Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 57
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Оглавление„Ach ..., du ...“
In ihrer Stimme liegt die Enttäuschung verpasster Gelegenheiten. Verbitterung hat sich in senkrechten Falten an den Mundwinkeln eingegraben. Keine verschmitzten Sprenkel mehr in den grauen Augen über der schabernackigen Stupsnase, die er mal so geliebt hatte.
„Komm ruhig rein“, weht ihm ihre Stimme nach einer Weile kühl entgegen, „du müsstest dich ja an sich noch auskennen.“
Es hat sich fast nichts geändert. Alles ist noch beinahe wie damals. Sogar seine Geschenke, die Uhr, der japanische Fernseher und all der westliche Schnickschnack, den sie so liebte, alles noch am selben Platz.
Sie brüht den Kaffee, und er sitzt im gleichen Sessel, von dem aus man auf den Hinterhof sehen kann, auf dem die blechernen Deckel der Aschentonnen klappern. Von der Veteranenstraße tönt das Quietschen der Straßenbahn herüber.
Verlegen pustet er den Kaffeegrund auf die andere Seite der Tasse. Noch immer kocht sie ohne Filter. Und natürlich darf die Cabinet nicht fehlen. Was hatte ihn ihre Zigarettenqualmerei zuletzt genervt.
„Wir haben uns schon gefragt, wann du mal hier auftauchst.“
”Ja“
„Anette geht es gut. Ich meine, falls dich das interessiert.“
Nein, ihr Ton ist nicht eigentlich bösartig. Eher von einer tiefen Gleichgültigkeit. Einer Leere, die von verletzten Empfindungen kommt. Aber Benedict, der ungemütlich auf der Sesselkante umher rutscht, weigert sich innerlich, dafür die alleinige Verantwortung zu akzeptieren.
„Was macht sie?“
„Sie arbeitet bei der Zeitung. Hat sich gerade in einen verheirateten Mann verliebt... du hast sie damals sehr enttäuscht.“
Das sitzt. Anette hatte in ihm, sie war so um die sieben rum, eine Art Vaterersatz gesehen. Und er
hatte leichtfertiger Weise diese Rolle angenommen. Der Onkel Strahlemann mit den Glitzerpaketen aus dem Westen. Ihm wird heiß vor Scham. Aber hatte sie ihre Tochter jetzt nicht nur vorgeschoben? Es steht doch in Wirklichkeit an jeder Wand dieses Zimmers geschrieben: Du, Vitus H. Benedict, hast mich enttäuscht, unsere Liebe! Ja, wie angenehm war ihm damals diese Grenze doch gewesen, hatte sie doch als willfährige Entschuldigung für den plötzlichen Abbruch der Kontakte herhalten können. Der einfache Ausstieg aus einer Emotion, die er selber provoziert hatte. Und heute... was hatte er eigentlich von Annkatrin hören wollen? Was wollte er in dieser Wohnung am heruntergekommenen Prenzlauer Berg, wo der bröckelnde Putz zu viele unbequeme Erinnerungen freilegte?
„Warum bist du also gekommen?“
*
„Ne, Molle und ’n Klaren!“
Der ersten Lage lässt er sofort eine weitere folgen, als er eine Stunde später das unangenehme Zusammentreffen in der Eckkneipe hinunterspült. Er schüttelt sich. Und das liegt nicht an der Qualität der Getränke.
„Nochmal dasselbe!“
Während der Wirt gleichmütig ein neues Bier zapft, sieht er sich in dem fast leeren Schankraum um. Hinten am Ecktisch mit dem Union-Wimpel sitzen fünf junge Leute und diskutieren heftig über irgendwelche Fußballspieler. Dann ist da nur noch dieser Mann mit dem strähnigen Blondhaar, der den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt hat und wirres Zeug in sich hinein brabbelt. Wahrscheinlich haben die Leute hier zur Zeit auch anderes im Sinn als Kneipenbesuche. Die meisten suchen nach möglichst günstigen Wegen, um ihr erspartes Ost-Geld zu retten. Die Stadt schüttelt sich ja geradezu im Fieber einander widersprechender Gerüchte über Umtauschquoten und Geldmengen.
„Mit mir nich’ mehr! Ich weiß Bescheid, war lange genug in Bautzen!“, brüllt der Mann mit dem dunkelblonden Haargewirr plötzlich laut heraus. Die Fußballjungs kichern und tippen sich an die Stirn.
„Müssen Se nüscht druff jeben“, sagt der Wirt und stellt Benedict sein frisches Bier hin. „Dem ham ’se die Birne weich jekloppt, aba sonst is’ er nich’ jefährlich.“
Nein. Natürlich hätte er nicht zu ihr gehen müssen. Die Chance, dass sie sich zufälligerweise in dieser Stadt begegnet wären, ist eins zu mehreren Millionen. Was hatte er also von Annkatrin gewollt? Absolution? Für einen kleinen Verrat? Sie war seine erste Liebe gewesen. Als sie dem damals Dreizehnjährigen auf dem abendlichen Nachhauseweg halb scherzhaft angeboten hatte, von nun an seine Freundin zu sein, da hatte er die Worte der jungen Frau anscheinend etwas zu ernst genommen. dass die über Zwanzigjährige sich dann noch bei ihm unter hakte, machte ihn einerseits verlegen, löste aber andererseits ein bis dahin unbekanntes Gefühl sinnlicher Lust aus.
In ihm mochte auch das Bild aufgetaucht sein, wie sie im vergangenen Sommer nackt mit seiner Mutter zusammen auf einer Decke im Garten gelegen hatte. Weiße Brüste und blondes Kraushaar. Ziel aller Sehnsucht. Er war auf den Dachboden geflüchtet. Erst zum Abendessen war er wieder zum Vorschein gekommen, aber mit seiner naiven Unbefangenheit ihr gegenüber war es von diesem Moment an für immer vorbei.
„Diese Verbrecherbande, rote! Aba nich’ mit mir! Alle nach Bautzen, aufhängen an den nächsten Mast!“
Auch nachdem er im Westen gelandet war, hatte sie weiter seine Sinne gefangengehalten. Jahre später besuchte er sie an der Ostsee, kurz bevor er zum Bund musste. Leichte, schwärmerische Sommertage waren das gewesen. Sie hatten am Bodden gelegen, da, wo der Meerwind leicht durchs Schilf strich und den Geruch von Tang mit sich brachte. Sie hatte geschlafen oder wenigstens so getan, und er konnte sich nicht sattsehen an diesem Gesicht mit den kleinen Sommersprossen. Und sie hatte sich plötzlich an ihn geschmiegt und seine unbeholfenen Liebkosungen kundig gelenkt. Dann war es nicht der Geruch von Tang gewesen.
Zurück im Westen schrieb er ihr - da war er schon bei der Bundeswehr - lange Liebesbriefe. Unter Deckadresse, denn Kontakte in den Osten waren Militärangehörigen nicht gestattet. Es war für ihn unfassbar, dass diese Frau sich in ihn verliebt haben sollte, aber ihre innigen Antworten sagten nichts Anderes. Kurz bevor er zum Offizierslehrgang sollte, hielt er es nicht mehr aus, und er flog zu ihr nach Berlin. PanAm-Clipper. Hannover-Tempelhof. Dann Bahnhof Friedrichstraße. Er wurde festgenommen und in den labyrinthischen Katakomben darunter von einem MfS-Offizier immer wieder befragt. Was genau, da ist Benedicts Erinnerung eigenartig verschwommen. Nur, dass er pinkeln musste, das weiß er noch. Dieser wahnsinnige Druck. Als käme es ihm gleich aus den Ohren raus. Und dann dieser Vopo mit der Kalaschnikow. Oder war es ein Grenzer? Benedict stand am Becken, und sein Bauch schien fast zu platzen. In seinem Rücken der dumpfe Druck einer Gewehrmündung. Kalter Schweiß auf der Stirn. „Naaa?“, hatte der Uniformierte mit gespielter
Teilnahme gefragt und den Druck der stählernen Mündung verstärkt, „geht’s nicht?“ Dem ach so verständnisvollen MfS-Major hatte er dann schließlich sowohl seine Zugehörigkeit zur Bundeswehr als auch seine Liebe zu Annkatrin verraten. Wegen einer überfüllten „Sextaner-Blase“.
„Alle aufhängen, jawoll. Nich’ mit mir!“
Sie hatten ihn gehenlassen. Sogar die Geschenke und die versteckte Konterbande, Spiegel und Stern durfte er mitnehmen. „Wenn Sie mal länger zu Besuch bleiben wollen, brauchen Sie sich nur an mich zu wenden“, hatte der MfS-Mann am Ende noch gesagt. Sie gaben ihm sogar eine Übernacht-Genehmigung. Als er am nächsten Tag zu seiner Bundeswehr-Einheit zurückkam, wurde er gleich vom Militärischen Abwehrdienst in Empfang genommen. Aus dem Offizierslehrgang wurde natürlich nichts mehr. Hatte von Glück sagen können, dass sie ihm in den monatelangen Vernehmungen nichts nachweisen konnten.
„Schweine. Alles Schweine! Aber mit mir nicht, ich bin in Bautzen gewesen!“
*
Der HiWi vom Bürgerkomitee mustert ihn am Freitagmorgen mitleidsvoll. „Au, au, au! War wohl ’ne längere Sitzung gestern?“
Benedict hat sich eingerichtet. Spart sich die Teilnahme an der morgendlichen Dienstbesprechung beim K-Leiter und den ihm fremden Leuten der MUK. Nimmt seit heute auch den direkten Weg mit der S-Bahn. Über Bahnhof Lichtenberg. Er kommt auch mit den Leuten in der Zentral-Kartei ganz gut zurecht. Die Frau vom Staatsarchiv trägt alle Akten, die sie ihm auf den Tisch legt, fein säuberlich in eine Liste, und der ehemalige Mitarbeiter des MfS antwortet ihm bereitwillig, wenn er Sachen in den operativen Vorgängen nicht versteht. Der Mann von der „Bürgerwehr“ wacht zwar immer noch mit Argusaugen über das Geschehen, aber seit er wohl den Eindruck hat, dass Benedict sich strikt an die getroffenen Abmachungen hält, konzentriert er sich hauptsächlich auf die Tätigkeit der beiden Anderen.
Benedict versucht sich jedes Kommentars zu den ihm vorgelegten Akten zu enthalten, wenn er sich auch manchmal auf die Lippen beißen muss. Mit derartigem hatte er in seinem bisherigen Dienstalltag noch nie zu tun. Geheimdienste kennt auch er nur aus Filmen oder Romanen, und zu den westdeutschen Diensten ähnlicher Strickmuster hat er keinen Kontakt. Seine anfängliche Empörung, manches mal vermischt mit heftiger Belustigung über die bürokratisch formulierte Detailfreude in den von MfS-Raschke verfassten Berichten, ist mittlerweile einer gleichmütigen Arbeitsroutine gewichen. Hatte er zu Beginn seiner Tätigkeit noch mit Interesse die Inhalte und Ziele der operativen Vorgänge des Hauptmanns verfolgt, so notiert er jetzt nur noch die Namen der jeweils observierten Personen, um sie nach Dienstschluss an Ganser durchzugeben. Er ist nicht hier, um moralische Bewertungen abzugeben - er hat einen Fall zu klären. Manchmal, wenn er über die haarsträubende Rechtschreibung des Hauptmanns allzu laut lacht, treffen ihn empörte Blicke. Seine Vorstellung, das umfangreiche Material dadurch zu reduzieren, dass er nur die Namen rechtskräftig verurteilter Opfer in seine Liste aufnehmen wollte, hatte sich leider als undurchführbar erwiesen. Eine interne Namensabgleichung mit den entsprechenden Akten der DDR-Staatsanwaltschaft ist nicht möglich; diese Unterlagen befinden sich an anderen Orten. So wird die Liste der Namen, die Benedict auf seinem Block notieren muss, länger und länger. Da wird bei den Düsseldorfer Kollegen aber Freude aufkommen!
*
„Kommst du übers Wochenende nach Düsseldorf?“, fragt Ganser, nachdem er den letzten Namen von Benedicts Liste notiert hat.
„Nein, ich werde mich hier mal ein bisschen Umsehen. Ist ja hochinteressant jetzt!“
Natürlich hat der Hauptkommissar erwogen, das Wochenende zu einer kurzen Heimfahrt zu nutzen. Die Aussicht auf ein „Marzahn-Weekend“ ist nicht besonders verlockend, aber angesichts der chaotischen Verkehrsverhältnisse auf der Transitautobahn Richtung Westen hat er den Gedanken an sein eigenes Bett doch schließlich verworfen.
„Na dann, viel Spaß in Sibirien!“, verabschiedet sich Ganser gewohnt locker und lässt Benedict mit sich und einem leeren Wochenende allein.
Sicherlich ist die Idee schon seit einiger Zeit da, aber am Samstagmorgen setzt er sie kurzentschlossen in die Tat um. Die Strecke kennt er schließlich. Auch wenn das damals immer eine Tagesreise war, aber heute ... die vergleichbare Tour zwischen Düsseldorf und Frankfurt machte er schließlich in anderthalb Stunden.
Dann dauert es doch länger, bis er den Friedhof an der Wolgaster Straße erreicht. Erst ist er falsch in Richtung Potsdam gefahren, und als er gegen Mittag auf die F 96 bei Oranienburg kam, war die Transitstrecke Richtung Ostsee dermaßen verstopft, dass er für die restlichen 170 Kilometer doch noch fast drei Stunden brauchte. Auch in der Stadt selbst hat er Probleme, sich zurechtzufinden. Kaum, dass er sie wiedererkennt. Unzählige Plattenbauten für die
Angestellten des nahegelegenen Kernkraftwerkes haben die einst so beschauliche Universitäts- und Hansestadt bis zur Unkenntlichkeit aufgebläht. Auch seine alte Schule, an der er mit unangenehmen Erinnerungen schnell vorbeifährt, scheint eine andere Nutzung gefunden zu haben, und der Platz der Einheit ist zu einem großen Verkehrsknotenpunkt umgebaut worden, dass er fast die richtige Abfahrt verpasst hätte.
Obwohl es mittlerweile über dreißig Jahre zurückliegt, findet er instinktiv den Weg zur Grabstelle, glaubt es wenigstens, denn als er dort anlangt, steht ein völlig anderer Name auf dem Grabstein. Er irrt noch eine Weile zwischen den umliegenden Grabreihen herum, aber vergebens. Sollte er sich so geirrt haben?
Schließlich beendet er die erfolglose Suche und wendet sich an die Friedhofsverwaltung, die in einer kleinen Baracke im Schatten der Friedhofsmauer untergebracht ist.
Die alte Frau blättert ratlos in alten Folianten, die sie aus einem wackligen Aktenschrank gekramt hat.
„Wann, sagen Sie, ist Ihre Mutter verstorben?“
„1958. Im November.“
Natürlich war das damals ein nebliger Novembertag gewesen. Und hier im Norden waren es immer besonders neblige Nebeltage. Klamm naß war die Kälte durch den dünnen Stoff seines ersten Anzugs gekrochen. Das Betriebs-Schalmeien-Orchester hatte „Unsterbliche Opfer“ gespielt und jemand von der SED-Kreisleitung eine Rede gehalten. Immerhin war sie ja eine aktive Genossin gewesen.
„Ja, also das Grab ist vor zwei Jahren ... eingeebnet worden. Die Zeit war ja abgelaufen ... und da sich sonst niemand um das Grab gekümmert hat...“
Benedict findet nicht, dass sie überhaupt eine Rechtfertigung nötig hat. Er hätte sich früher kümmern können.
Anschließend fährt er dann doch noch raus an den Bodden. Die kleine, hölzerne Zugbrücke erscheint ihm zu schwach für den schweren Wagen, so geht er zu Fuß über den Fluss. Fast sieht alles noch aus wie damals, als ein Privatzimmer in einem der kleinen Fischerkaten genauso zur „Bückware“ zählte wie manche Bücher oder eben ... Bananen. Teure Alternative zu den FDGB-Heimen in Oberwiesenthal oder Heringsdorf. Warme Windstille liegt über dem Hafen. Vor dem Restaurant am Fuß des Leuchtturms haben neue Pächter große Sonnenschirme mit Werbeaufdrucken aufgestellt. Überall in der DDR verschandeln diese Dinger jetzt die Landschaft. Man hätte den Leutchen hier vielleicht besser sagen sollen, dass der westliche Kapitalismus seine Feldzüge weniger mit NIKE-Raketen, als mit Feldbatterien von Werbeschirmen plant. Auch ein Wagen mit Pommes und Bratwurst hat sich schon eingefunden. Benedict bestellt sich eine Portion Pommes mit Ketchup, aber den „gibt’s bei uns erst nach der Währungsunion!“. Nein, der Zauber vergangener Tage ist unwiderruflich verloren. Er hätte nicht hierher fahren dürfen.
*
„Schönes Wochenende gehabt? Sehen ja aus, als wären Sie an der See gewesen!“
Benedict runzelt verblüfft die Stirn, geht dann aber doch nicht weiter auf Engels’ Bemerkung ein. Auf seinem Schreibtisch liegt das Neue Deutschland von heute.
„Nu, ham wir die Jugos richtig abgezogen, oder?“ Er hatte den Wagen ja sowieso wieder ins Präsidium bringen müssen, und da wollte er sich anstandshalber auch mal wieder beim MUK-Leiter sehen lassen. Natürlich hat sich auch Benedict die Life-Übertragung von der Fußball-WM in Italien angeschaut. Was sonst hätte er an diesem Sonntagabend in Ost-Berlin „Jottwedeh“ auch machen sollen? Zusammen mit dem Leiter der Einrichtung hatte er im fast leeren Femsehraum gesessen. Dennoch ist er ein bisschen erstaunt über den Oberleutnant Engel, dem an diesem Montagmorgen das „wir“ so leicht über die Lippen zu gehen scheint. Noch mehr verwundert ihn aber, dass bis auf Meißner und Engel niemand von der zwölfköpfigen MUK-Besatzung anwesend zu sein scheint.
„Machen hier alle blau heute?“
„Ach was. Vor der Wende hat nur am Freitag ab eins jeder seins gemacht, aber heutzutage macht doch jeder, was er will. Sind wahrscheinlich zur Bank, sich Umstellungsquittungen besorgen. Haben wohl Angst, dass sie sonst ihre D-Mark nicht bekommen!“
Engel, soviel ist mal sicher, scheint diese Angst nicht zu haben. Auch sonst ist ziemlich viel los, und das ND kann endlich aus dem vollen schöpfen: DDR-Premier zur Premiere in den USA, Westmächte hoben Vorbehalte gegen volles Stimmrecht der West-Berliner Abgeordneten im Bundestag auf, VP soll mehr Vollmachten als BRD-Polizei erhalten. Bis zu 1,5 Millionen Arbeitslose erwartet, und dazu gleich passend Direktoren von 38 Arbeitsämtern berufen!
„Soll ich Sie hinfahren? Hier ist ja nicht viel los. Sie sehen ja selbst!“
Dankbar nimmt Benedict das Angebot des MUK-Leiters an.
„Suchen Sie was?“, kommentiert der wenig später Benedicts wiederholte Blicke in den Rückspiegel, aber als dieser darauf nicht reagiert, wechselt er gleich das Thema. „Und ..., geht’s voran?“
Benedict spürt erstaunt so etwas wie echtes Interesse hinter Meißners Frage.
„Mühsam nährt sich das Eichhörnchen!“
„Tut mir schon leid, dass ich Ihnen so wenig bei der Sache helfen kann. Aber Sie haben ja selber gemerkt, wie das da läuft..."
„Kein Problem. Komme schon zurecht. Trotzdem ...“
Meißner muss den Wagen vor einer mit Blaulicht eskortierten LKW-Kolonne an den Straßenrand lenken. Als die gewaltigen MAN-Laster mit den bewaffneten Begleitmannschaften an dem Wartburg vorbei donnern, pfeift der Ost-Kommissar durch die Zähne. „Jetzt wird’s langsam ernst, euer Geld rollt an.“ Dann fahren sie weiter, und Benedict versucht, den Faden wieder aufzunehmen. „Habe früher immer gedacht, dass Sie guten Kontakt zu denen hatten?“
„Zu denen?“
„Na, von der Sicherheit!“
Die eben noch entspannte Atmosphäre lädt sich augenblicklich auf.
„Wir sind bei der K!“, kommt Meißners Antwort steif herüber, und der Rest der Fahrt verläuft dann in dumpfer Einsilbigkeit.
Vor der Anmeldung in der Ruschestraße, Benedict will gerade aus dem Wartburg aussteigen, bricht der MUK-Leiter dann doch noch sein Schweigen. „Kleiner Tipp noch: achten Sie in den Vorgängen auf die jeweiligen Dienstgradbezeichnungen. Was von uns kommt, ist in der Regel... also meistens ... korrekt. Alles, was von denen unterzeichnet ist, da sollten Sie die Möglichkeit nicht ausschließen ... also, könnte getürkt sein!“
„Und woran soll ich das erkennen?“, fragt Benedict verblüfft.
„Unsere Berichte haben hinter dem Dienstgrad immer den Zusatz ,K‘. Also Hauptmann der K zum Beispiel. Berichte von denen sind immer nur mit dem jeweiligen Dienstgrad, ohne Zusatz, gezeichnet. Achten Sie mal darauf!“
Aber erst mal hat Benedict keine Möglichkeit, sein neues Wissen einzusetzen, offensichtlich ist der Materialfluss ins Stocken geraten.
„Was ist los?“, wundert sich der Düsseldorfer, als er seinen Arbeitstisch in der Zentral-Kartei leer vorfindet. Der Aufpasser vom Bürgerkomitee zuckt maulfaul mit den Achseln, aber der so hilfreiche Experte von der „Nachfolgeorganisation“ klärt ihn wenig später bereitwillig auf.
„Es gibt eine Vorgangslücke, die wir gerade versuchen aufzuklären. Der letzte Bericht von Hauptmann Raschke, den Sie am Freitag hatten, trug das Datum 2.12.1975, aber die nächsten Tätigkeitsnachweise datieren dann erst wieder 4.1.1979! Da gibt es also einen Zeitraum von drei Jahren, in denen er wohl nicht für die Hauptabteilung XX tätig war.“
„Und was kann das heißen?“
„Da er ja 79 wieder auf Posten war, vielleicht ein längerer Schulungsaufenthalt bei den Freunden oder ein Auslandseinsatz, oder er wurde in einer anderen Hauptabteilung eingesetzt, kam auch vor.“
„Wie lange werden Sie brauchen, das herauszufinden?“
„Nicht lange, ich hab schon Querverweise gefunden.“
Der Mann kennt sich wirklich in seinem Laden aus, denn es dauert keine Stunde bis die Staatsarchivarin ihm neue Vorgänge auf den Tisch legt. Vorgänge, die nicht mehr wie bisher oben links mit „Hauptabteilung XX“ gekennzeichnet sind, sondern jetzt das Signum „Hauptabteilung II/3“ tragen.
„Was ist das für eine Abteilung?“, fragt er nach.
„Die Hauptabteilung II ist... äh ... war eine Unterabteilung der Hauptabteilung Aufklärung und beschäftigte sich mit Spionageabwehr, Überwachung ausländischer Missionen und Journalisten in der DDR“, erklärt ihm der ehemalige MfS-Mann.
Hauptkommissar Benedict blättert nachdenklich in den neuen Vorgängen. Immerhin waren die Leute auf den Übersiedlerschiffen in Düsseldorf ja keine Ausländer, sondern waschechte DDR-Deutsche. Wie sollten ihm daher Vorgänge dieser Abteilung bei der Klärung des Sachverhalts weiterhelfen können? Gerade will er die Staatsarchivarin bitten, die Vorgänge dieser Abteilung zu überspringen, als sich sein ganzer Körper plötzlich anspannt und versteift. Der Vorgang datiert vom 20.4.1976, und es ist ein Name, der diese Reaktion hervorruft. Falsch, denn zuerst hatte er den Namen ganz einfach überlesen. Erst einige Zeilen später reagiert er. Merkwürdig genug, dass ihm der Name im ersten Moment nur irgendwie bekannt vorkommt und er tatsächlich nicht weiß, was er damit anfangen soll. Jedenfalls veranlasst ihn dieser Name, das Blatt genauer in Augenschein zu nehmen. Plan zur Durchführung einer Kontaktaufnahme, steht da als Überschrift, und weiter: Es soll kontaktiert werden ..., und dann dieser Name. Sanger, Dean, geb. am: 22. Sept. 1938 in Denver, USA-Bürger mit gültigem Heimatpass, Beruf: Schauspieler, Sanger, Strafen: keine bekannt, Parteizugehörigkeit: ohne.
Dieser halbdunkle Flur im Downtown Holiday Inn von Los Angeles... die Erinnerung kehrt nun unaufhaltsam zurück. Dieses amerikanische Mädchen mit dem verzweifelten Unterton in der Stimme: „You must help me, Mr. Benedict!“ Um den angeblichen Mord an ihrem Vater hatte er sich kümmern sollen. „Mein Vater wurde ermordet von der Stasi. In einem See bei Ost-Berlin!“ hatte sie am Ende fast flehentlich gerufen. Und ihr Name war Ramona gewesen. Ramona Sanger.
Fast erschöpft lehnt sich der Düsseldorfer Polizist zurück und starrt auf die vor ihm liegenden Blätter. Das geht ihn doch immer noch nichts an. Oder? Dieser Sanger kann nichts mit dem Tod Raschkes in Düsseldorf zu tun haben. Warum also sollte er die Berichte über ihn lesen? Er hat sich um seinen Fall zu kümmern, nichts weiter. Warum aber hatte er in diesem Laden nach einer Platte von ihm gefragt, wenn ihn das doch alles nichts anging? Wie von unsichtbaren Kräften gelenkt, kehren seine Blicke immer wieder zu diesem Plan zur Durchführung einer Kontaktaufnahme zurück, und als er letzten Endes doch nachgibt und weiterliest, tut er dies mit der beunruhigenden Gewissheit, sich damit in große Schwierigkeiten zu bringen.