Wasserflächen auf. Ein überfülltes Ausflugslokal. Hinter einem Campingplatz biegt Meißner dann rechts in den Kiefernwald ab. In einem villenartigen Wohngebiet halten sie vor einem alten Einfamilienhaus. Als Benedict aus dem Wagen steigt, riecht er Kiefernduft und Schilfmoder, und die plötzliche Stille macht jetzt auch lautes Vogelgezwitscher hörbar.
„Herzlich Willkommen in der Sommerfrische!“, begrüßt ihn Ingeborg Meißner in der Eingangstür. Als Benedict hinter seinem Rücken den Blumenstrauß hervorzaubert, nimmt sie diesen fast verlegen entgegen. „Da freue ich mich aber!“, sagt sie ein wenig errötend und verschwindet gleich im Haus, um die Blumen zu versorgen. So ganz scheint Meißner seine Frau doch nicht zu kennen.
„Ich zeige Ihnen, wo Sie schlafen können“, murmelt der und geht voran in den ersten Stock des alten Häuschens. „Wenn Sie Ihre Sachen untergebracht haben, treffen wir uns unten im Garten. Zum Kaffeetrinken.“
Benedict öffnet das Fenster des kleinen Gästezimmers und atmet tief durch. Hinter dem Haus eine kleine Wiese mit einem gedeckten Kaffeetisch und gleich dahinter spiegelnde Wasserfläche. Das gegenüberliegende Ufer ist vielleicht dreihundert Meter entfernt. Auch dort scheinen Häuser zu stehen. Es ist schön hier. Kaum zu glauben, dass er vor wenigen Stunden noch im Schatten der Normannentürme stand.
Als sie später bei Pflaumenkuchen und Wespen am Kaffeetisch sitzen, taucht auch Meißners Tochter Diana auf. Höflich, aber den Blick abwendend, gibt sie ihm die Hand und beteiligt sich danach nur an der Unterhaltung, wenn sie gefragt wird.
„Also, Frau Meißner, Ihr Pflaumenkuchen, einfach super! Sie haben es überhaupt traumhaft hier draußen. So ein schönes, altes Haus! Das es so was noch gibt!“
„Nehmen Sie doch noch ein Stück, wenn’s Ihnen schmeckt!"
„Sicher. Das Häuschen ist ganz hübsch. Aber wenn Sie die Villa von Dean Sanger sehen ... ganz anderes Kaliber. Ist hier ganz in der Nähe. Wohnt jetzt nur noch seine Frau mit ihrem Sohn drin.“
„Oh, Entschuldigung!“
Vor Überraschung fällt Benedict die gefüllte Kuchengabel in die Kaffeetasse. Braune Flecke bedecken die weiße Tischdecke an seinem Platz, und er bemüht sich verlegen, das Malheur mit seinem Taschentuch rückgängig zu machen.
„Lassen Sie mal sein. Das wasche ich gleich... zusammen mit Ihren Sachen.“
Natürlich. Das war’s. Irgendwoher war ihm doch der Ortsname bekannt gewesen. Rauchfangswerder. Hatte er doch in Raschkes Berichten über Dean Sanger gelesen. Immer wieder. dass er da nicht gleich stutzig geworden war. Nur deshalb diese Einladung?
„Haben Sie das nicht gewusst?“ Meißners Blick über den Kaffeetisch hinweg drückt so etwas wie spöttische Verwunderung aus. „Ingeborg wird Ihnen ’ne Menge über Dean Sanger erzählen können, nu, Inge?“
„Na ja, hab halt über Amiga viel mit ihm zu tun gehabt.“
„Amiga?“
„Nu, unser DDR-Plattenlabel. Da haben wir halt seine Songs und Lieder produziert. Auch mit den tschechoslowakischen Freunden zusammen.“
„Meine Mutter ist in der Produktionsabteilung von Amiga beschäftigt. Aber wohl nicht mehr lange!“
„Ach, halt du doch den Mund!“, fährt Ingeborg Meißner ihrer Tochter heftig über den Mund. Die schürzt schnutig die Lippen und rührt mit der Kuchengabel trotzig auf ihrem Teller rum.
Ihre Mutter fährt unbeirrt fort: „Jedenfalls haben wir Dean sehr gemocht. Er war in der ganzen Republik beliebt... mit seinem Engagement für den Frieden ... und seiner offenen Art. Er war halt so ganz anders als unsere Leute. Ein richtiger Sunnyboy, eben!“
„Ja,ja. Und singen konnte er auch nicht!“
„Also, Diana! Jetzt ist aber Schluss!“, meldet sich Meißner zur Verteidigung seiner Frau, aber das klingt reichlich lahm und halbherzig.
„Lasst mal gut sein. Jeder hat eben seine Meinung. Und für uns war Dean eben das Größte. Haben Sie mal was von ihm gehört? Ich hab noch ein paar Aufnahmen von ihm da!“
„Muss das sein, Mutti?“, nölt die Tochter von der anderen Seite des Tisches, und der MUK-Kommissar, als ginge ihn das Gespräch überhaupt nichts mehr an, starrt angelegentlich zum Seeufer hinüber.
„Ich würde das gerne hören“, sagt Benedict, und das entspricht der Wahrheit.
Während Diana sich um das Kaffeegeschirr kümmert, begibt sich Meißner zum Bootssteg ans Seeufer, und der Düsseldorfer sitzt mit dessen Frau und ihrer umfangreichen Plattensammlung schließlich allein im Wohnzimmer vor der Stereoanlage. Das erste Mal sieht er das Gesicht des Amerikaners, den er bisher nur aus Raschkes MfS-Berichten kennt. Hübsche, weiche Gesichtszüge. Irgendwie kommen ihm die Worte sanft und lieblich in den Sinn, obwohl der junge Mann auf den meisten Plattencovers als männlich-harter Cowboy posiert. Dean Sanger. Das Gesicht umrahmt von einer halblangen Haarpracht, die ihn zu jener Zeit in der DDR zusätzlich zu einem Exoten gestempelt hätte. Wäre er nicht schon einer von sich aus gewesen. Denver, Colorado. Welten lagen zwischen diesem Nest in Ost-Berlin und den Rocky Mountains.
„Und ... wie finden Sie ihn?“
Die Frage richtet Ingeborg Meißner ein Dutzend Platten später an ihn, und er beantwortet sie zögernd mit ausweichender Höflichkeit. „Ich kenne mich da nicht so gut aus mit. Hier war er ja wohl ganz erfolgreich.“
„Dean war für uns der Bote einer anderen, sonst verbotenen Welt. Er verkörperte all das, was wir nicht hatten. Offenheit, Freundlichkeit, Spontaneität, Weitläufigkeit... er brachte so etwas wie Glamour in unseren sozialistischen Alltag. Der Duft der großen, weiten Welt!“
Benedict lässt sich nichts von seiner Skepsis anmerken. Die Aufnahmen, die er soeben über sich ergehen ließ, siedelt er für seinen Geschmack irgendwo zwischen American Kitsch & Schmalz, Gus Backus und Burg Waldeckscher Klampfenromantik an. Er war nicht direkt schlecht, nein. Mit guter Promotion, besserer Aufnahmetechnik und exzellenten Background-Bands hätte Dean Sanger sich auf dem westdeutschen Schlagermarkt eine Villa mit Swimmingpool in Miami zusammen singen können. So gut wie Howie war er allemal. Zumindest was die Gesangskünste betraf. Aber Dean Sanger war eben nicht nach West-Deutschland gegangen, sondern in die DDR, hatte nicht die Villa in Miami gewählt, sondern ein Haus in Rauchfangswerder. Was um alles in der Welt hatte den netten Hübschling mit der kleinen Singstimme dazu getrieben? Und was war mit seinem merkwürdigen Tod durch Ertrinken im Juni 1986, dessen nähere Umstände für Benedict immer noch im dunkeln lagen?
Durch seine Gastgeberfamilie schien nach Benedicts Beobachtung, was die Person des Dean Sanger betrifft, ein eigenartiger Riss zu gehen. Des MUK-Leiters Haltung mochte dabei auch von einer gewissen, nachträglichen Eifersucht geprägt sein. Die unverhohlene Bewunderung, die sich immer noch in den glänzenden Augen seiner Frau bemerkbar machte, quittiert Meißner beim Abendessen mit kurzen und bissigen Bemerkungen. Gegen zehn verlassen sie auf der Flucht vor den angriffslustigen Mückenschwärmen die Wiese vor dem Haus, und Benedict verabschiedet sich mit einer Flasche Bier schläfrig auf sein Zimmer.
Gerade hat er sich erleichtert die Schuhe von den geschwollenen Füßen gepellt, als ein leises Klopfen an der Tür seine Vorbereitungen zur Nacht unterbricht. Erstaunt öffnet er die Tür.
„Ich hoffe, Sie schlafen noch nicht?“
Diana Meißner, die ihr Zimmer auch im ersten Stock hat, steht unsicher im Türrahmen. In der Hand hält sie ein Buch.
„Nein, sicher nicht. Kommen Sie ... komm doch rein.“
„Ich weiß ja nicht, warum Sie sich so für Dean Sanger interessieren, aber er hat mir mal ein Buch über sich geschenkt. Wenn Sie das haben wollen ... sogar mit Widmung!“
Sie hält ihm das dünne Bändchen mit Dean Sangers Foto auf dem blauen Einband entgegen und bleibt dann abwartend neben dem Türrahmen stehen. Zum Setzen kann er sie schlecht auffordern, denn außer dem schmalen Gästebett gibt es keine Sitzgelegenheit in dem kargen Zimmer. Also blätterter im Stehen das Büchlein mit dem Titel „Aus meinem Leben“ durch.
„Für Diana, alles Gute! Dean Sanger“, liest er laut.
„Das bin ich!“, sagt sie, und tatsächlich klingt aus ihrer Stimme so etwas wie Stolz.
„Also findest du ihn doch ganz gut, oder?“
„Na ja, früher mal. Als ich noch klein war“, windet sie sich ein bisschen.
„Aha ...“, versucht Benedict seinen Spott zu unterdrücken.
„Dean Sanger war mehr was für ältere Leute wie meine Eltern, die Oktoberclub-Generation. Wir standen mehr auf echtem West-Rock oder DDR-Bands wie City, Silly oder Karat. Vielleicht auch noch die Puhdys oder Nina Hagen.“
„Und warum?“
„Der Dean Sanger hatte doch nicht so viel drauf. Texte und Musik, meine ich. Und außerdem war der immer so ... politisch und lieb Kind bei den Parteioberen. Nö, Dean Sangers Gesülze war nicht mehr unser Ding!“
Am folgenden Sonntag, von ungewohnt lautem Vogelgezwitscher früh geweckt, nutzt Benedict die morgendliche Stunde zu einem ausgiebigen Spaziergang durch Rauchfangswerder. Die Anschrift von Dean Sanger aus den MfS-Akten hatte er sich mit einiger Anstrengung vor Augen gerufen, und nach kurzem Suchen steht er vor dem Anwesen am Schmöckwitzer Damm. Eigentlich weiß er gar nicht genau, warum er diesen Ort aufsucht. Schließlich kann er da nicht einfach reingehen und mit Sangers Witwe ein morgendliches Pläuschchen veranstalten. Worüber auch? Aber wenigstens hat er sich einen Eindruck von den Lebensumständen des Sängers verschafft. Weiß jetzt, an welchem Ort Raschke den Amerikaner zur Mitarbeit gewonnen hat. Und die Witwe würde sowieso mit Vorsicht zu genießen sein, denn immerhin war sie ja nicht so ganz uneingeweiht gewesen.
„Nu, ’n bisschen umgesehen?“, begrüßt ihn Meißner am Frühstückstisch mit Misstrauen in der Stimme.
„Ja. Herrliche Gegend hier!“
„Haben Sie Lust zu einer kleinen Spazierfahrt?“, fragt ihn Herbert Meißner, als sie das Frühstück beendet haben.
„Bei dem schönen Wetter?“
„Ist vielleicht zu weit zum Laufen, aber wenn Sie nicht wollen ..."
Nach kurzer Fahrt halten sie vor einem kleinen, stillen Friedhof, und Meißner führt den West-Polizisten wortlos zu einer Grabstelle mit einem fast unbearbeitet wirkenden Findling. Grobe Steinmetzwerkzeuge haben ihn mit einer Inschrift versehen. Dean Sanger 22.9.1938 -12.6.1986.
Hier also liegt er begraben. Ein richtiger Friedhof. Das leichte Rauschen der Kiefernkronen unterstreicht nur noch die Ruhe der Anlage. Einen weiten Weg ist er gegangen. Von den Ausläufern der Rockies bis zu den märkischen Sanddünen.
„Es gibt da so eine Geschichte zu diesem Grabstein ..."
„Ja?“
„Angeblich hat seine Frau panische Angst davor gehabt, dass er sie in Richtung Amerika verlassen wollte. Um sie zu beruhigen, hat er vor seiner letzten USA-Reise dieses Grab und diesen Grabstein gekauft. Da war sein Todesdatum aber wohl noch nicht drauf“, kann sich Meißner den Sarkasmus nicht verkneifen.
„Hat wohl nicht nur seine Frau davor Angst gehabt!“
„Wieso?“
„Raschke hat in seinen Berichten über Sanger sehr oft betont, dass dieser keinesfalls beabsichtige, der DDR den Rücken zu kehren. Für meinen Geschmack etwas zu oft. Klang ein bisschen so, wie das berühmte Pfeifen im Wald!“
„Kann ich mir gar nicht vorstellen. Dem ging’s doch nun wirklich gut bei uns. Können wir weiter?“ Später lenkt Meißner den Lada auf einen engen Forstweg und hält erst, als sie schon Wasser durch die Bäume blinken sehen. Wenige Meter gehen sie noch zu Fuß, bevor sie den Wald verlassen und am Rande eines flachen, verschilften Seeufers stehen. Nicht weit entfernt ragt ein Wasserrettungsturm auf. Da drüben, zeigt Meißner in die Anfahrtrichtung, liegt Rauchfangswerder, und dahinten Schmöckwitz. An dieser Stelle hat man Dean Sanger damals gefunden.
Bevor Benedict den Ort länger auf sich wirken lassen kann, wendet sich der MUK-Leiter unvermittelt ab und geht mit eiligen Schritten zurück in den Wald. Suchend springt sein Blick zwischen den Kiefernbäumen hin und her. Schließlich weist er auf einen etwas freieren Platz. „Da stand sein Wagen. Auch ein Lada. Beschädigungen an der vorderen Stoßstange. Muss wie ein Irrer zwischen den Bäumen durch gebrettert sein. Na, kein Wunder. Bei dem Zustand.“
„Woher wissen Sie das alles?“
„Der Vorgang landete damals sofort bei uns, bei der K. Gleich nachdem die Wasserschutzpolizei Sangers Leiche gefunden hatte.“
„Also, Sie haben die kriminalpolizeilichen Ermittlungen in der Todessache Sanger geführt? Und das sagen Sie mir erst jetzt!“
„Nu hören Sie mir bitte mal zu, Kollege Benedict! Ich habe den Auftrag, Sie bei der Klärung des Sachverhaltes Raschke, alias Fuchs, zu unterstützen. Von Ermittlungen in der Sache Sanger ist nie die Rede gewesen. Die Auskünfte, die ich Ihnen an diesem Wochenende gebe, sind ein reiner... Freundschaftsdienst, und nichts weiter. Ich glaube nicht, dass Ihre und meine Vorgesetzten darüber sehr glücklich wären. Schließlich ist der Fall schon lange abgeschlossen. So viel ist ja mal Fakt!“
Auf dem Rückweg macht Meißner einen kleinen Umweg, und es gelingt ihnen tatsächlich, zwei freie Plätze in dem Schmöckwitzer Ausflugslokal zu ergattern.
Als sie dann bei einem freundlichen Hellen an einem der Gartentische in der „Palme“ sitzen, scheint sich auch der Ost-Kriminale so weit beruhigt zu haben, dass Benedict wagen kann, ihn in den Hintergrund seiner Sanger-Neugier einzuweihen.
„Das sind doch reine Hirngespinste von Sangers Tochter in Amerika. Wir konnten jedenfalls damals keinerlei Fremdverschulden feststellen. Der ist ertrunken. Haben unsere Ermittlungen einwandfrei ergeben.“
„Und Ihre Leute von der MUK waren damals auch als erste am Fundort der Leiche? Ich meine, nachdem die Wasserschutzpolizei ihn geborgen hatte?“
„Na ja, nicht direkt“, druckst Meißner etwas herum, „die Genossen von der Firma waren schon vorher da. Aber das war ganz natürlich. Nachdem Sanger von seiner Frau als vermisst gemeldet worden war, sind die selbstverständlich sofort eingeschaltet worden und haben da mit der Wasserschutzpolizei zusammen im Schilf rum gestochert. Einen Dean Sanger lässt man schließlich nicht so einfach verschwinden!“
„Also waren Sie erst nach den MfS-Leuten bei der Leiche?“
„Mensch, Benedict“, reagiert der MUK-Leiter ziemlich genervt, „wir von der K haben uns von denen auch kein X für ein U vormachen lassen. Sicher, offiziell hätten wir deren Version über Tathergänge niemals anzweifeln dürfen. Aber wir hatten auch unseren beruflichen Stolz. Manche Nachermittlungen haben wir da nur für uns selbst geführt. Um die Brüder bei Fehlern oder Vertuschungen zu erwischen. Nicht, um es ihnen nachzuweisen, sondern aus kriminalpolizeilichem Ehrgeiz. Aber dieser Fall war meines Wissens dann sogar andersrum: die haben unsere Untersuchungsergebnisse nochmals nachermittelt. Wollten ganz sicher gehen, dass da nicht doch was war. Nee, die Sache war unserer Meinung nach wasserdicht. Im wahrsten Sinne des Wortes!“, macht Meißner den Versuch eines abschließenden Scherzes.
Nicht ganz überzeugt fischt Benedict mit dem Finger eine Fliege aus dem halbleeren Bierglas und wechselt dann das Thema.
„Nehmen Sie mir meine Neugier bitte nicht übel, aber es beschäftigt mich schon die ganze Zeit: warum hat der Engel Sie eigentlich einen „Kriegsgewinnler“ genannt?“
Augenblicklich schieben sich Meißners Gesichtszüge wieder zusammen, aber bevor Benedict die Frage zurücknehmen kann, öffnen sich seine Lippen doch zu einer Antwort.
„Ach, das ist so ’ne typische Wendegeschichte bei uns. Bin erst vor kurzem zum Leiter der MUK befördert worden. Wäre an sich noch lange nicht dran gewesen, aber ... mein Vorgänger war der Klaus Mündermann, Sohn von dem ZK-Mündermann. Der musste ,freiwillig' zurücktreten. Hat auch mit draußen in Wandlitz gewohnt. Und das alles ist ja in diesen Zeiten nu keine besonders gute Empfehlung mehr. War kein schlechter Kriminalist, aber ... jedenfalls bin ich über Nacht sein Nachfolger geworden. Das meinte der Engel. Findet der wohl witzig.“ Spätabends dann fahren sie gemeinsam zurück in die Stadt, und vor dem VP-Heim steigt Meißner sogar noch mit aus dem Wagen.
„Ich hoffe, dass es Ihnen bei uns gefallen hat.“
„Es war ein gutes Wochenende. Sehr ... aufschlussreich. Nochmals, vielen Dank für alles. Auch für die Wäsche!“, ruft er Meißners Frau im Wagenfonds zu.
„Was ich Ihnen noch sagen wollte, Kollege Benedict. Ich weiß, Sie finden den Oberleutnant Engel ja besonders nett. Nicht dass Sie mich falsch verstehen, wir sind schon lange Kollegen, aber seien Sie mit ihm ein bisschen vorsichtig. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, gute Nacht!“
Nachdenklich blickt der Hauptkommissar den Rücklichtern des Meißnerschen Ladas nach, bis dieser um die Ecke verschwindet. Als er die Eingangstür des VP-Heims öffnet, wendet er sich noch einmal zurück und lässt den Blick prüfend über die am Straßenrand geparkten Fahrzeuge schweifen. Als ihm nichts weiter auffällt, zuckt er mit den Achseln und betritt die Eingangshalle des VP-Gäste-heims.