Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 43

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Um 16 Uhr startet auf dem englischen Militärflughafen Lyneham in Wiltshire eine grün-gelb gefleckte Hercules-Transportmaschine der Royal Air Force.

Ihrem Start voraus gingen mehrere ernste Telefonanrufe des Group Captain Casson aus Mönchengladbach und ein direkter Befehl aus Whitehall am heutigen Montag. Dieser Befehl aus dem englischen Verteidigungsministerium ergeht über das Joint Operations Centre an das SAS Command & Control Center in den Duke of York’s Barracks in London. Die Order erreicht binnen kürzester Zeit das fünfzehnköpfige Peloton II der D-Staffel, auch Sabre D genannt. Der Inhalt der Order ist kein Beweis übermäßigen Vertrauens in die Fähigkeiten der deutschen Sicherungskräfte: Wegen des drohenden Anschlages auf das Leben der Königlichen Hoheiten soll ein Kommando der SAS-Truppe das Gelände um das Düsseldorfer Schloss Benrath von möglichen Terroristen der IRA freihalten. Da dieser Einsatz mit den deutschen Behörden nicht abgesprochen ist, werden sich die Aktionen des SAS-Pelotons auf die Zeit zwischen Anbruch der Nacht und Morgengrauen beschränken. Tagsüber wird die Einheit in die vorbereiteten Ruheräume abrücken. Kontakten mit deutschen Sicherungskräften ist unbedingt aus dem Wege zu gehen. Einsatzbeginn am heutigen Datum, nach Eintreffen am befohlenen Einsatzort.

Um 17 Uhr 33 landet die in Lyneham gestartete Transportmaschine auf dem Flughafen Düsseldorf-Lohausen. Sie wird sofort von einem Marshal der Royal Military Police auf eine unbeleuchtete Position am Rande des Vorfeldes dirigiert.

An der Spitze seines Pelotons springt Colonel Rupert D. Smites aus der Transportmaschine. Drei große Metallcontainer werden von den SAS-Männern aus dem Bauch der Maschine, deren Propeller noch langsam nachdrehen, auf zwei bereitstehende Militär-LKWs geladen.

Über eine Rampe im Heck der Maschine rollen drei schwere Limousinen auf den Vorfeldbeton. Die Türen der gepanzerten Spezialfahrzeuge schlagen mit sattem Knallen zu. Der kleine Wagenkonvoi setzt sich hinter den vorausfahrenden LKW in Bewegung.

18 Uhr 10 biegt der Konvoi, von der Bonner Landstraße kommend, in die Straße Benrather Schlossufer ein. Kurz bevor das kleine Einbahnstück in spitzem Winkel auf die beginnende Pigageallee trifft, verteilen sich die Limousinen auf freie Parkplätze am rechten Rand der Fahrbahn. Die beiden LKWs ziehen vorbei auf die Rheinuferwiese und löschen die Scheinwerfer. Es ist ruhig auf diesem wenig befahrenen Teilstück am Rheinufer. In der Strommitte tuckert ein Schlepper Richtung Zons.

Colonel Smites sammelt seine Leute am ersten LKW. Vor einem der aufgeklappten Container bereitet ein schmaler Zivilist das PRC 319 für den Empfangs-und-Sende-Betrieb vor. Aus den anderen Containern versorgen sich die SAS-Männer mit GPV-25-Panzerwesten und dem AC-100-Spezialhelm mit Atemfilter und integriertem CT-100-Sprechfunkgerät. MP 5 oder Remington 870 komplettieren die Bewaffnung.

Nachdem der Trupp nochmals kurz eingewiesen worden ist, setzt er sich lautlos in Marsch. Unter gegenseitiger Deckung überqueren sie das belebtere Anschlussstück der Straße und sammeln sich erneut auf einem mit Bäumen bestandenen Parkplatz. Die Lichter des Club-Restaurants der Ruder-Gesellschaft Benrath reichen nicht zu ihrem Sammelpunkt. Die Gäste an den Tischen ahnen nichts von dem geheimnisvollen Treiben in wenigen Meter Entfernung.

An einem Drahtzaun werden sie verabredungsgemäß von zwei englischen IntCorps-Männern erwartet. Diese sind am Nachmittag vom englischen Verbindungsoffizier beim Krisenstab des Innenministeriums über die Lage der ISAT-Beobachtungsposten informiert worden. Sie hatten den Auftrag, für das erwartete SAS-Kommando einen sicheren Weg in den Schlosspark vorzubereiten.

Schon bei Anbruch der Dunkelheit haben sie das verschlossene Eisentor in dem Drahtzaun neben dem Tennisplatz gewaltsam geöffnet. Ebenso sind sie mit dem Tor im Zaun auf der anderen Seite des roten Kunststoffplatzes verfahren. Über den dahinter fließenden Schlossbach haben sie eine aus zusammenschiebbaren Aluminiumteilen bestehende Stegbrücke gelegt.

Jetzt führen sie die Männer des SAS-Pelotons schweigend zu dem vorher geölten Tor. Als die Kampfgruppe vorsichtig über die Metallschienen über dem Bach gleitet, verschwinden die beiden IntCorps-Männer. Morgen früh werden sie kurz vor Tagesanbruch ihre Kameraden erwarten, die Brücke abbauen und die Tore wieder sorgfältig verschließen.

Ein schwacher Wind bewegt die Äste der Parkbäume. Im Club-Restaurant stößt ein verliebtes Sportlerpärchen mit Sekt an. Heute Nacht soll es Frost geben.

Es ist 18 Uhr 55.

Die Königlichen Hoheiten bewegen sich an Bord einer Maschine der Royal Air Force auf die kleine Stadt Bonn am Rhein zu.

*


Um diese Zeit verlassen die drei Mitglieder des irischen Kommandos ihr Ausweichquartier im Düsseldorfer Norden zur letzten Vorbereitungsphase der Operation Berlin.

Bevor die strengen Sicherheitsmaßnahmen am Vortag des Donnerstag-Empfanges auf Schloss Benrath in Kraft treten werden, wollen General Munroe, Donahue und South noch verschiedene Vorbereitungen am Einsatzort treffen, die während und nach der Operation für zusätzliche Verwirrung bei den Sicherungskräften sorgen sollen. Dazu zählen unter anderem die Anbringung einer großen Sprengladung an den Gleisen der Bahnstrecke Düsseldorf-Köln auf Höhe Bahnhof Benrath, das Abstellen eines präparierten Sprengstoffwagens auf einem großen Parkplatz an der Börchemstraße sowie die Installation mehrerer Rauchminen an ausgewählten Punkten des Schlossparkgeländes.

Der technisch schwierige Teil dieser Vorbereitungsphase wird bei Sean South liegen, der sicherstellen muss, dass die neun Einheiten bei Auslösung des Multifunkimpulses gleichzeitig detonieren. Unter den gegebenen Verhältnissen keine einfache Arbeit für den Bomber des Kommandos.

Weiterhin muss der große Baum am Stirnende des Spiegelweihers vorbereitet werden. Diesen Baum, der mit seinen gewaltigen Ästen in gerader Schusslinie zu dem am Südende liegenden Kuppelsaal des Schlosses steht, hat sich Donahue gleich bei seiner ersten Begehung als Hochposition ausgesucht. Von da aus, so haben erste Versuche mit einem Feldstecher ergeben, würde er die an der Tafel sitzenden Staatsgäste mit seinem Steyr-Mannlicher-Präzisionsgewehr zur Not auch noch erledigen können. Aber das sollte bei normalem Ablauf der Operation nicht mehr erforderlich sein. Die verdeckten Steigklammern müssen an dem glatten Unterteil des hohen Stammes angebracht werden, damit Donahue schon auf seiner Position ist, wenn die Masse der Sicherheitskräfte das Gelände bevölkert. General Munroe weiß, dass dieser Teil der Operation Berlin zu den schwierigsten Abschnitten zählt, gefährlicher noch als die eigentliche Operation, denn jetzt, so kurz vor dem Abschluss noch entdeckt zu werden ... aber daran will die Planerin und Führerin des Kommandos nicht denken, als sie South und Donahue den Befehl zum Abmarsch gibt.

Es ist dunkel genug.

Die Uhr am Armaturenbrett des Pickup zeigt 18 Uhr an.

*


Das beigebraune Motorhome mit den niederländischen Kennzeichen steht seit knapp zwei Wochen in der ersten Parkbucht auf der linken Seite der Erich-Müller-Straße. Genau gesagt steht das drei normale Parkplätze einnehmende Gefährt seit exakt dem Tag an dieser Stelle, an dem die Beobachtungskameras von ISAT ihre geheimnisvolle Tätigkeit aufnahmen.

Hauptkommissar Benedict nahm zu diesem Zeitpunkt Jerry Harts Vorschlag, sein Hobbygefährt sozusagen als vorgeschobenes Feldhauptquartier des ISAT einzusetzen, sofort und gerne an. Und bis heute haben vom Vorhandensein dieser zweiten Operationszentrale auch die Leute des Krisenstabes im Innenministerium keine Kenntnis erhalten. Nur Liszt und Herrmann wissen, wo die vier Chefs sich wirklich aufhalten, wenn sie nirgendwo sonst zu finden sind.

Benedict staunt nicht schlecht, als er das Freizeitgefährt des Engländers zum ersten Mal betritt. Verborgen hinter einer abklappbaren Holzkonsole befinden sich neben einem Plessey-Hochleistungsfunkgerät ein Funktelefon, ein Bildschirm und mehrere andere elektronische Einrichtungen, über deren Funktion sich der S.I.B.-Captain nicht weiter auslassen will.

»Ein very sophisticated stereo equipment!«, antwortet er auf die entsprechende Frage des Hauptkommissars scherzhaft und lässt es dabei bewenden.

Ein großes, dunkel getöntes Fenster im Heck des Motorhomes erlaubt den ungehinderten Ausblick auf die Front des Benrather Schlosses und den davor liegenden Schlossteich mit der Fontäne. Von draußen sind neugierige Blicke durch die dunklen Scheiben nicht möglich. Manch ein vorbeigehender Passant mochte sich wundern über die holländischen Touristen um diese Jahreszeit. Aber die sind eben so, die Holländer.

Je näher der Tag des Eintreffens der Staatsgäste rückt, desto öfter zieht es die vier ISAT-Verantwortlichen zu ihrem vorgeschobenen Beobachtungsposten. Auch an diesem Montagabend hat es sie nicht mehr im >Weißen Haus< gehalten. Immer wieder richten sich die Augen hinter den Okularen des Nachtglases auf die dunkle Schlossfront.

Der Anruf aus der ISAT-Zentrale erreicht sie um exakt 19 Uhr 03: »Auf Anordnung des Innenministers von Nordrhein-Westfalen haben sich alle für die Sicherung des Objektes Benrath eingeteilten Polizeikräfte sofort, ich wiederhole, sofort in die befohlenen Einsatzräume in Marsch zu setzen! Schloss Benrath und Schlosspark gelten mit sofortiger Wirkung als Sicherheitszone I. Einsatzablauf im Rahmen PDV 130! Datum: 2. November, Zeit: 19.00 Uhr. Ende.«

Vom aufgeregten Polizeimeister Liszt erfährt Benedict ergänzend, dass die erst für Mittwochnachmittag geplanten Sicherungsmaßnahmen für den Staatsbesuch auf heute 19 Uhr vorverlegt worden sind. Der Bereich Schloss Benrath muss sofort abgeriegelt werden. Die eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen seien dann bis zum Verlassen der Staatsgäste am Donnerstagnachmittag aufrechtzuerhalten.

»Mensch, müssen die in Panik sein«, sagt der ISAT-Leiter und legt gereizt den Hörer auf.

»Na wenn schon«, meint der Engländer lässig, »so kann doch wirklich nichts mehr schiefgehen!«

Hauptkommissar Benedict, der aus vielen ähnlichen Einsätzen um die Koordinationsschwierigkeiten bei der Abstimmung unterschiedlicher Einsatzkräfte weiß, fühlt die Eiswand den Rücken hinaufkriechen. Und das waren normal im Zeitplan laufende Einsätze gewesen, ohne Alarmstart. Und bei Tageslicht. Ihn schaudert.

»Habt ihr ’ne Ahnung!«, sagt er leise.

Ab 19 Uhr 17 treffen die ersten der so kurzfristig alarmierten Einheiten ein. Vor dem Schloss, auf dem freien Platz zwischen Freitreppe und Teichufer, ist ein großer Kommandowagen des Einsatzleiters aufgefahren. Zwei zusätzlich aufgebaute Standscheinwerfer tauchen die nähere Umgebung in grelles Licht.

Mit dem Megafon in der Rechten und dem schriftlichen Einsatzplan in der anderen Hand bemüht sich der Einsatzleiter, unter den Ankommenden die für die festgelegten Positionen eingeteilten Beamten zu ermitteln und in Marsch zu setzen. Der Polizist am Funkgerät des Kommandowagens versucht, ihm inmitten des Uniformengewirrs Positionsmeldungen weiterer herannahender Einheiten zuzurufen.

Grüne Mannschaftsbusse biegen mit Blaulicht von der Benrather Schlossallee auf den Vorplatz ein und blockieren den nachfolgenden Einsatzfahrzeugen den Weg.

In den Häusern gegenüber gehen die Lichter an. Erschrockene Köpfe schauen aus den geöffneten Fenstern.

»Position 3!«, schreit der Mann am Megafon. »Verdammt noch mal, meldet euch! Position 3!«

»GSG liegt vor Unfallstau auf der Autobahn fest! Unbestimmte Ankunftszeit!«, ruft der Funker aus der Kabine herüber.

»Hauptmeister Thalmann, Einsatzführer. Wir sind für Position 7 bestimmt. Wie kommen wir da denn hin?«

»Ihr habt doch einen Wegeplan, oder?«

»Ja, aber jetzt im Dunkeln?«

»Mensch, verpisst euch! — Weg mit den Bussen! Ihr blockiert doch die ganze Zufahrt!«

Auf der Schlossallee übt ein Straßenbahnfahrer Dauerläuten.

Autofahrer fühlen sich animiert und hupen. Erste Menschengruppen versammeln sich sensationsgeil an den Zufahrten des Schlosses.

»Wo sollen wir die denn hinfahren? Wir kommen nicht raus! Hinter uns ist alles dicht!«, schreit der Busfahrer genervt zurück.

In der Nähe des Schlosses läuft ein atemloser Alter mit einem knurrenden Schäferhund an der Leine auf den Megafon-Mann zu. »Was ist denn hier los?«, brüllt der um Luft ringende Mann, der eine graue Uniform der städtischen Parkwächter trägt.

»Was sind Sie denn für einer?« In herrischem Ton klärt der Einsatzleiter die Situation. »Wir sind jetzt hier für die Sicherheit verantwortlich. Nur wir! Geh schlafen, Opa!«

Während immer mehr Beamte auf dem Schlossplatz durcheinanderlaufen, schickt der Einsatzleiter zunächst mehrere von ihnen zur Verkehrsregulierung an die Straße zurück. »Und treibt die Neugierigen da weg!«, brüllt er ihnen hinterher. Das Megafon noch vor dem Mund, sagt er dann laut und für alle vernehmlich: »Scheißladen! Ist das ein Scheißladen!«

*


Als die Anführerin des Special Active Service Units mit dem Decknamen General Munroe auf ihre Armbanduhr sieht, ist es genau 18 Uhr 55. Die Ladungen am Benrather Bahnhof und in dem schon in der letzten Woche geparkten PKW sind scharf und auf die Multi-Impulsfrequenz eingestellt. Die drei IRA-Kämpfer steigen wieder in den Pickup-Wagen und fahren langsam die Börchemstraße hoch. Die Ampel an der Straße vor dem Schloss zeigt Rot. An der Ecke steht ein großes Wohnmobil. Die Ampel springt auf Grün. Munroe biegt rechts ab. Um 19 Uhr 10 verlässt der Kleinlaster die Straße am Rheinufer und fährt hinter dem Schlosspark auf das Wiesengelände. Munroe schaltet das Standlicht ein und lenkt das holpernde Gefährt an einem Bauplatz vorbei an die geplante Stelle. Sie schaltet das Licht aus. Der Wagen steht jetzt in der Verlängerung des großen Baums am Ende des Spiegelweihers. Allerdings auf der anderen Seite. Um auf das Parkgelände zu kommen, müssen sie den Schlossbach überwinden, der das Gelände umfließt.

Donahue und South, denen der Schweiß unter dem warmen Stoff der vermummenden Balaklava herunterperlt, springen leichtfüßig aus dem Wagen. Unter Bauschutt, der sich auf der Ladefläche türmt, ziehen sie eine Metallstange hervor. Während South die Stange hält, schlägt der lange Donahue sie mit durch Stofflappen gedämpften Hammerschlägen fest in den weichen Boden. Beide prüfen mit kräftigen Armzügen die Stabilität. Wieder gräbt Donahue im Bauschutt, er zieht eine Kiste heraus und stellte sie auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtet, hält er das Greener-Harpunengewehr in der Hand und zielt Richtung Park. Ein dumpfes Plopp erklingt! Das schwere Geschoss mit dem Haken krallt sich in den Baum auf der anderen Seite des Baches und zieht die sirrende Spezialleine hinter sich her. Das geschieht fast unsichtbar im Abenddunkel.

In der Zwischenzeit hat South an der Spitze der in den Boden gerammten Stange zwei Metallstopper mit Hakenverschluss aufgeschraubt. Jetzt nimmt er das Ende der Leine und zieht es straff. Klick! Der Verschluss rastet ein. Das Stangenende mit Stoppern und verkoppeltem Leinenende schiebt er teleskopartig in die Höhe, Mit dem Daumen fühlt er nach der Kerbmarkierung. Erneut macht es klick. Straff spannt sich die Leine in zwei Meter Höhe über den Bach. Beide Männer hängen sich die Maschinenpistolen über und hangeln nacheinander lautlos an der Leine entlang. Der zuletzt kommende South führt eine zweite Leine mit sich.

Als sie das Zittern der Stange nicht mehr fühlt, schickt Munroe an der zweiten Leine die Behälter mit den Rauchminen und den Werkzeugen auf die andere Seite. Dann stellt sie sich, die Maschinenpistole in der Armbeuge, an den warmen Motor des Wagens. Donahue und South müssen jetzt dort drüben auf sich selbst aufpassen. Hier steht sie auf Posten, um ihren Rückmarsch vor Überraschungen sichern. Wahrscheinlich werden sie in 45 Minuten zurück sein.

General Munroes Armbanduhr zeigt neunzehn Minuten nach sieben.

*


»Wir müssen uns ja wohl auch bald in das Getümmel stürzen!«, sagte McGrath lakonisch.

Aus dem Lautsprecher der großen Funkanlage in Harts Campingwagen kommen hektische Meldungen. Drüben auf dem Schlossplatz leuchten die ersten Scheinwerfer auf.

»Besser erst mal warten, bis sich die Situation geordnet hat!«, beharrt der Hauptkommissar steif auf seinen Erfahrungen vergangener Großeinsätze.

Über ein getrenntes Funksystem empfängt der englische Captain jetzt auch noch den Funkverkehr seiner eigenen Leute. Das Gequäke deutscher und englischer Befehle füllt den engen Raum.

»No smoking!«, schreit der Engländer scharf, als O’Connell seine Pfeife rausziehen will. Jetzt dreht der also auch schon durch.

Das Summen des Telefons ist in dem Geknatter der Funkfetzen kaum zu hören. Schließlich nimmt O’Connell den Hörer auf. »Für dich!«, grinst er Benedict an. »Die lisztige Maus aus dem >Weißen Haus<!«

»Oh Gott!«, entfährt es dem Hauptkommissar. »Ja?«

»Ich habe gerade zwei Anrufe von den Stationen 4 und 5 gehabt. Da treiben sich verdächtige Personen herum. Ob wir da was unternehmen?«

Station 4 und 5? Bauplatz Rückseite Schlosspark und Parkplatz Rheinterrassen. Benedict schaut auf das beginnende Chaos auf dem Schlossvorplatz und nickt grimmig vor sich hin.

»Soo? Nee, nee ... sagen Sie denen man Bescheid, dass das jetzt unsere Leute sind, die da rumfallen. Ende!«

Arvi Hattunen vom Alert Team ist alleine im Quartier der TWC-Spezialisten in Benrath, als er die Unruhe rund um das Schloss von seinem Fenster aus bemerkt.

Sollten die Deutschen das IRA-Kommando doch noch geschnappt haben? Eilig mischt er sich unter die Gruppe der Neugierigen. Eine Kette von Bereitschaftspolizisten drängt die dunkle Menschenmasse vom Ufer des Schlossteiches auf die andere Seite der Straße hinüber. Hinter den unwillig über den Fahrdamm Zurückweichenden bauen in grünen Drillich gekleidete Ordnungskräfte Absperrgitter auf.

Hattunen wirft einen Blick auf die Uhr am Handgelenk. Halb acht. Er muss wissen, was da vorgeht! Rücksichtslos boxt er sich durch die immer größer werdende Menschenmenge.

In der Melliesallee ist es noch ruhig und dunkel. Sie hatten das Gelände letzte Woche eingehend erkundet: Es gab Wege. Durch Büsche hindurch klettert er über einen Zaun aus Metall, durchquert mit federnden Sätzen das hinter dem Haus liegende Gartenstück, überklettert gewandt einen nächsten Zaun und schleicht gebückt am schmalen Rand des Baches zu einem Weg am Teich. Der führt in den Park. Über das verschlossene Stahltor hangelt er als dunkler Schatten hinüber und lässt sich auf der Parkseite elastisch abrollen. Weicher Boden dämpft seinen Sprung. Er horcht in die Nacht. Aber nichts rührt sich. Nur die Bäume des Schlossparks rauschen im Wind des kühlen Vorwinterabends.

Um 19 Uhr 40 hat der Einsatzleiter seine Streifen endlich alle an die zugewiesenen Kontrollpositionen geschickt. Nach und nach treffen die Vollzugsmeldungen der Beamten ein. Der Einsatzleiter kann jetzt erleichtert zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei vom Schlossplatz aus in Marsch setzen. Deren Aufgabe ist die Bildung einer lockeren Außensperrkette rund um die Sicherheitszone. Die Beamten sollen sich in Nachtsichtweite voneinander postieren und niemanden herein- oder hinauslassen, der nicht zu den Sicherheitsverantwortlichen gehört.

Die erste Hundertschaft geht südlich über die Urdenbacher Allee vor und soll sich mit der anfangs nach Westen vorrückenden zweiten Hundertschaft dann an der Rückseite des Schlossparks auf Höhe Haus-Endt-Straße treffen. Eine dritte Hundertschaft bleibt in ihren Bussen in Reserve für den Fall, dass die Kette aufgefüllt werden muss.

*


Als Benedict mit den drei ISAT-Kollegen um 19 Uhr 42 auf dem Schlossplatz ankommt, trifft auch die verspätete GSG-9-Einheit endlich ein. Jetzt, da die Absperrung bald lückenlos sein wird, bereiten sich die Männer der GSG, der BKA-Sicherungsgruppe Meckenheim, des SEK, mehrere abkommandierte Beamte der Kripo Düsseldorf und die vier ISAT-Leute darauf vor, das Gelände des Schlossparks weisungsgemäß zu durchsuchen.

In wenigen Minuten werden sich auf dem 63 Hektar großen Gelände des Benrather Schlossparks folgende Gruppen mit höchst unterschiedlichen Absichten befinden: zwei irische Terroristen im äußersten Südteil am Rande des Parks, um die letzten Vorbereitungen für den geplanten Anschlag zu treffen; sechzehn schwer bewaffnete Angehörige der englischen Anti-Terroreinheit Special Air Service, die von der Westecke des Gebietes aus in lockerer Linie das Gelände durchkämmen, um die Terroristen aufzuspüren; ein söldnerähnlicher Killer aus Finnland im speziellen Auftrag einer Bundesbehörde Richtung Spiegelweiher schleichend, um herauszufinden, was hier überhaupt vorgeht; fünf unterschiedliche Gruppen der deutschen Sicherungskräfte, die strahlenförmig vom Hauptschloss in das mit Buchen und Eichen bestandene Gelände vorstoßen, um die hektischen Anweisungen eines in Panik geratenen Innenministers auszuführen.

Von den hier befindlichen Leuten haben nur ungefähr die Hälfte eine genauere Kenntnis des Geländes — bei Tageslicht. Die andere Hälfte hält sich zu dieser Zeit erstmals hier auf — bei Nacht.

Mumpitz, denkt Hauptkommissar Benedict und spricht den abgeschlafften Einsatzleiter mürrisch an. »Halten Sie das eigentlich für sinnvoll? Im Dunkeln rumzusuchen?«

»Mann, nerven Sie mich jetzt nicht auch noch! Im Einsatzbefehl steht, dass das Gelände ohne Einsatz von Leuchtmitteln abzusuchen ist, um mögliche Straftäter nicht zu warnen.«

Benedict kratzt sich verärgert am Kopf.

»Aber es gibt ein Losungswort. Damit ihr euch nicht gegenseitig über den Haufen schießt. Meisterschale! Möchte wissen, wer sich so was immer einfallen lässt. Meisterschale!«

Die ersten Beamten des Suchkommandos verlassen den Schlossvorplatz, während sich die linke Zangenhälfte der Absperrhundertschaft auf den Eingang der Orangerie zubewegt. In gut fünf Minuten wird sie bei gleichem Marschtempo die als Deckung zurückgebliebene Führerin des IRA-Kommandos erreichen.

Mit einem kräftigen Schlag hämmert South die letzten Steigkrampen in den dicken Baumstamm. Als er sich schweißgebadet aufrichtet, um nach einem der beiden Behälter zu greifen, wird ihm klar, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Die schon während der letzten Minuten in sein Unterbewusstsein gedrungenen Geräusche verdichten sich jetzt und signalisieren Gefahr. Auch Donahue steht lauernd still, das dunkle Gesicht dem Schlossgebäude zugewandt. Die kalte Nachtluft ist plötzlich erfüllt von schwachen Geräuschen. Keines davon gehört zu einer normalen Novembernacht in einem menschenleeren Park. Hinter der die Sicht versperrenden Front des Hauptschlosses flackert blauer Feuerschein. In einiger Entfernung werden Türen zugeschlagen, gedämpft durch Mauern und Bäume. Kurze Kommandotöne wehen von der Straße herüber. In das gleichmäßige Rauschen der Bäume mischt sich plötzlich das Krachen eines Astes, Laub raschelt unter der Last eines schweren Tieres. Umrisse von Schatten huschen auf den Wegen in der Nähe des langen Weihers. Enten, zu früh aus dem Schlaf geweckt, beginnen leise zu schnattern. Etwas platscht in eben noch spiegelglattes Wasser. Alles stimmt nicht mehr.

South gibt seinem horchenden Kameraden einen kräftigen Stoß und drückt ihn in Richtung Schlossbach, dorthin, wo ihre Fluchtleine befestigt ist. Hastig heben sie die schweren Behälter auf die Schultern. Sie haben keine Zeit mehr, verdächtiges Klappern zu verhindern.

Der Mann von der Sicherungsgruppe ist ein kampferprobter Hase. Obwohl erst 28 Jahre alt, hat er schon viele Einsätze hinter sich. Dabei hat sich bei ihm ein Gespür für lauernde Gefahren herausgebildet. Diese Ahnung setzt sich bei dem leise zwischen den Bäumen schleichenden Beamten seit einigen Sekunden irgendwo zwischen Nacken und Hirnschale fest. Seine Hand geht zur Pistole, die er vorsichtig entsichert. Dann kommt alles sehr überraschend.

Er tritt erschrocken mit dem rechten Fuß auf etwas Weiches und sieht einen großen Schatten vor sich aufspringen und fühlt mehr, als er es in der Finsternis erkennen kann, den herannahenden Schlag. Er fällt wie vom Blitz getroffen auf den Boden. Der SAS-Offizier, eingedenk der vorherigen Warnungen, hat die lautlose Taktik des malaysischen Dschungelkrieges angewandt. In schnellen Sprüngen will er sich elastisch aus der Reichweite des fallenden Gegners zurückziehen, da ...

*


Benedict hat sich von den drei Kollegen getrennt und geht lieber auf einem der sandigen Parkwege, der ihn parallel zur Melliesallee wieder an das entgegengesetzte Parkende führen soll. Hier könnte man ihn wenigstens halbwegs schon von Weitem sehen. Nach seiner ersten Verärgerung haben aber mittlerweile wieder die eisigen Drillinge in seinem Rücken boshaft Oberhand gewonnen. Er fühlt Schweiß auf der Stirn, den der eiskalte Nachtwind fast zu Raureif gefrieren lässt. Ist da nicht ein Schatten zwischen den Bäumen? Knackt dort nicht ein Ast? Unsicher tastet er nach der Pistole. Da hört er den Schuss.

Ein zuckender Muskelreflex reißt seinen Arm mit der Leuchtzifferuhr vor das Gesicht: 19 Uhr 47.

Der Knall des Schusses, ausgelöst von der entsicherten Pistole des zu Boden stürzenden Mannes der Sicherungsgruppe, führt zu einer völligen Erstarrung jeder Bewegung, die Sekundenbruchteile dauert. Diese wirkliche Stille, die dem verhallenden Echo zwischen den Bäumen folgt, zeigt, wie es um die angebliche Stille davor bestellt war. Dann ertönen zunächst vereinzelt weitere Schüsse aus den verschiedenen Richtungen des Parks. Reaktionen ins Ungewisse. Schatten schießen auf Schatten. Schatten feuern blind auf Bäume. Schatten bekämpfen ihre Angst mit Schüssen ins Nichts. Lange Feuerstöße aus Maschinenpistolen erscheinen als Signal für den Beginn einer nun einsetzenden, hemmungslosen Demonstration von lauter Feuerstärke. Die Geister müssen vertrieben werden. Erste Querschläger schrappen ganz in seiner Nähe an Bäumen vorbei.

Benedict duckt sich auf den Weg hinunter und hält immer noch die eigene Pistole in seiner rechten Hand. So ein Schwachsinn, denkt er, als er weit vor sich Leuchtspurgarben den Weg kreuzen sieht. Er will sich die schmerzenden Ohren zuhalten, aber die schwer in der Hand liegende Waffe hindert ihn. Er drückt einfach ab. Dieser eine Schuss, wenn auch kaum hörbar in dem Inferno krachender Schüsse und vorbeizischender Geschosse, bringt ihn doch wieder zur Besinnung. Mit einem langen Satz sucht er unter einem großen Baum erste Sicherheit.

Der Schuss ertönt im gleichen Augenblick, in dem South und Donahue mit den Behältern auf der Schulter zum Ufer des Baches zurücklaufen wollen. Vor sich auf dem Weiherweg sehen sie zwei aufspringende Schatten. South stößt seinen Kameraden weiter Richtung Seilbaum und reißt die MP hoch. Er feuert eine Garbe in Richtung des laufenden Schattens. Dann reißt er eine Rauchmine aus dem Behälter und zündet sie mit der Hand. Nacht und Rauch verbinden sich zu tarnender Schwärze. Wieder Abschüsse aus Maschinenwaffen. Jetzt aus allen Richtungen. South zündet eine weitere Rauchmine, eine dritte, vierte und fünfte. Dann folgt er Donahue schnell über den Schlossgraben hinüber, den Rest der Ausrüstung einfach zurücklassend. Munroe wartet im Wagen mit laufendem Motor. South wirft sich zu dem keuchenden Donahue auf die Sitzbank. Die Maschine heult auf. Räder drehen sägend durch auf nachgebendem Sand. Endlich schießt das Fahrzeug mit einem kurzen Luftsprung davon, springt schwankend über Bodenwellen und Schutthügel und erreicht schließlich die feste Straße am Schlossufer, wo es Richtung Urdenbach davonrast.

Schon nach den ersten hektischen Feuerstößen aus den Maschinenwaffen gibt Colonel Smites über Funk den Rückzugsbefehl an seine Leute. Die Situation ist für den erfahrenen Offizier taktisch nicht mehr kalkulierbar, die Gefahr einer Entdeckung des Kommandoeinsatzes nicht mehr auszuschließen. Die disziplinierten Kämpfer der SAS ziehen sich einzeln zu dem vereinbarten Sammelpunkt zurück. Sie verlassen ohne einen Ausfall das von ratternden Geschossgarben durchfurchte Gelände über die Brücke, die sie mitnehmen, und besteigen eilig ihre Fahrzeuge. Motoren heulen auf, der Konvoi von fünf Fahrzeugen verlässt wenig später das Einsatzgebiet verkehrswidrig entgegen der Richtung der Einbahnstraße.

Kurz vor dem Höhepunkt des panischen Feuerorchesters befinden sich also nur noch die Angehörigen der Sicherungskräfte auf dem Parkgelände. Und ein verwirrter Finne.

Irgendwann hat jemand in dem Durcheinander herumjagender Geschosse, aufgeregter Kommandoschreie und beißender Nebelschwaden eine vernünftige Idee: der Zugführer der GSG-9-Einheit schießt eine weiße Leuchtkugel in die Nacht. Während sich unter der langsam herabsinkenden, grellweißen Lichtkugel Helligkeit zwischen den Bäumen und Büschen ausbreitet, greifen andere seine Idee auf. Der Lärm der Geschosse verebbt langsam. Jetzt taucht auch Benedicts Umgebung in den gleißenden Schein einer abgefeuerten Leuchtrakete.

Der neben ihm stehende Baum hat zwei Beine, zwei Arme, einen Kopf und weißblonde Haare, Dieses breite Gesicht hat er im vorigen Jahr schon einmal gesehen. Auf Fuerteventura. Die Sache mit der Liste. Der Finne!

Was macht ...

Ein Luftzug hechelt vorbei! Heißes Sengen an der linken Schläfe! Instinktiv reißt Benedict den Kopf nach rechts. Er fühlt einen harten Schlag. Lächerlich, denkt er, absolut lächerlich, bei dieser Geschichte noch draufzugehen. Hoffentlich zerschießen die nicht auch noch das schöne Schloss. Plötzlich hat er den strengen Geruch feucht-fauligen Herbstlaubs in der Nase.

Dann nichts mehr. Tiefe Schwärze. Aus.

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

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