Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 40
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ОглавлениеSeit Freitagabend beobachten sie abwechselnd die kleine Hütte im Garten der Helbigs. Bis heute hat sich nichts getan. Fünf nervende Tage und Nächte. Nur die Gänge der Mutter Helbig wiederholen sich ständig: morgens mit einem Korb aus dem Hintereingang des Hauses zur Gartenlaube, kurze Zeit später ohne Korb wieder zurück ins Haus, um die Mittagszeit wieder das gleiche, aber mit einem Topf in beiden Händen, und abends gegen sechs wieder der Korb.
Doemges, der sich mit Ganser und Läppert den Beobachtungsstandort an der Bahnlinie teilt, hat sie gleich nach dem ersten Morgengang >Rotkäppchen< genannt. Das Observierungsobjekt Siedlerweg heißt seitdem Rotkäppchen, eine extra Tarnbezeichnung für den Funkbetrieb hat man sich damit gespart.
Ganser schnippt wieder einen Zigarettenstummel auf den Bahndamm. Wenigstens das Wetter ist erträglich. Gleich würde der 11-Uhr-32-Zug kommen. Mittlerweile kennt er die Folge während seiner Wache auswendig. Das sieht hier vielleicht aus. Der Doemges könnte seine Vivil-Packungen auch in die Taschen stopfen. Gelangweilt versucht der Kriminalhauptmeister, die grün-silbernen Papierkugeln im Sand gegen seine eigenen Zigarettenstummel auszuzählen. Nein, das wäre ungerecht, er wirft ja die meisten Stummel oben zwischen die Gleise. Nur von Läppert gibt es keine Reste. Halt ein Schwob, der Herr Pänibel! Von Maria sieht man auch nichts. Am Montag landete eine ärztliche Krankmeldung im Präsidium. Acht Tage dienstunfähig, hauskrank, ha, ha, ha. Sie war aber nicht zu Hause. Zumindest nicht in Vennhausen, Auch nicht bei ihren Eltern in Neuwied, wo Ganser am Montag angerufen hat. Jetzt müsste Rotkäppchen aber bald mit den Mittagstöpfen kommen. Braucht der Mensch da drinnen denn nicht mal frische Luft? Vielleicht kämen sie ja wirklich weiter, wenn sie die Person dort einfach befragten. »So ein Theater!«, hatte Läppert wegen der Nachtwachen geflucht. »Geh doch hin und nimm ihn in die Mangel!«
In Gedanken versunken wird Gernot Ganser von dem vorbeirauschenden Zug doch überrascht. Stolpernd fällt er in den alten Zaun vor Helbigs Garten und klammert sich mit beiden Händen an den rostigen Drahtrhomben fest. Scheiße, lauter braune Flecken!
Drüben am Haus quietscht eine Tür.
*
Die goldene Uhr am Handgelenk von Ministerialdirektor Riechmann zeigt genau zwölf Uhr. Wenigstens fangen sie hier in Düsseldorf pünktlich an. Der Ernst der Lage rund um den Staatsbesuch macht seine Anwesenheit beim Mittwochskrisenstab des Innenministers erforderlich. Die Vorbereitungen für die Ablauforganisation des zweiten Teiles der Belfaster Bedingungen liefen weiter auf vollen Touren. In den verbleibenden Tagen mochte ja der einen oder anderen Partei doch noch ein Erfolg beschieden sein, aber weder die Führung der Provisorischen IRA noch die sogenannten TWC-Experten des Mr. Philipps haben bislang Kontakt zu dem abgetauchten Special Active Service Unit aufnehmen können. Und von den beschränkten Möglichkeiten der deutschen Polizei erwartet er noch am wenigsten.
»Bitte!«, gibt der Gastgeber, der noch mitgenommener als sonst wirkt, das Zeichen zum Beginn.
Der Leiter dieses mit so viel Hoffnungen zusammengestellten Spezialisten-Teams gibt seinen Bericht über den Stand der Dinge. Der Mann klingt müde, ist wohl auch völlig überfordert, findet Riechmann. Alle vier sehen ziemlich fertig aus.
Der Düsseldorfer, den Riechmann mittlerweile von mehreren unerquicklichen Telefonaten her kennt, berichtet über die langwierige Enttarnung einer angeblich konspirativen Wohnung im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Moment mal, wieso sagt der »angeblich«? Die dort gefundenen Beweisstücke und Hinweise führen nicht sehr viel weiter. Jedenfalls hat die Wohnung in Köln, mit welch enormem Personalaufwand sie auch entdeckt wurde, sie bei der Suche nach der Identität des Kommandos und dessen Zielen keinen Schritt weitergebracht. Na bitte, denkt Riechmann und lehnt sich bestätigt in seinem Stuhl zurück. Auch die erneuten Fingerzeige in Form von Lageplänen aus Köln und Bonn seien wohl eher zur Irreführung der ermittelnden Dienststellen ausgelegt worden. »Aber so etwas haben wir erwartet. Die Absicht des Kommandos, uns vom wirklichen Ort des beabsichtigten Anschlages durch gezielte Fehlinformationen abzulenken, ist dem ISAT schon längere Zeit klar gewesen, dies insbesondere aufgrund der umfassenden Sachkenntnis meiner ausländischen Kollegen von ähnlichen Fällen! Wir haben uns daher mit dieser Art von Nebenschauplätzen nicht mehr sonderlich befasst und sind für uns von folgender Lage ausgegangen ...«
Wäre die IRA-Kommando-Einheit jetzt hereingebrochen und hätte eine Splittergranate in die hochkarätige Versammlung geworfen, die Wirkung hätte nicht größer sein können. Riechmann, dessen Instinkt schon bei dem Wort »angeblich« dieses Düsseldorfer Polizisten angeschlagen hat, sieht rings um sich teils erstaunte, teils sogar erregte Gesichter. Der Innenminister wittert wieder Zukunft. Auch der Mann aus dem Bundeskanzleramt stellt bei sich selber fest, dass er diese Leute vielleicht doch unterschätzt hat. Sollte etwa die verfahrene Situation von dieser schwach eingeschätzten Seite bereinigt werden?
Die vier ISAT-Leute warten die Aufregung am Tisch ruhig ab, bevor Captain Hart den Vortrag seines deutschen Kollegen fortsetzt.
»Die Hypothese, dass ein solcher Anschlag unbedingt auf Schloss Benrath erfolgen würde, hatten wir schon sehr früh aufgestellt. Es ist insofern schon eine kleine Randbemerkung wert, als gerade die ausgestreuten Irreführungshinweise in Berlin und Köln uns nach und nach immer mehr in unseren Auffassungen bestärkten. Als wir uns dann übereinstimmend sicher waren, mussten wir eine Reihe von Maßnahmen durchführen, deren Erfolg entscheidend davon abhing, dass sie niemandem außerhalb des engsten ISAT-Kreises bekannt wurden. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Pläne für den Besuch der Königlichen Hoheiten den >IRAs< schon zu einer Zeit bekannt waren, als der Staatsbesuch noch auf höchster Ebene als Top-Secret gehandelt wurde!«
Fast hätte Riechmann lauthals losgelacht. Die Mienen der Männer an dem runden Tisch sprechen Bände. Der hat Nerven, dieser Engländer! Sitzt vor einem Kreis hochrangiger Geheimnisträger von Innenministerium, Auswärtigem Amt und Bundeskanzleramt und knallt ihnen ins Gesicht, dass sie wahrscheinlich kein Wort für sich behalten können.
»Wir verfügen über umfassendes Bildmaterial von Leuten, die entweder schon als Mitglieder der Provisionals bekannt waren oder dessen verdächtigt wurden. Dieses Material war aber zu umfangreich, um damit auf eine gezielte Suche gehen zu können. Wir wussten ja außerdem nicht, wen wir genau suchten, und hatten nur die Vermutung, dass Benrath das ausgewählte Zielobjekt sein würde. Deshalb bezogen wir eine weitere Hypothese in unsere Maßnahmen ein: Um den geplanten Anschlag vorzubereiten, würden die Kommandomitglieder das Objekt bis in alle Einzelheiten selbst ausspähen müssen. Pläne, Lageskizzen oder Fotografien ersetzen nicht die eigene Kenntnis von den Dingen! Wir gingen weiterhin davon aus, dass diese Objektbeobachtungen bis in die letzte Planungsphase hinein laufen müssten, denn kurzfristige Sicherungsmaßnahmen unsererseits müssen in die Detailplanung der Operation mit einfließen. Können Sie das nachvollziehen?«
Du arroganter Hund, denkt Riechmann immer noch amüsiert. Dann wechselt der Vortrag wieder auf Hauptkommissar Benedict über, der eine große Papierrolle ausbreitet und mit Hilfe eines der Iren hinter sich an die Textiltapete heftet: der Plan von Schloss Benrath, Schlosspark und Zugangswege in Düsseldorf.
»Aus den eben von Captain Hart genannten Erwägungen heraus positionierten wir an den folgenden auf dem Plan markierten Punkten hochempfindliche Kameras, die rund um die Uhr sämtliche Personen ablichten, die den Bereich des Objektes betreten oder verlassen. Die einzelnen Kameras befinden sich an den folgenden Stationen: Urdenbacher Allee 25: für den Zugang zur Orangerie, Urdenbacher Allee 53: Brücke über Schlossbach, parkender Bus der Stadtwerke: Brücke Zugang Spiegelweiher/Stauwehr, STRABAG-Baufahrzeug: Bauplatz Rückseite Schlosspark, wechselnde Fahrzeuge mit zivilen Kennzeichen auf Parkplatz Hotel Rheinterrasse: Parkeingang Benrather Schlossufer, Melliesallee 20: Seiteneingang Schlosspark, Portalhaus rechts: Zugang Schloss von Benrather Schlossallee aus, Portalhaus links: desgleichen von der anderen Seite. Zusätzlich befinden sich vier Video-Kameras in ständigem Einsatz. Kamera 1 + 2«, der Hauptkommissar, dessen Stimme bei Weitem nicht mehr so müde klingt wie zu Beginn der Veranstaltung, tippt mit einem Kuli auf einen Punkt gegenüber dem Schlossteppich auf dem Plan, »über einer Arztpraxis im ersten Stock dieses Gebäudes an der Benrather Schlossallee hier, und die Kamera drei und vier etwas versetzt im zweiten Stock des Schloss-Hotels in der Erich-Müller-Straße 2. Beide Video-Stationen laufen ständig. Bei erforderlichen Bandwechseln übernimmt die freie Kamera. Diese Kameras haben die Aufgabe, sowohl den Fahrzeugverkehr in diesem Teilbereich zu dokumentieren als auch die Tätigkeit der Modellbootschiffer auf dem Schlossteich an den Wochenenden zu überwachen.«
Das Interesse in der Runde hat sich nicht gehalten. Auch Riechmann ist wieder in die alte Skepsis zurückgefallen. Er stellt dann auch die Frage, die sicher allen auf den Nägeln brennt: »Alles schön und gut. Viel Arbeit. Bemerkenswert, wirklich. Aber ist dabei auch was herausgekommen?« Er hat sich offensichtlich zu früh gefreut. Das Gesicht des Kommissars zeigt erneut einen Ausdruck betrübter Niedergeschlagenheit, fast Trauer. »Ich gebe jetzt einen Umschlag herum, meine Herren. In diesem Umschlag finden Sie drei Portraitvergrößerungen. Auf der Rückseite stehen die dazugehörigen Namen und nähere Erläuterungen. Wenn Sie sich die bitte erst einmal ansehen wollen!«
Neugierig beobachtet Riechmann das Gesicht des Innenministers von Nordrhein-Westfalen, als dieser die drei Fotos vor sich auf den Tisch legt, sie nach einem kurzen Blick umdreht und die Rückseiten langsam liest. Seine Kieferknochen beginnen zu mahlen, Sehnen spannen sich, unter dem linken Auge, da, wo sich erste Anzeichen von Tränensäcken zeigen, zuckt ein Nerv. Dann schiebt er die Fotos an seinen Referenten weiter. Gespannte Aufmerksamkeit pflanzt sich mit der Bilderwanderung am Tisch fort und erreicht schließlich den wartenden Riechmann. Auch auf ihm ruhen jetzt die Blicke. Donnerwetter! Wenn das kein Erfolg ist! Die Legende auf den Rückseiten bestätigt schlimmste Befürchtungen. Eine Frau auch dabei. Sogar der Kopf. So weit ist es also gekommen. Aber das kennen wir ja schon von der RAF. Die Weiber sind am schlimmsten.
»Danny McCann, Sean Savage und Mairead Farrell wurden von mehreren Positionen aufgenommen und einwandfrei identifiziert. Sie kennen die besonderen Qualifikationen dieser Personen von den Beschreibungen auf den Fotos. Es besteht somit Klarheit darüber, wer die Attentäter sind, wo das Attentat stattfinden soll und wann: am 5. November, während des großen Empfangs auf Schloss Benrath! Und um Ihren diesbezüglichen Fragen zuvorzukommen ...«, die wieder schleppende Stimme des Hauptkommissars hat etwas Abschließendes, »von zwei Sachen haben wir zur Zeit noch keine Kenntnis: erstens, auf welche Weise das Attentat durchgeführt werden soll, und zweitens, wo sich das Kommando aufhält! Vielen Dank!«
Der Leiter der Spezialistengruppe lässt sich schwer auf seinen Stuhl zurückfallen.
»Und dafür haben Sie höchstens noch fünf Tage Zeit!«
Ob er es mal mit dem Finger im Hals versuchen soll? Lange hätte er diese Versammlung von Dummschwätzern und Wichtigtuern nicht mehr ausgehalten. Sein ganzer Körper scheint eine einzige Brutstätte unbekannter Krankheiten zu sein: Schwerelos, wäre das ein schöner Zustand. Auf dem langen Flug nach Beteigeuze! Ist es nun der Kopf oder der Bauch? Auch entzündete Weisheitszähne sollen Ursache aller möglichen Krankheiten sein.
Da war er ja gerade noch mal so vorbeigeschlittert. Zum Glück war ihm noch die Idee mit der Schlossbesichtigung gekommen. Eine der Schlossführerinnen hatte die Frau auf dem Foto sofort erkannt. Und den Pfarrer ... na ja, den hatte er sich noch dazugelogen. So konnte er wenigstens mit zwei klaren Identifizierungen vor seine Kollegen treten. Er sei einfach mal mit ein paar Fotos losgezogen, hatte er ihnen gesagt, und die Farrell sei jetzt einwandfrei bestätigt. Die noch fehlende Dritte, seine Moira! Jerry Harts Blick war zwar sehr eigenartig gewesen, aber geschluckt hatte er es trotzdem. Wenn auch die Stimmung sehr heikel war. Ach Moira! Und Maria Leiden-Oster? Der verschwundene Racheengel kann jede Sekunde als weiteres Verhängnis in Erscheinung treten. Es ist zum ...
Ja, vielleicht hilft der Finger am Zäpfchen!
*
Victory! Victory! Victory! Top Score! You are the champion! - Victory! Victory! Victory! Top Score! You are the champion! - Victory! Victory! Vict... Immer noch mal verkünden elektronische Fanfaren seinen Sieg. Während Millionen goldener Sterne auf dem pulsierenden Blau des Bildschirms zu flimmernden Funkenschwärmen zerplatzen, bringt die geschlagene Herrscherin von Atlantis ihm demutsvoll ihre Opfergaben dar, ihm, dem Sieger! Ein heißes Glücksgefühl durchströmt ihn. Erstmals hat er es geschafft. Die klangvollen Töne des Sieges wandern aus dem Griff des Zauberschwertes Joy, das seine Hände kraftvoll umschlossen halten, in seinen erwartungsvollen Körper, aktivieren die Kraftfelder seines magischen Ringes, dessen Farben zu leuchten beginnen. Sensible Gehirnbahnen leiten die stimulierenden Impulse in das Zentrum seines Wollens. Es ist so weit. Der Ausgang seines großen Kampfes gegen die mächtige Herrscherin von Atlantis hat auch die schrillen Stimmen von draußen zum Verstummen gebracht. Sicher lauschen sie in ihren Verstecken, jammern vor Entsetzen, verbergen sich angstvoll vor den Schritten des Siegers.
Nun ist es an der Zeit, strahlend vor sie zu treten, im Glanze der Waffen. Es ist an der Zeit, das Feld der letzten Schlacht zu bereiten, der endgültigen Rache!
Der Mann nimmt die schwitzenden Hände vom Griff des heißen Joysticks, holt ein paar lederne Stiefel aus dem Wandschrank, zieht sie an und schlüpft in eine schwarze Lederjacke mit vielen Reißverschlüssen. Aus dem Versteck hinter den aufgereihten Computerprogrammen nimmt er die Gaspistole und das schwere Messer heraus. Er hält die Klinge kurz in das Licht der Lampe, braune Flecken auf bläulichem Glanz, wischt dann nachlässig damit über den Ärmel der Jacke und steckt dann beide Gegenstände ein. Vom Schrank nimmt er noch den schwarz lackierten Helm mit dem dunklen Visier. Der Mann öffnet die Tür nach draußen.
Die halb aufgerauchte Zigarette fliegt im Bogen durch die Nacht. Ganser verflucht im Geiste Personalknappheit, englischen Hochadel und die Leiden-Oster. Nicht in dieser Reihenfolge, aber in der Mischung und in Sekundenschnelle, denn er muss blitzschnell entscheiden, was zu tun ist.
Nach Tagen geduldigen Wartens verlässt die Gestalt am Mittwochabend um 21 Uhr 53 endlich das Laubengefängnis im Garten des Hauses Siedlerweg 69. Sie bewegt sich direkt auf den observierenden Kriminalhauptmeister Ganser vom Ersten Kommissariat zu. Keine Tür im Zaun! Bevor die dunkle Gestalt die letzten abschirmenden Büsche vor dem Zaun erreicht hat, macht Ganser einen gewaltigen Satz die Böschung hinauf und landet auf der anderen Gleisseite im Schotter. Laut schreit er auf, als er mit den Knien auf spitzen Steinen aufkommt. Noch einmal hat er Glück an diesem Abend. Der heranrumpelnde Güterzug übertönt die Schmerzenslaute des Polizisten. Unter den vorbeifahrenden Tankwagen hindurch versucht er die andere Seite zu beobachten, sieht aber nur verwischte Schatten und die starren Umrisse schon kahler Bäume.
Das rote Schlusssignal der langen Waggonschlange verschwindet Richtung Bahnhof Eller. Die Gestalt am Zaun ist verschwunden. Ohne zu überlegen, hetzt Ganser nach links zur Straße, wo auch sein Wagen geparkt ist. Wieder lächelte die Glücksfee dem Beamten zu. Den Schmerz im Knie vergessend, rennt er um die Ecke. Er bleibt abrupt stehen, als er sieht, wie in fünfzig Metern Entfernung die dunkle Gestalt eine Abdeckplane von einem Motorrad entfernt. Das Geräusch eines Kickstarts, dann stört das Knattern einer nicht sehr schweren Maschine die Idylle der nächtlichen Siedlung. Ganser steigt erst in seinen Wagen, als die Gestalt auf dem Motorrad die Beleuchtung einschaltet und in die Dreher Straße abbiegt. Bis zur Glashüttenstraße bleibt er dann gerade so weit hinter dem Motorrad, dass er es nicht an einer Ampel aus den Augen verliert. Dann wird der Verkehr dichter, sodass er näher heranfahren kann, ohne bemerkt zu werden. Er greift zum Mikrofon und ruft die Einsatzzentrale im Präsidium. »Düssel 23-4 bei Verfolgung verdächtiger Person von Objekt Rotkäppchen Richtung Unterbach. Verdächtiger fährt Motorrad mit dem Kennzeichen D-KN 854. Überprüfung des Halters! Ende.«
Ganser hängt das Mikro wieder in die Halterung neben dem Radio, kommt dabei mit der Hand an sein rechtes Knie und schreit leise auf. Er tastet hinunter und fühlt Feuchtigkeit. Im Licht der eingeschalteten Innenleuchte sieht er einen großen Riss in der Hose und eine blutende Wunde am Knie.
»Schon wieder eine Hose hin!«
Das Motorrad biegt jetzt in schneller Fahrt auf den Autobahnzubringer zum Kreuz Düsseldorf-Süd. Der Lautsprecher knarrt. »Düssel für Düssel 23-4. Kommen!«
Nur die Bestätigung seiner Vermutung. Der Halter der Maschine heißt Helbig, Michael. Polizeilich gemeldet in Düsseldorf, Siedlerweg 69. »Ende Düssel 23-4!«
*
Auf Anweisung des Innenministeriums wird für die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ein überraschender Einsatz angeordnet: Fahndung nach terroristischen Gewalttätern im Zuge allgemeiner Fahrzeugkontrollen auf allen Düsseldorfer Ausfallstraßen. Lächerlich, denkt der Einsatzleiter im Präsidium, wo soll ich bloß die Leute auftreiben. Aus der Großaktion wird so eine allgemeine Fahrzeugkontrolle mit wechselnden Standorten. Die wenigen Einsatzkräfte wechseln nach jeweils zwanzig Minuten die Kontroll-Standorte, um an der nächsten Ausfallstraße aufzutauchen. Düssel 40-4 und 20-1 befinden sich um 22 Uhr 10 am Standort Baumberger Weg, den sie gegen 22 Uhr 30 wieder abbauen werden. Nächster Standort auf dem Einsatzplan für die Beamten in Streifenwagen und VW-Bus wird der Kontrollpunkt auf dem Waldparkplatz hinter der Autobahnbrücke an der Hildener Straße sein.
Auf diesem Parkplatz steht seit 21 Uhr bereits ein VW-Bus mit ausgeschalteten Scheinwerfern und verhangenen Fenstern.
*
Wenn der immer hinten durch den Garten über den Zaun abgehauen ist, dann ist klar, dass Mutter Helbig davon nichts mitbekommen hat. Vielleicht hat sie also nicht mal eine bewusste Falschaussage gemacht. Will der heute noch nach Köln?
Aber an der Abfahrt Garath verlässt der Motorradfahrer die Autobahn und biegt auf die Schnellstraße Richtung Benrath. Hier kennt sich Ganser aus. Da war er mal lange zu Hause.
Der Mann vor ihm biegt am Bahnhof Benrath von der zweispurigen Schnellstraße ab, fährt unter der in Tunnelbeton gekleideten Straße nach links und wieder nach links auf die stadtauswärts führende Hildener Straße. Will der etwa zu Madeleine, denkt Ganser noch amüsiert. Da fällt ihm ein, dass hier die Geschichte mit den beiden Jungs aus der Disco passiert ist, und der Spaß vergeht ihm schnell wieder. Als könnte der Mann vor ihm Gansers Gedanken lesen, lenkt er die Maschine in einem engen Bogen quer über die Straße und fährt vor dem Yuppi Du auf den Bürgersteig. Während Ganser langsam vorbeifährt und in die Schimmelpfennigstraße abbiegt, sieht er im Seitenspiegel die Scheinwerfer des Motorrades verlöschen und den Fahrer absteigen. Einige Sekunden wartet er noch in dem dunklen Fahrzeug und versucht, die Ursache für das mulmige Gefühl festzustellen, das ihn immer stärker bedrängt. Liegt es an den vielen Erinnerungen, die in diesem Moment, als er auf die frühere gemeinsame Wohnung blickt, in ihm hochkommen? Oder an der Gefahr, die von diesem Ort auszugehen scheint, wie von den Flimmerhärchen einer auf den Felsen der Tiefsee lauernden Pflanze?
Als er endlich aus dem Wagen steigt und drückende Benrather Feuchtluft inhaliert, die mit etwas Leverkusen angereichert ist, kann er sie fast auf der Haut spüren: die Vibrationen unsichtbar drohender Gefahr.
»Eh, Alter! Lange nich' mehr gesehen!«
Einige der früheren Kumpels kennen ihn noch. Hatten früher sogar Fußball zusammen gespielt. Auf der Bezirkssportanlage an der Bayreuther Straße. Typischer Mittwochsbetrieb. Auch mit Madeleine war er oft hier gewesen. Sie hatten sich ausgetobt, so wie die jungen Leute heute. Mittwochs, freitags, samstags, die dröhnenden Disco-Nächte. Schwoof und Anmache, bis was geht. Und etwas geht immer.
Ganser kämpft sich durch das Gewühle bis zur Theke durch und bestellt ein Bier.
Mit dem Glas in der Hand dreht er sich zur Tanzfläche und lehnt sich mit dem Rücken zur Theke. Dicht gedrängt stehen sie auch hier. Aus den Augenwinkeln bemerkt er flüchtig ein ihm bekannt vorkommendes Gesicht, slawische Züge unter glattem Blondhaar. Und da! Inmitten der Tanzenden. Sein Mann. Michael Helbig. Der hat sich in der kurzen Zeit schon was Heißes gegriffen. Verliert keine Zeit, der Junge. Eine typische Discomieze, knapper Lederrock, schwarze Netzstrümpfe, enge Bluse, und über dem breiten Lächeln thront eine lila Perücke. Bei ihm scheint der alte Schwung allerdings dahin zu sein. Früher wäre er auf so was auch noch abgefahren, heute lässt ihn das kalt.
Die Bewegungen der Tänzerin, lockend und wiegend in den Hüften, kommen ihm eigenartig vertraut vor. Woher aber sollte er die wohl kennen? Scheint heute so ein Tag zu sein. Genau wie mit dem Mann, der da an der Theke steht und ihm jetzt seinen muskulösen Rücken zuwendet.
Schon nach dem vierten Tanz verlässt Michael Helbig mit der Perückenschönheit die Tanzfläche. Er führt das Mädchen in den hochhackigen Lackpumps zielsicher zum Ausgang.
Wieder wartet Ganser vorsichtig einige Minuten ab. Dann drängt er sich durch die laute Menge hindurch. Er schiebt einen im Wege Stehenden zur Seite, tritt dessen Mädchen auf die Füße, strauchelt über die langen Beine einer anderen.
»Du tickst doch wohl nicht sauber!«, hört er eine wütende Stimme und fühlt eine Hand, die ihn an der Schulter aufhält. Das zu der Stimme gehörende Gesicht, von Alkohol und Wut gerötet, taucht dicht vor seinem Kopf auf. Der Kriminalhauptmeister legt dem Brüllenden beruhigend die Hand auf den Arm. Aber die Fee hat sich für heute schlafen gelegt. Das Glück des Kriminalhauptmeisters Ganser ist vorbei. Schmerzhaft knallt ein harter Faustschlag an sein Ohr. Ein Knie trifft ihn von hinten am Oberschenkel. Er strauchelt nach vorn.
»Der Sack ist meiner Perle an die Wäsche gegangen!«, heult die Stimme über ihm. Füße, die treten. Hände, die ihn hochzuzerren versuchen. Er greift nach der Waffe in der Jackentasche.
Ein kräftiger Arm hält seine Hand fest. Sehr hellblaue Augen drohen kalt über breiten Wangenknochen. Der Blonde schüttelt warnend den Kopf. Als ein weiterer Faustschlag Gansers Lippen zum Platzen bringt und er warmes Blut auf der Zunge schmeckt, sagt der blonde Mann sehr ruhig inmitten des Tumults: »Es langt jetzt! Ich schmeiße ihn raus!«
Das Mädchen mit den lila Haaren wendet sich sofort nach links. Sie drängt ihren Körper an den Mann in der Lederjacke und sagt heiser: »Ich habe mein Auto auf dem Parkplatz am Stadtwald stehen!« Der aber lässt sich von den Lockungen der Nachtschönen nicht verwirren. »Wir gehen lieber da hoch!« Fest wie eine Klammer ist der Griff seiner Hand an ihrem Ellenbogen, und sie folgt nach anfänglichem Zögern.
Von einem lustigen Spaziergang an frischer Luft ist keine Rede mehr. Die Schritte des Mannes werden schneller und schneller, als er sie an der Trinkhalle vorbei Richtung Telleringstraße zieht. Ihre Füße in den gelackten Tanzschuhen stolpern hilflos über das Pflaster, fast schleift sie der Ledermann im Klammergriff.
»Au, Mensch, du tust mir doch weh!«, versucht sie den schweigenden Bann zu brechen. Aber das Wesen an ihrer Seite sieht vor sich nur noch das Ende der Straße im Dunkel.
»Lass uns doch was reden!«, drängt sie. Hinter der Tünche bislang nur gespielter Panik schimmern erste wirkliche Ängste hindurch.
Der Mann mit der Frau im Arm hat sein Ziel fast erreicht. Mit einem Keuchen presst er die Widerstrebende an die Wand. Über ihnen dröhnt ein später Intercity vorbei. Jetzt beginnt sich die Frau zu wehren. Sie stachelt den Mann zu gefährlicher Wut an.
Dies ist das Feld der letzten Schlacht! Hier werde ich meine Brüder rächen! Mit dem Schwerte Joy! Jetzt!
»Jetzt! Jetzt!!! Je...«
*
»Hör dir das mal an! Die haben ja Funk im Wagen!«
Neugierig tritt der Polizist mit der Maschinenpistole näher. Barsch macht er dann eine schwankende Bewegung mit dem kurzen Lauf der Waffe. »Steigen Sie aus, alle!«
Aus dem mit Gardinen verhangenen VW-Bus, den die Beamten bei der Auffahrt auf den Kontrollpunkt am Waldparkplatz Hildener Straße zufällig vorgefunden haben, steigen sechs vermummte Gestalten.
»Hände hoch und an das Wagendach damit!«, bellt eine zweite Stimme alarmiert aus dem Dunkel. Die im Einsatzbus sitzenden Beamten springen mit ihren Waffen im Anschlag heraus und umstellen die Gruppe am VW-Bus. Die Frau am Steuer, die als einzige kein Tuch vor dem Gesicht hat, steigt vom Fahrersitz herunter. In den erhobenen Händen hält sie ihre Papiere.
Ein weiterer Beamter sieht sich jetzt die Fahrerkabine von innen an. Er stößt nach wenigen Sekunden einen lauten Pfiff aus. »Na, seht euch das mal an!« Als er herausspringt, hält er einen länglichen Kasten in der Hand und geht damit zu der wartenden Fahrerin hinüber. »Das hier ist ein Polizeifunkgerät! Können Sie mir das erklären?«
Die Frau starrt mit abwesendem Blick auf das nur noch leise rauschende Gerät in der Hand des Polizisten. Auf das Gerät, aus dem vor wenigen Augenblicken noch das vereinbarte Signalwort gekommen ist. Jetzt rauscht es nur noch.
Im Licht seines Handstrahlers sieht der Kontrollbeamte, wie über das Gesicht der Frau vor ihm Tränen laufen.
*
Mit einer wischenden Bewegung des rechten Unterarms schlägt der Ledermann das knatternde Funkgerät der Frau aus der Hand. Scheppernd prallt es an die Mauer und fällt dann auf den Boden. Der schwere Stiefelabsatz bringt es endgültig zum Verstummen, splitterndes Plastik. Wutentbrannt drückt er die linke Hand auf den Kehlkopf des Mädchens, das den zwingenden Würgegriff durch schnelle Bewegungen des Oberkörpers zu lockern versucht. Ein krachender Faustschlag trifft das Kinn der Zuckenden. Knochen splittern. Der Stein in der schweren Silberfassung seines Ringes hinterlässt eine blutige Furche im Gesicht der vor Schmerz Aufstöhnenden.
Dennoch versucht die Geschockte, sich über die Wellen des Schmerzes hinweg angestrengt an die Lehren ihrer Ausbildung zu erinnern. Sie versammelt alle Energie in einer gewaltigen Anspannung von Sprung- und Kniegelenken, will den sie vernichtenden Angreifer mit einer einzigen Freisetzung ihrer Kampfkraft abschütteln und bezwingen.
Während sie so mit der Überwindung ihres schweren Schockzustandes kämpft, hat der Mann das schwere Messer aus der Tasche seiner Jacke gerissen. Der Moment ist da!
Die Frau hat sich gefangen. Sie konzentriert die Sicherheit und Erfahrung ihres Könnens in einer alles entscheidenden Bewegung.
Los!- Waas ...
Die braun gefleckte Messerschneide saust auf die Frau nieder. Sie dringt tief in die gleichzeitig vorschnellende Brust ein. Einmal, zweimal, dreimal ... dann zieht der wollüstig keuchende Mann das Messer heraus und lässt den schlaffen Körper auf den Boden zu seinen Füßen klatschen. Noch immer schwer atmend steckt er das Messer mit der blutigen Klinge in die Tasche seiner Lederjacke zurück. Ohne einen Blick auf die am Boden Liegende zu verschwenden, dreht er sich ab und verschwindet hochaufgerichtet in der Dunkelheit.
*
»Wo sind sie lang?«, fragt Ganser keuchend, als er da draußen auf der Straße steht.
»Wer?«
»Die mit den lila Haaren! Mit dem Typen in der Lederkluft!«
Die neben dem Motorrad Herumlungernden versuchen ihr Spiel mit ihm.
»Ach die ... warum willst’n das wissen?«
Jetzt langt es. Nicht mehr mit ihm. Genug Leute haben auf ihm herumgetrampelt. Ganser zieht die Dienstwaffe und richtet den Lauf der Sig-Sauer drohend auf den Nächststehenden. »Wohin?«
»Da hoch, Mensch. Mach keinen Scheiß! Richtung Eishalle, glaub' ich. Aber schon ’ne Weile her!«
Die Lungen wollen bersten, stechendes Klopfen im rechten Knie, im Kopf Dröhnen und Pfeifen, ein Auge schon fast zugeschwollen, und im Mund spürt er den fauligen Geschmack gerinnenden Blutes. Ganser hetzt die leere Straße hinauf. Gepeinigt von der Angst, zu spät zu kommen, ein Verbrechen nicht mehr verhindern zu können.
Schon von Weitem kann der Heranpreschende den Körper am Ende der Sackgasse liegen sehen. Atemlos verharrt er vor dem leblosen Körper. Eine lila Perücke daneben im Sand. Ein blutverschmiertes Gesicht.
Aber es kommt noch Stöhnen aus dem geschundenen Leib.
Er versucht, den Oberkörper der Frau an der Mauer aufzurichten und seine Jacke unter die nun lehnende Frau zu schieben. Dabei legt er die Hände von hinten um ihre Brust. Erneutes Stöhnen. Er fühlt warme Feuchtigkeit an den Fingern, betrachtet sie im diffusen Licht einer weit entfernten Straßenlaterne. Blut.
»Aufmachen! Aufmachen! Polizei!«, hämmert er wütend an die Tür des verschlossenen Restaurants. Wieder und wieder. Dann endlich taucht der Patron verschlafen aus den hinteren Räumen auf.
»Telefon! Mann, wo ist das Telefon!«
Ein Streifenwagen und ein Einsatzbus sind überraschend schnell am Tatort.
»Sieht böse aus, Schicki!«, murmelt der Streifenführer nach einem kurzen Blick auf die blutverschmierte Frau an der Mauer. »Hier war doch vorKurzem schon mal was!«, fügt er ahnungsvoll hinzu.
Die Sirene des herannahenden Ambulanzwagens unterbricht die traurige Konversation. Der Notarzt führt energisch erste Versorgungsmaßnahmen durch,
»Wo kommt sie hin?«, fragt Ganser den beschäftigten Mann knapp.
»Hier nach Benrath. Wir können sie nicht lange transportieren. Zu hoher Blutverlust!«
Ganser überlegt kurz, was er tun soll. Den Helbig kriege ich auch noch später, das hier ist wichtiger. »Vor der Disco Yuppi Du steht ein Motorrad. Stell das sicher und bringe es ins Präsidium!«, wendet er sich an den Streifenführer. »Ich fahre mit dem Arzt ins Krankenhaus!«
»Du?«
»Ja. Es ist eine Kollegin von uns!«