Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 35

14

Оглавление

»Guten Morgen! Schöner Tag heute!« Der junge Posten am Eingang des Bundeskanzleramtes knallt die Hacken zusammen.

Ministerialdirektor Riechmann hat alles fest im Griff. Seit Montagmorgen ist er fast jeden Tag der erste Früharbeiter im Amt, erstaunt beäugt von den jungen Männern in den dunkelgrünen Bundesgrenzschutzuniformen. Heute, am vierten Tag der Woche, kann er mit Befriedigung feststellen, dass auch die Planung für die Erfüllung des zweiten Teiles der IRA-Bedingungen angelaufen ist. Alles klappt.

Eine Stunde später weiß Ministerialdirektor Riechmann wieder einmal um die tiefe Wahrheit so schöner alter Volksweisheiten, wie »Morgenstund' ist aller Laster Anfang« oder »Frühen Vogel frisst die Katz«. Um diese Zeit muss er nämlich davon ausgehen, dass irgendetwas nicht planmäßig abläuft. Mr. Philipps konnte am Telefon kaum seine Besorgnis verbergen. »Bitte, seien Sie um 11 Uhr in der Flughafen-Cafeteria! Ich muss Sie dort dringend sprechen!« Dann brach die Verbindung ab.

Um 12 Uhr ist Johann Riechmann, der Sonderbeauftragte der Bundesregierung, über das gesamte Ausmaß einer möglicherweise katastrophalen Entwicklung informiert, die ihm der TWC-Unterhändler in knappen Worten geschildert hat.

»Noch am Sonntagabend, nach Abschluss der gemeinsam getroffenen Vereinbarungen, suchte ein Sonderkurier unserer irischen Geschäftspartner den Stützpunkt der betroffenen Einheit in der Nähe von Düsseldorf auf. Die Einheit erhielt den Befehl zum Abbruch der Operation mündlich sowie schriftlich mit der entsprechenden Kennung übermittelt. Für das Kommando konnte also keinerlei Zweifel an der Echtheit des Befehls bestehen. Bitte beachten Sie diesen Umstand! Dazu erging die Anweisung, in dem Stützpunkt Spuren zu beseitigen und die Waffen zu deponieren. Der Schlussteil des Armeerat-Befehls forderte das Kommando auf, sich im Laufe des Dienstags, aber spätestens bis gestrigen Mittwoch 12 Uhr bei einer angegebenen Kontaktadresse in Nordirland zu melden. Bis heute am Donnerstag ist niemand von den Leuten an dieser Adresse aufgetaucht! - Ein Verbindungsmann, der noch gestern alarmiert wurde, suchte die Basiswohnung auf und stellte fest, dass sie offensichtlich geräumt worden war. Nach seinen Angaben waren keine Anzeichen überstürzter Flucht zu entdecken. Auch für eine Enttarnung der Wohnung durch die deutsche Polizei gibt es keine Anhaltspunkte. Stellen, die üblicherweise für die Grenzausschleusung gefährdeter IRA-Mitglieder zuständig sind, wurden bis heute nicht kontaktiert. Von Festnahmen in Westdeutschland oder in angrenzenden Ländern ist nichts bekannt. Das Kommando ist verschollen!«

Schwierige Situationen hat der bundesdeutsche Regierungsbeamte schon oft in seiner abwechslungsreichen Laufbahn durchgestanden, aber jetzt, während er trübe auf die unberührte Kaffeetasse vor sich starrt, hat er erstmals das Gefühl einer wirklichen Niederlage. Die Schlussfolgerungen des Mannes von der New Yorker TWC, die dieser jetzt in bedächtigem Tonfall anfügt, verfestigen Riechmanns Befürchtungen.

»Nach unserer Ansicht, und bei dieser Beurteilung stimmen die Auffassungen mit denen der IRA-Führung überein, bestehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder musste das Kommando aus unvorhergesehenen Gründen abtauchen, weil Gefahr der Verhaftung drohte oder ...«, auch dem TWC-Mann scheint der nun folgende Satz Schwierigkeiten zu bereiten, »... das Kommando ist so fest konditioniert und fixiert auf diesen Auftrag, dass es sich ganz bewusst der Befehlsautorität des Belfaster Armeerats entzogen hat. Immerhin operieren diese Einheiten sehr selbständig!«

»Und das heißt?«

Der Bonner Beamte greift nun doch zu der Tasse mit dem bereits kalten Kaffee.

»Das Kommando wird den geplanten Mordanschlag auf Ihre Gäste ausführen.«

Nein, da fällt keine Tasse klirrend auf den Tisch. Riechmann hat sich nur noch die Bestätigung für seine eigene, sehr realistische Einschätzung der Situation geben lassen. Aus! Aber er ist ein Langstreckenläufer. »Sie sind unser Hauptvertragspartner. Auch Sie verlieren viel, wenn das Geschäft platzt! So oder so.«

»Uns ist die Geschäftsbasis bekannt!«, betont der TWC-Negotiator ärgerlich. »Seit gestern Abend befindet sich in Düsseldorf ein sofort alarmiertes Expertenteam unserer Firma, um die Geschäftsbasis wiederherzustellen. Auch wir, werter Herr Riechmann, verlieren ungern Geld. Wir verlieren überhaupt sehr ungern!«

*


Benedicts kurze Ruhepause ist nur noch eine flüchtige Erinnerung in einem Mini-Universum quäkender Funkgeräte, schrillender Telefone, ungeduldiger Anweisungen und zu lang getragener Unterwäsche.

Der Anruf kommt drüben vom Präsidium.

»Passen Sie auf! Ich sag’s nur einmal! Sie suchen Leute! Hilden, Köbener Straße, zweiter Stock von Nummer neun, erster Block in der Straße! Ende!«

Von wegen Müdigkeit! Der Regenschauer hat auf gehört. Zu viert stürzen sie sich in den braunen Passat. Nach zwanzig Minuten sind sie im Düsseldorfer Vorortbereich. Eine typische Umgebung. Typisch für solche Leute, würde Neuner vom BKA sagen. Dass ihr da nicht sofort drauf gekommen seid! Mehrere Autobahnauffahrten in Steinwurfnähe. Fluchtweg nach hinten. Autobahnkreuz Hilden, Auffahrt Düsseldorf-Süd und B 228. Eine Trafostation. Anonyme Wohnblocks in Fertigbauweise, eingeschachtelte Balkons mit traurigen Pflanzen, roh zusammengezimmerte Sandkästen, ein roter Gummiball in schmutzigem Spielsand, zwei vergammelte Holzbänke für Mütter, an der Ecke ein Lebensmittel-Supermarkt, eine gelbe Telefonzelle, grüne Abfallcontainer, eine Bushaltestelle, ein Bus der Linie 782 Richtung Solingen-Ohligs.

Die Haustür bereitet keine Probleme. Der Schließmechanismus ist wahrscheinlich schon länger kaputt. Ein graues Gummibaumwrack vegetiert in dem nach Desinfektionsmitteln riechenden Hausflur dahin. Sie gehen zu Fuß in den zweiten Stock und horchen an einer der vier Wohnungen. Nichts zu hören. Dann siegt die Ungeduld. Bei der zweiten Klingel ein Erfolg. Vorsichtig öffnet sich die stumpflackierte Tür einen Spaltbreit. »Hmmm? Was is?« Der unrasierte Mann in grauer Jogginghose und Unterhemd ist nicht sehr zuvorkommend.

»Polizei!« Richtig. So muss man das angehen. »Wer wohnt in den anderen Wohnungen?«

Der Mann führt sie eingeschüchtert zum Hausmeister in den Keller.

In der Wohnung nach hinten raus wohnen drei Ausländer. Haben die Wohnung vor zwei Monaten gemietet, angemeldet auf den Namen Joseph Müller. Na, wie fein, ein richtig ausländischer Name!

»Sehr ruhige Leute. Zwei Männer und eine Frau«, meint der Hausmeister, während er die Schlüssel rauskramt. »Es ist kaum etwas von ihnen zu hören. Ist denn was mit denen?«

»Nur eine Routineüberprüfung!«, bellt Benedict, und das hört sich an, wie »Halt die Schnauze, du Heini!«

Die Wohnung ist leer.

»Shit!«, flucht McGrath sehr laut.

Auch Jerry Hart und Patrick O’Connell sehen nicht gerade nach einem Sechser im Lotto aus.

Auf dem großen Esstisch in der Mitte des Wohnzimmers liegt ein Blatt Papier.

»Will uns hier jemand verarschen?«, entfährt es Benedict verblüfft. Neugierig lesen die drei anderen ISAT-Leute den mit spitzen Fingern gehaltenen Papierzettel.

»Diese Wohnung diente bis Montag als Basis eines IRA-Kommandos. Seitdem ist das Kommando untergetaucht. Sie wissen, welchen Auftrag es hat. Sie müssen den neuen Stützpunkt finden!«

Jerry Hart tippt sich wutentbrannt mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ist das hier Alice in Wonderland? Hier will uns doch wirklich jemand auf den Arm nehmen! Das ist doch kein Kinderspiel!«

Vorsichtshalber lassen sie die Wohnung versiegeln. Am Nachmittag wird sie auf Fingerabdrücke und Spuren untersucht werden. Die Angaben des Hausmeisters raten zur Vorsicht: drei Mieter und dabei die typische Personalzusammensetzung eines Active Service Units, zwei Männer und eine Frau! Wer sonst als das Kommando selbst konnte über dessen Absichten so genau Bescheid wissen, war überhaupt von dessen Existenz in Düsseldorf unterrichtet? Es war kaum anzunehmen, dass solche Scherze von der englischen Special Branch oder vom deutschen BKA gemacht würden: quasi als unterhaltsames Fronttheater zur Erbauung der müden ISAT-Krieger. Aber wer hat dann diese Nachricht geschrieben und den anonymen Anruf gemacht? Zu welchem Zweck? Und wo sind die IRA-Leute hin, falls es das Kommando war?

Benedict nimmt den Hausmeister mit ins Präsidium und legt ihm dort das Foto von Danny McCann vor.

»Das ist er! Das ist Herr Müller!«

Wo, verdammt noch mal, liegt hier die Logik? Wo sind sie abgeblieben? Und warum sind sie verschwunden?

»Vielleicht wieder ein Ablenkungsmanöver?«, spricht Captain Hart die heimliche Befürchtung des Hauptkommissars aus.

*


Arvi Hattunen ist nach Ansicht von Kollegen und Vorgesetzten ein völlig humorloser Mensch. Natürlich wäre es möglich, dass der aus dem mittelfinnischen Jyväskylä stammende Blonde eine sehr nordische Spielart des Witzes hinter seiner breiten Stirn versteckt. Jedenfalls hat er sich davon bislang noch nichts anmerken lassen.

Während er die kurze Nachricht an den Düsseldorfer Polizisten im Präsidium übermittelt, erscheint vor seinem inneren Auge ganz kurz ein sturmzerstaubter Strand auf einer Kanareninsel. Der Kopf dieses Polizisten, der gerade am anderen Ende der Telefonleitung ist, im hellen Fenster seines SUSAT-Visiers. Hätte er damals gezuckt, würde er jetzt nicht mit ihm reden. Logisch. Aber damals hatte er keinen Befehl zum Abdrücken, und heute hat er einen ganz anderen Befehl. Versteh einer die Welt.

Aber das braucht der ehemalige Angehörige der finnischen Sissi-Ledernacken nicht. Als Mitglied des TWC-Alert-Teams muss er nur seine angeordneten Aufgaben durchführen. Zusammen mit Emin Inönü, der vor Kurzem noch bei der Schutzgarde der Grauen Wölfe war, und Peter Jaspers, den sie vor drei Jahren in Mogambique von einem Baum geschnitten hatten, kurz bevor ihm der Hintern durchs Hosenbein geflutscht ist. Seitdem hieß der Südafrikaner überall nur noch Baumkind. Aber auch das findet Hattunen nicht witzig. Außerdem waren er und seine Kameraden nicht zum Lachen in Düsseldorf.

Ein Auftrag war gefährdet, weil sich ein Geschäftspartner nicht an die getroffenen Vereinbarungen hielt. Und das war so ungefähr das Schlimmste, was nach der TWC-Geschäfts-Charta passieren konnte. Gleich danach kam die Abwehr erkannter Übernahmeattacken durch befreundete Unternehmen!

Das Alert-Team der TWG, ein zusammengewürfelter Combat-Haufen, der in alphabetischer Reihenfolge bei der Einsatzbereitschaft abgerufen wurde und aus abkömmlichen Mitgliedern normaler Einsatzteams besteht, war vom Negotiator in Marsch gesetzt und gebrieft worden. Reiner Zufall will es, dass Arvi Hattunen schon einmal hier in Düsseldorf war. Damals, als Scharfschützenteil seines normalen RCE-Arbeitsteams, war er kurz an den Düsseldorfer Hauptkommissar geraten. Nur weil Schulz und Brady noch mit ihren Schussverletzungen in einem Hospital in Australien liegen, ist er in der Alarmbereitschaft gewesen. »Findet diese IRA-Spinner und schaltet sie aus! Der geplante Anschlag auf die Roy als muss verhindert werden! Mit allen Mitteln!«

Eine klare Situation für die drei. Sie setzten sich sofort auf die Spur, untersuchten dann die Wohnung genau und sprachen mit Kontaktleuten bei den Arabern. Peter Jaspers machte die Irish Pubs unsicher. Der Supervisor Westdeutschland hatte für eine Basiswohnung in der Nähe des Schlosses Benrath gesorgt. Erste Ergebnisse zeichneten sich ab.

»Für uns zählt das Einhalten der Geschäftsbedingungen«, hatte der Negotiator gesagt, »die Königlichen müssen Westdeutschland nach dem Staatsbesuch unbehelligt verlassen! Schaffen die Deutschen das, gut. Schaffen wir das, genauso gut. In jedem Fall bekommt die Firma ihre Provision!«

»Und wenn es niemand schafft, das Kommando auszuschalten?«, hatte der Türke keck nachgefragt.

Hattunen war fast der Atem weggeblieben. Ein Misserfolg war bei den Aktionen der TWC nicht vorgesehen.

Aber der Negotiator hatte bedächtig geantwortet: »Dann gibt es keine königlichen Hoheiten mehr, keine Provision für die TWC ... und keine Prämie für euch!«

Also hatte Hattunen befehlsgemäß den Deutschen Vitus H. Benedict mit der Information über die irische Basiswohnung in Hilden beliefert.

*


Ihre einzige Chance, McCann!

Vielleicht haben sie ja aufgegeben, haben ihr Vorhaben als Irrsinn erkannt.

»Für die gibt es nichts Irrsinniges!«, meint O’Connell in der anschließenden Diskussion. Und der muss es ja wissen!

Nochmals weist Benedict die Beobachtungsstationen auf das Foto des IRA-Scharfschützen hin. Der Befehl des Hauptkommissars, jeden Besucher der Anlage mit dem Foto zu vergleichen, gleicht eher einem flehentlichen Appell. »Das ist ein ganz ausgebuffter Hund, und er schießt sofort!« ermahnt er auch die Bereitschafts-Bussarde nochmals.

»Köln!«, reicht ihm Hauptmeister Liszt ein Telefonat rüber.

»Heureka!«, brüllt die Stimme aus der Membrane. So laut, dass der Hauptkommissar den Hörer weit von sich weghält. So können alle ISAT-Leute die freudige Nachricht auch vernehmen: Die Schmitz-Kommission ist bei der Durchsuchung des Kölner Heuhaufens auf die berühmte Stecknadel gestoßen.

Zum zweiten Mal sind die vier Männer heute mit dem braunen Dienst-Passat unterwegs.

Es ist Mittag, und die Mägen knurren. Benedict hält kurz an der Raststätte Ohligser Heide an und kommt wenig später mit einem Arm voll Kartoffelchips und Schokoladenriegeln zurück. Schweigend essen die ISAT-Leute Schwerverdauliches.

Die Wohnung des Johannes Schmitz, im Schatten des Kölner Fernmeldeturms gelegen, war die Nummer 5891 auf der ISAT-Computerliste. Der junge Polizist, des mühseligen Abfragens schon länger überdrüssig, wollte sich nach erfolglosem Klingeln an der Haustür schnell wieder absetzen. Dieses Vorhaben vereitelte dann die berühmt-berüchtigte Nachbarschaftshilfe des Ehrenfelder Quartiers.

An einem Fenster des Nebengebäudes wurden resolut Blumentöpfe und Gardinen zur Seite geschoben. Ein Fensterflügel öffnete sich quietschend im ersten Stock, und eine Frauenstimme, der man die belgische Heimat noch anmerkte, sang herunter: »Wollen Sie zu wem Bestimmtes?«

Und so würde der junge Polizist wohl zu seiner ersten Belobigung in der Personalakte kommen. Die freundliche Nachbarin wusste nämlich genau, dass der Hennes Schmitz - »Fuffzich, und schon in Rente! Dä hat et joot!« - seit Oktober schon auf Mallorca ist und vor Mai nächsten Jahres nicht zurückkommen wird. »Wie dä sisch dat leisten kann! Also unsereiner kann dat nich!«

Bis vor zwei Wochen sei die Wohnung von einer jungen Frau einmal die Woche gelüftet worden.

»Dat war komisch von dä Hennes. Dat Mädschen kannte hier kein Mensch. So wat seh’n wir hier nich so jerne!«

Aber vor zwei Wochen habe das Mädchen die Wohnungsschlüssel einer anderen Bewohnerin des Hauses auf der Everhardstraße übergeben.

»Die macht dat jetz. So jehört sich dat auch!«

Und gerade als der junge Beamte noch überlegte, ob das etwas Ungewöhnliches sei, dem er nachzugehen habe, kam aus Richtung Subbelrather Straße mit Taschen beladen eben jene Hausbewohnerin. Die Nachbarin von nebenan ließ ihm keine Chance und teilte der schwer atmenden Frau das Ansinnen des »jungen Mannes von der Polizei« mit. Wenig später schon fand sich der Beamte in der sauber aufgeräumten Junggesellenwohnung des Johannes Schmitz wieder.

Geduldig hört sich Benedict im Wagen des Kölner Einsatzleiters den Bericht an. Draußen tummelt sich eine Menge Volk. In einem Kneipeneingang an der Ecke Subbelrather drängen sich angetrunkene Neugierige. Kleine Jungen mit kurzgeschorenen Rundköpfen bewundern aus großen Augen die grünen Polizeikräder.

In der Wohnung im zweiten Stock haben die Kölner Beamten auf Plastikfolie die nummerierte Strecke ausgelegt. Die Fundstücke sind nur vor oberflächlicher Betrachtung verborgen gewesen. Kleine Schilder mit Zahlen markieren die Fundorte in der Wohnung. Die 1 auf der Küchenanrichte gehört zu einem unter Bestecken gefundenen PKW-Kennzeichen für englische Militärfahrzeuge, die 2 auf dem Beistelltischchen in der Wohnzimmerecke zu einem Sprengzünder, der in der Erde eines gewaltigen Ficus Benjamin verborgen war, die 3 zu einem Lageplan der Bonner Residenz des britischen Botschafters zwischen uralten Fernsehzeitschriften unter dem Fernseher und die 4 auf dem Wäschefach des geöffneten Kleiderschranks zu einer Neun-Millimeter-Browning-Pistole.

»Ist wie Ostern heute, nicht?«, meint Captain Hart distanziert.

»Bist du sicher? Und was meint ihr?«

McGrath spuckt aus und schüttelt den Kopf.

Mit einem lauten Prusten lässt O’Connell Luft ab. Auf seinem Gesicht spiegelt sich Unschlüssigkeit wider. »Lass uns das nachher im Büro besprechen. Wir müssen das alle erst mal verdauen!«

»Okay«, nickt Benedict. »Sie untersuchen das ja noch nach Spuren, Fingerabdrücken und so«, wendet er sich dann dem Kölner Einsatzleiter wieder zu. »Wenn Sie was finden ... Sie haben ja unsere Nummer. Ach ja, den Wohnungsinhaber müssen Sie natürlich auch sofort vernehmen lassen. Wir müssen wissen, wie das hier gelaufen ist und wie tief der da mit drinsteckt!«

»Aber der ist auf Mallorca!«

»Ihr Problem, Kollege!«

Berlin. Benrath. Hilden. Köln. Bonn.

Wenn nun doch nicht Benrath? Sondern wirklich Köln oder Bonn? Und Benrath ist nur der ablenkende Schachzug, während der richtige Anschlag in der Domstadt ausgeführt wird? Oder während der Fahrt in die Bonner Residenz? Oder ...

Die Entdeckung der Wohnung in der Kölner Everhardstraße hat die Spannung innerhalb des ISAT erneut auf neue Höhen getrieben. Selbst Jerry Hart, sonst kaum von Selbstzweifeln geplagt, hat eine nachdenklich gefurchte Stirn bekommen.

Benedict knispelt nervös mit den Fingernägeln. Was könnte man noch tun?

Gernot Ganser ist doch in Benrath zu Hause gewesen. Der ist zwar voll und ganz mit der Spritzer-Sache beschäftigt, aber vielleicht könnte er sich ja trotzdem ganz nebenbei bei seinen Spezies umhören. Vielleicht wissen die was.

Sollte er anrufen? Nein, er musste unbedingt mal raus aus dem beengenden Beieinander der ISAT-Kollegen.

Drüben im zweiten Stock des Präsidiums herrscht erholsame Ruhe auf den Fluren, die sogar für einen Spätnachmittag unüblich ist.

Im 1. K ist es still. Als er nur die Kommissarin Leiden-Oster an ihrem Schreibtisch sitzen sieht, will er sich eilig wieder verziehen. Doch zu spät.

»Ach ... Tach ...«

»Tag. Ist der Ganser nicht da?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wo er ist?«

»Hat sich bei mir nicht abgemeldet!«

Normalerweise wäre der Leiter des 1. K bei dieser Bemerkung schon in die Luft gegangen, aber er sagt nur lahm »Na denn ...« und versucht sich enttäuscht davonzumachen. In Gedanken ist er schon wieder mit den Orten Benrath, Bonn und Köln beschäftigt, und er hört nicht einmal mit einem halben Ohr auf das, was die Kommissarin ihm in sehr entschlossenem und irgendwie bedrohlichem Tonfall sagt. Dieser Tonfall, der sich wesentlich von den heftigen Zornesausbrüchen unterscheidet, mit denen Benedict in den letzten Wochen häufiger konfrontiert war, hätte bei ihm unter normalen Umständen sämtliche Alarmglocken aufschrillen lassen.

»Nein, Kollege Benedict. Ich weiß nicht, wo der Kriminalhauptmeister Ganser ist. Ich weiß aber, dass Läppert, Neumann, Franzen und Schippers bis gestern bei dem PDV-130-Einsatz eingeteilt waren und heute Freizeitausgleich haben, Kollege Doemges als Zeuge im Garath-Prozess sitzt, die Leute vom 2. K nur noch sporadisch hier erscheinen und Sie offensichtlich kein Interesse an den Ermittlungen zeigen und ... na, ist ja egal Es langt!«

Das alles wird kühl und sachlich vorgebracht, ohne jedes Anzeichen innerer Bewegung.

»Ja, ja. Sie haben sicher recht ... sagen Sie dem Ganser, er soll mich anrufen, wenn er auftaucht. Machen Sie’s gut ...«

Wie gesagt, unter anderen Umständen hätte Benedict die Zeichen drohenden Unheils gespürt. So aber dreht er sich um, geht mit schlurfenden Schritten zum Lichtschacht und steigt, verfolgt von den kalten Blicken der Kommissarin, geistesabwesend in den klappernden Paternoster.

*


»Mensch, Schicki! Ist denn da noch keiner gewesen? Das ist doch jetzt schon fast zwei Monate her!«

Der immer noch blasse Mann im Krankenbett stützt sich auf die Ellenbogen hoch und betrachtet kopfschüttelnd das verschmierte Berichtsblatt in Gansers Händen. Auf der Krankentafel am Kopfende des weißen Bettgestells steht sein Name: Karl-Heinz Dunklenbroich, eingeliefert am 21. September. Erst heute Mittag ist es Ganser gelungen, den Aufenthaltsort Dunklenbroichs herauszufinden. Zwar hat er schon am Montagnachmittag gehört, dass der Kriminalhauptmeister mit einer Gelbsucht krank gemeldet ist, aber ob er immer noch im Krankenhaus liegt, hat ihm niemand sagen können. Bei dem alleinstehenden Kriminalhauptmeister, der in Viersen wohnt, ging niemand ans Telefon. Ein offensichtlich völlig überlasteter Kollege auf der Sanitätsstation murmelte irgendwas vom Evangelischen Krankenhaus Viersen, da sei er schließlich zu Hause. Nachdem Ganser sämtliche dortigen Krankenhäuser vergeblich abtelefoniert hatte, rief er abends ziemlich verzweifelt bei Doemges in Korschenbroich an. »Was soll die Hektik? Der liegt doch in der Uni-Klinik Moorenstraße. Ich habe ihn da doch schon besucht!«

So einfach war das.

»Irgend so ein Blödmann bei uns hat deinen Bericht mit Kaffee oder Cola vollgekleckert, dadurch ist er hinter einem anderen Blatt festgeklebt und weggeheftet worden. Einfach verschwunden. Unter die Räder gekommen!«

»Ferkelei«, murmelte der Rekonvaleszent, fährt dann aber alarmiert hoch, »wenn da noch niemand gewesen ist ...«

»Deshalb sitze ich ja hier! Also, du warst jedenfalls nicht mehr da?«

»Mmh, mmh. Ich lag auf der Schnauze!«, schüttelt Dunklenbroich heftig den Kopf.

»Und warum war dir das so wichtig, dass du es unterstrichen hast? Und was meinst du mit dem Fragezeichen bei der Mutter?«

»Ja, die Mutter«, versucht sich Dunklenbroich zu erinnern. »Ich glaube ... irgendwie hatte ich so den Eindruck ... also die schien mir zu der Sorte Mensch zu gehören, die ihrem Sohn auf jeden Fall ein Alibi geben würde. Frag mich bloß nicht, warum!«

Ganser lässt die Worte seines kranken Kollegen in sich nachklingen. Nach einer Weile fragt er noch: »Auch wenn dieser Sohn einen Mord begangen hätte?«

Dunklenbroich weicht der Tragweite einer Antwort geschickt aus. »Mit dem Helbig muss man auf jeden Fall noch mal sprechen. Schon um den Vorgang ordentlich abzuschließen!«

»Mmh. Ich fahre morgen gleich nach Gerresheim. Danke auf alle Fälle. Und ... gute Besserung, Kollege!«

*


Um ein Uhr nachts, es ist schon Freitag, ruft Chief Inspector Rory McGrath laut und deutlich »Bingo!«

Da ist keine Spur von Unsicherheit.

»Das Früchtchen kenne ich genau! Habe ihn 1982 selber vor Gericht gebracht. Wurde leider freigesprochen!«

Sean Savage, dreiundzwanzig Jahre alt. Schon mit siebzehn Jahren IRA-Mitglied, hochintelligent, Techniker, Bombenspezialist.

McCann und Savage. Schütze und Bomber. Eine brisante Paarung und die richtige Mischung für eine solche Sache.

Trotzdem ist Benedict erleichtert. Also doch Benrath, sie haben richtig entschieden.

Nach Ende der Bildauswertung sitzen sie um drei Uhr morgens nachdenklich an ihren Schreibtischen. Hauptkommissar Benedict fühlt sich nach einer Weile von Jerry Hart gemustert.

»Ja?«

»McCann und Savage. Zwei Spezialisten in ihrem Fach. Zwei Männer. Fehlt noch die Nummer drei, der Kopf, der alles plant und zusammenhält. Zwei Männer und eine Frau, hat der Mann aus Hilden heute morgen gesagt. McCann und Savage kennen wir. Wer ist die Frau, der Kopf?«

Unwillkürlich geht Benedicts Blick zur Fotoreihe an der Wand gegenüber. Dritte Reihe, siebtes und achtes Foto von links.

Die Augen des Captains versuchen seinen Blick einzufangen, aber der Hauptkommissar klatscht mit der flachen Hand auf die Liste vor sich und sagt überlaut: »Dann wollen wir mal die einzelnen Objekte zwischen uns aufteilen!«

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

Подняться наверх