Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 28
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Оглавление»Ach du lieber, mein Vater!«
Sollte bis zu diesem Freitagnachmittag Hauptkommissar Vitus H. Benedict der Ernst der Lage noch nicht klar geworden sein, dann führt mit dem Auftauchen der Bereitschaftsverstärkung für die ISAT-Gruppe kein Weg mehr an dieser Einschätzung vorbei. Liszt und Herrmann.
»Wer um Himmels willen hat euch zu uns geschickt?«
Hart, McGrath und O’Connell schauen der Szene verständnislos zu.
Dem riesigen Herrmann gelingt es, sich trotz seiner Körpermasse hinter seinem kleinen Kameraden zu verstecken, der schlitzohrig meint: »Fast richtig, Herr Hauptkommissar! Aber nicht direkt der Himmel, eher eine Etage tiefer: Der Leitende Kriminaldirektor hat uns von der Wache Garath zu Ihnen kommandiert!«
»Wir sollen uns zu Ihrer Verfügung halten!«, wagt sich jetzt auch Herrmann wieder ins Rampenlicht und mustert neugierig die ihm unbekannten Mitglieder des ISAT-Büros.
Die eisigen Drillinge in Benedicts Rückenmark strahlen Gefahr nach allen Seiten aus. Immer dann, wenn in der Vergangenheit diese beiden Angehörigen der Motorradstaffel in seiner Nähe auftauchten, kündeten sie von beginnenden Schwierigkeiten. Die Sache Yoshiwara, der Fall des ermordeten Bankdirektors und jetzt ...
Dabei waren die beiden Polizeihauptmeister vom Schutzbereich II durchaus willig, taten aber in ihrem bisher erfolglosen Streben nach kriminalpolizeilichen Weihen immer des Guten zu viel.
»Haben die in Garath denn so viel Leute, dass ihr da abkömmlich seid?«, knurrt Benedict bissig.
»Ach, Herr Hauptkommissar«, druckst >Bulle< Herrmann mit verdächtig kleiner Stimme, »wir waren doch nur Urlaubsvertretung.«
Polizeihauptmeister Liszt, von Kollegen >Maus< genannt, fasst sich ein Löwenherz und meint überlaut: »Das hat uns in Garath sowieso nicht gefallen. Da passieren so komische ... aua! Warum trittst du mir denn in die Hacken!«
Aber der Hauptkommissar hat keine Zeit mehr, den sich anbahnenden Zwist der beiden weiterzuverfolgen. Das Telefon klingelt. Und das nach fünf!
»Na, dann fangt mal an!«, sagt er mit einem knappen Wink in Richtung Telefon.
»Ja ... hallo ... Hauptmeister Liszt! Ja, ist da. Moment!« Der Kleine deckt mit der Hand die Muschel ab. »LKA Berlin, Herr Hauptkommissar. Lackmann oder so ähnlich!«
Wie auf ein Kommando fahren die Köpfe der ISAT-Leute herum. Benedict nimmt den Hörer ans Ohr. Während dieser kurzen Bewegung fährt ihm der Gedanke durchs Gehirn, natürlich, schon geht der Mist richtig los!
Goldener Oktober.
Was für ein Wochenende! Nach Lankmanns Freitagstelefonat aus Berlin war an geruhsame Entspannung für keinen der ISAT-Leute zu denken. Erst diskutierten sie bis in die Puppen die veränderte Lage, dann saßen sie am frühen Samstagmorgen wieder zusammen, um im >Weißen Haus< ungeduldig auf den avisierten LKA-Kurier zu warten.
Der traf erst gegen 11 Uhr ein und brachte Lankmanns >Geschenke< aus der konspirativen Wohnung an der Berliner Falkenseer Chaussee: mehrere Lageskizzen der Montgomery Barracks in Kladow, drei British-Airways-Flugscheine Berlin-Köln-Berlin auf den Namen Y. Hafis, ein Streichholzmäppchen mit dem Aufdruck Maritim-Hotel Köln, ein Nähset des gleichen Hotels, ein Übersichtsplan des Kölner Messegeländes, eine DIN-A4-Wegeskizze auf Architektenpapier mit bunten Markierungen, ein Schreibmaschinenblatt mit einer genauen Auflistung von Daten und Aufenthaltsstationen der englischen Staatsbesuch in Westdeutschland. Captain Hart hatte sich sofort die drei Flugscheine herausgefischt und blätterte die entsprechenden Flugdaten in seiner rotledernen Gedächtnisstütze nach. »29. und 30. August, ein Wochenende. 14. September, Montag. Und 20., 21. September, wieder ein Wochenende. Ach, da sind wir ja gerade hier angekommen!«
Benedict ließ sich von Hauptmeister Herrmann mit dem Maritim-Hotel in Köln verbinden. »Ja, Herr Hafis aus Berlin hatte an diesen beiden Wochenenden bei uns reserviert!«
»Hat er denn auch bei Ihnen übernachtet, liebe Dame? - Na, warum sagen Sie das denn nicht gleich! Danke vielmals!«
Dann rief er wie vereinbart Lankmann im LKA an.
Der hatte erst mal etwas zu lachen. »Hättet ihr euch sparen können. Das haben wir alles schon abgeklärt in Köln. Wir wissen sogar auch, dass der Hafis sich im Hotel mit Leuten getroffen hat beziehungsweise dass ihn da wohl Leute abgeholt haben. Aber mehr wussten die vom Hotel auch nicht.«
Benedict sah die mithörenden Kollegen fragend an.
Captain Hart schnippte mit den Fingern. »Sind die Flugscheine von Mr. Hafis selbst bezahlt worden, bar? Oder über Kreditkarte? Oder von jemand anderem?«
»Haben Sie die Frage von Captain Hart mitbekommen, Kollege? Ja?«
»Ja, ja doch. Sind am Flughafenschalter bar bezahlt worden! Aber wartet doch mal einen Moment. Die Hauptsache kommt ja noch für euch! Könnt ihr euch mal den Flugschein mit der Nummer 00823764 vom 14. September vornehmen?«
Der S.I.B.-Mann warf dem telefonierenden Benedict den dünnen Flugschein auf den Schreibtisch.
»Ja, habe ich!«
»Gut, Kollege. Rechts oben müsste man hieroglyphenartige Striche sehen können. Habt ihr das?«
Der Hauptkommissar nahm seine Lupe aus der Schublade und suchte das reichlich verknitterte Billett nach den Strichen des Herrn Lankmann ab.
»Rechts oben, Mensch! So schwer kann das doch nicht zu finden sein!«
»Immer langsam mit die jungen Pferde. Ja ... das könnte so was sein«, meinte Benedict zweifelnd mit der Lupe vor der Nase, »und was ist damit?«
»Also, ihr macht mir Spaß!«, klang entrüstet die Stimme des Berliner Beamten am anderen Ende der Leitung. »Habt ihr noch nichts davon gehört, dass Flugscheincoupons aus einem Durchschreibesatz bestehen?«
»Und?«, fragte der Düsseldorfer immer noch begriffsstutzig, während der Engländer schon verstehend mit dem Kopf nickte.
»Mannomann! Was passiert denn, wenn man auf ein Blatt Papier Notizen macht und hat versehentlich so einen Durchschreibesatz darunterliegen?«
»Ach so!«
»Ja, genau. Ach so! Aus Erfahrung wissen wir, dass so was den ausgebufftesten Ganoven immer wieder passiert. Sie notieren sich irgendwas und vergessen völlig, dass sie damit gleichzeitig abpausen. Deshalb untersuchen wir solche Dinge immer penibel unterm Mikroskop. Als wir gesehen haben, dass da vielleicht was zu holen ist, haben wir das zum Kriminalistischen Institut nach Wiesbaden gegeben. Hat ’n bisschen länger gedauert, aber die haben richtig schön gezaubert. Das wird da mit Spezialgeräten abgetastet, in elektrische Signale umgewandelt und dann in den Computer eingegeben. Der bereitet das auf, verbessert die Qualität erheblich und macht das Ganze auf einem hochauflösenden Bildschirm astrein sichtbar. Kurz und gut: Auf dem Bildschirm erschien einwandfrei ein Name. H. Schmitz!«
In der langen Pause, die dem Trompetenstoß aus Berlin folgte, überlegte Benedict knapp, ob er den Hörer vom Ohr reißen und das ganze Telefon einfach aus dem Fenster schmeißen sollte.
»Toll!«, sagte er stattdessen schlaff.
»Ja, was! Diese neue Technik ist nicht ohne! Wir wissen natürlich nicht, ob der Hafis das geschrieben hat oder vielleicht jemand von der Fluggesellschaft. Und ob der Name überhaupt etwas zu bedeuten hat. Da seid ihr jetzt am Zuge. Und diese anderen Hinweise auf Köln ... na, viel Spaß! Hoffentlich bringt euch das weiter!«
»Ja, hoffentlich.«
Die Stimme des Düsseldorfer Hauptkommissars hatte immer noch die Mattigkeit eines im Ziel geschlagenen Marathonläufers.
»Noch was«, preschte die Stimme von Lankmann klarinettenhaft durch die Leitung, »das mit dem Programm des Staatsbesuches ist doch auch ein absoluter Hammer! Haben wir in einer Shakespeare-Gesamtausgabe gefunden. Unter Macbeth!« Lankmanns hexenhaftes Kichern rief in Benedicts Ohren blankes Unverständnis hervor.
»Was soll da ein Hammer sein?«
»Na, Mensch, pennt ihr Rheinländer? Wir haben die Wohnung in Spandau zusammen am 26. September hopsgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war offiziell von diesen Terminen noch gar nichts bekannt! Zumindest der Hafis durfte davon noch nichts wissen! Er muss das aus höchsten Quellen haben. Wahrscheinlich sogar ein Loch in Bonn. Na, das kennen wir ja schon. Vielleicht habt ihr's ja nicht mal mit der IRA zu tun, sondern mit PLO-Leuten!«
Captain Hart winkte ärgerlich mit der Hand ab, und auch die beiden Iren schüttelten ihre Köpfe.
»Noch was, Kollege Lankmann?«
»Ja, noch was. Wir tun doch alles für euch! Auf dieser Liste mit den Daten von dem Staatsbesuch hat offensichtlich mal jemand zwei Orte mit einem kleinen Bleistift-Häkchen versehen. Die wurden danach zwar wieder wegradiert, konnten aber unter der Bildschirmvergrößerung exakt rekonstruiert werden.« Lankmann machte wieder mal eine seiner Kunstpausen, und Benedict war fast geplatzt.
»Ja, doch. Bei welchen Orten?«
»Berlin ... und Köln!«, schmetterte die Berliner Stimme fröhlich. »Alles weitere findet ihr im Begleitbericht!«
Darauf wünschte ein vor Fröhlichkeit übersprudelnder Lankmann den >lieben Kollegen< ein schönes Wochenende.
Benedict glitt der schweißnasse Hörer aus der Hand.
Aus Lankmanns Begleitbericht konnten sie am Samstagnachmittag weiterhin ersehen, dass ein Abgleich der markierten Wegskizze mit dem Stadtplan von Berlin negativ verlaufen war. Aus Zeitgründen hatten die Berliner sich nur auf ihren eigenen Zuständigkeitsbereich beschränkt,
»Natürlich«, meinte Jerry Hart dann schmunzelnd. »So was musste ja kommen!«
Der Abgleich mit einem eiligst beschafften Stadtplan von Köln und Umgebung führte zu Passgenauigkeit, endete aber bei allen drei Wegstrecken abrupt an den Stadtgrenzen der Domstadt.
Benedict schickte den kleinen Hauptmeister nochmals über die Straße, und der kam wenige Minuten später mit einem vergleichbaren Plan von Groß-Bonn zurück. Für einen winzigen Augenblick war der Hauptkommissar irritiert gewesen. Groß-Bonn? Groß-Berlin? Na ja. Wenn man’s nötig hat! Dann war das Bild aber komplett. So einfach war das. Die drei verschiedenen Wege führten vom Kölner Domplatz und Hauptbahnhof allesamt zu einem rot markierten Punkt auf der Friedrich-Ebert-Allee in Bonn. Groß-Bonn! Botschaft des Vereinigten Königreiches. Der Ort, an den sich die Königlichen Hoheiten in den Pausen des Staatsbesuches zurückziehen würden. Über die A 555, durch Rodenkirchen und Wesseling, über die A 59, am Flughafen Wahn vorbei und dann durch Troisdorf und St. Augustin oder die weitere Strecke über die A 3 bis zur Ausfahrt Siebengebirge und dann über Königswinter durch die Hintertür ins Bundesdorf.
Fein säuberlich stand unten rechts auf der Skizze in blauer Tusche: Heli? Der Standort des Doms war noch extra mit einem schwarzen Kreuz gekennzeichnet. McGrath und O’Connell sahen von der nun nicht mehr geheimnisvollen Skizze auf und schüttelten beide den Kopf. Dann absolvierten sie die gleiche Übung zusammen mit ihrem englischen Kollegen. Vereinigtes Kopfschütteln.
»Viel zu bunt!«, knirschte der Belfaster zwischen den gelben Zähnen.
»Die halten uns für Anfänger!«, bestätigte O’Connell und blies Dampf aus seiner Pfeife ab.
»Versteh' ich nicht«, blieb Benedict murmelnd seiner heutigen Linie treu und sah ratsuchend auf den S.I.B.-Captain.
Der hatte mal wieder seinen kolonialen Polo-Ausdruck aufgelegt und hochnäsig etwas von >später erläutern< genäselt, bevor er sich fein säuberlich eine weitere Notiz in sein Formelbuch machte.
Widerstrebend verschaffte sich der deutsche ISAT-Leiter dann noch am Samstag Zugang zum Einwohnermelderegister von Köln. Aber als am späten Abend die Ausdrucke mit Namen und entsprechenden Anschriften in der ISAT-Dienststelle ausliefen, wurden Benedicts schlimmste Erwartungen noch übertroffen.
»Schluss für heute«, presste er mit kaum verhohlener Wut heraus.
»Schmitz! In Köln! Die spinnen, die Berliner!«
Leider verstanden die ausländischen Kollegen diese feine Anspielung nicht. Nur Polizeihauptmeister Liszt, genannt Maus, lachte in sich hinein. Aber das auch erst, nachdem die Tür hinter den verschwindenden ISAT-Spezialisten zugeknallt war.
»Manchmal möchte ich ganz einfach da oben sein. Auf Beteigeuze vielleicht!«
Unbeabsichtigt macht Vitus H. Benedict an diesem sternenklaren Sonntagabend seinem Herzen laut Luft. Erschrocken fährt er zusammen. Die Stimme hallt in dem leeren Raum. Nochmals starrt er durch das Okular. Kurz nach dem Tod seiner Frau Kitty hatte er sich auf der nervösen Suche nach Ausfüllung der wenigen ruhigen Freizeitstunden ein astronomisches Hobbyteleskop zugelegt. Vielleicht hatte er im Unterbewusstsein auch darauf spekuliert, in der kalten, schwarzen Weite des Weltalls die Ursachen seines ganz persönlichen Schmerzes zu entdecken. Aber wie bei vielen Dingen, die er sich in dieser Phase hektischen Anschaffungszwanges zulegte, erfüllten sie nicht seine überspannten Erwartungen und verschwanden schnell in Schubladen oder Schränken.
In diesen Monaten sonstiger Sinnlosigkeiten hatte er sich auch erstmals in seinem Erwachsenenleben so etwas wie Glauben gewünscht. Irgendeine Form der Religiosität. Etwas, was ihn aus der bohrenden Fragestellung nach dem Warum, dem Sinn dieses einen Todes entlassen hätte. Katholisch, evangelisch, jüdisch. Egal. Buddha oder Mohammed. Damals hätte er wohl nach allem gegriffen. Aber es ging auch so vorbei. Nicht zuletzt dank der Hilfe eines zerbrechlichen alten Calvinisten aus Amsterdam. Commissaris de Rijn spielte in dieser Phase Telefonseelsorger bei Benedict. Und er bedankte sich später dafür, indem er dessen Agenten ans Messer lieferte. Natürlich nicht absichtlich, aber das hat der Commissaris bis heute nicht verwunden. So ein verflixter Tag. Sonntag. Immer an solchen Tagen hatte er das Bedürfnis, sich in diesem Wust nicht gegebener Antworten zu verlieren. Ohne einen Tropfen Alkohol. Besoffen von der Schwärze des Alls. Beschwipst von Milliarden kalter Himmelsfeuer. Tausenden von Galaxien. Millionen Milchstraßen. Sterne, Sterne, Billionen von Sternen.
»Und ein Stern heißt Schmitz und wohnt in Köln!«
Mit einem Ruck klappt er das Fernrohr auf dem Stativ nach unten und schraubt den Schutzdeckel auf die Linse. Durch das geöffnete Schiebefenster weht ein kalter Flusswind vom nahen Rhein. Er produziert eine Gänsehaut auf den Armen des einsamen Mannes im Zimmer. Die Herbststerne blinken Lichtjahre entfernt mit den nahen Citylampen um die Wette.
»Nein«, seufzt Benedict und zieht die Gardine endgültig vor das große Wohnzimmer, »nicht Beteigeuze! Ein Stern namens Schmitz sollte es sein!«
Die durchnummerierten weiß-grünen Computerausdrucke zeigten erst hinter der Nummer 11493 das obligatorische ENDE ANFRAGE. Über elftausend Schmitzens allein in Köln gemeldet!
»Jetzt versteht ihr vielleicht, warum ich gestern am Telefon fast zusammengebrochen bin. Die Berliner denken, sie hätten ein Wunder vollbracht mit ihrer Technik. Aber Schmitz ist für Köln, was Huber in München oder eben Smith in London! Mist!«
Benedict hatte in Sonntagsjeans heute Morgen auf der Schreibtischkante gesessen und verächtlich auf die Computerblätter gestarrt, die auf dem Boden lagen.
Detective Inspector O’Connell machte in Optimismus. »Können wir das nicht routinemäßig abchecken?«
Was blieb ihnen anderes übrig.
Um wenigstens etwas Boden unter die Füße zu bekommen, reduzierten sie also die Liste auf alle Schmitzens, deren Vorname mit dem Buchstaben H begann.
Das Ergebnis dieser ersten Kraftanstrengung war niederschmetternd. »Sind ja immer noch über sechstausend! So ein shit!« Chief Inspector McGrath drückte mit leisen Anzeichen von Verbitterung die soundsovielte Senior Service im Aschenbecher aus.
»Hätte da nicht wenigstens Ypsilon Schmitz auf dem Flugschein stehen können!«, hüstelte Jerry Hart, der zwar gegen Nikotinwolken, aber nicht gegen trockenen Papiergeruch immun war.
»Aus Gründen der Ermittlungsplausibilität sollten wir alle Schmitze unter 15 und über 60 ebenso von unserer Liste streichen. Oder habt ihr entgegenlaufende Erfahrungen in euren Bereichen gesammelt?«
Nach kurzem Nachdenken erklärten sich Hart, McGrath und O'Connell damit einverstanden. Aber die Hoffnung auf entscheidende Reduzierung hatte getrogen. Immer noch verblieben nach dieser Operation rund 1900 Schmitze in der Altersgruppe 15 bis 60 Jahre mit dem Anfangsbuchstaben des Vornamens.
»Ich habe Hunger!«, sagte um 14 Uhr der Mann aus Belfast. Der Dubliner knallte entschlossen die kalte Tabakspfeife auf den Tisch. »Und Durst!«
»Wir lassen uns was aus der Kantine bringen.«
Während sie die altbackenen Gummibrötchen dann mit Cola runterspülten, ließ sich Benedict die neue, kürzere Liste ausdrucken. Das sah schon besser aus als das Reißwolfgeblätter von vorhin. Trotzdem, wie sollte man die alle prüfen? In nicht einmal dreißig Tagen! Und wer?
»Wir können noch nicht mal sicher sein, ob dieses H vor dem Schmitz nicht doch für Herr steht!« McGrath starrte angewidert auf den grau-gelben Käsefladen zwischen den beiden zähen Brötchenhälften. »Und ob wir überhaupt mit Köln richtig liegen! Vielleicht handelt es sich ja um Herrn und Frau Schmitz aus Istanbul!« Diese Bemerkung O’Connells hatte einen heftigen Hustenanfall des sich an seinem Bissen verschluckenden Chief Inspectors aus Belfast zur Folge. Benedict warf dem Iren einen fischigen Delon-Blick zu, so wie er das mal im Kino gesehen hatte. Captain Hart brütete weiter über diesen deutschen Namen, so als wollte er einen ihnen anhaftenden Zauber ergründen.
Um wenigstens nicht völlig in Aussichtslosigkeit zu versinken, machte der Hauptkommissar erstmals von seiner neuen Zugangsberechtigung zu den INPOL-Dateien beim BKA Gebrauch.
Erst forderte er aus der Haft-Datei alle in Köln gemeldeten Einsitzer namens Schmitz an. Immerhin, sehr schnell waren siebenundsechzig Herberte, Helgas und Hugos weniger auf ihrer Endlosliste.
Die Beantwortung seiner zweiten Anfrage an die KAN-Datei über kriminalpolizeiliche Akten, die sich bundesweit auf bedeutende Strafverfahren gegen Kölner Schmitze bezogen, dauerte dann doch schon länger.
Nur vier Schmitze mit einem H vorneweg waren in Strafverfahren verwickelt, die Strafen nach § 12 StGB oder § 100 StPO erwarten ließen. So lautete jedenfalls die Auskunft des BKA-Computers. Einer wegen Verdachts der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, einer wegen Handlungen zur Verfolgung extremistischer Ziele und zwei wegen Schusswaffendelikten.
Na, zumindest konnte man sich die gleich mal gezielt vorknöpfen. Trotzdem blieben immer noch fast 1900 zu überprüfende Leute.
Der immer noch am dunklen Fenster seiner Rheinwohnung stehende Hauptkommissar würde jetzt noch schwören, dass er laut und deutlich gehört hat, wie der englische Captain das Wort >Elend< in den schon halbdämmrigen ISAT-Raum geworfen und dabei mit der flachen Hand hart auf den gefalteten Papierstapel geklatscht hat.
Benedict war in der grüblerischen Stille des Arbeitsraumes zusammengezuckt. Er wunderte sich wohl auch über diesen unvermuteten Ausbruch des sonst so kontrollierten Engländers, gab aber seinem Verständnis mit einem leichten Kopfnicken Ausdruck.
Er irrte sich.
»ELINT!«, wiederholte der Dünne nochmals mit Nachdruck.
McGrath fletschte sein Pferdegebiss und meinte zustimmend: »Stimmt. Das könnte so eine Gegenmaßnahme sein.«
»Ein ganzes Bündel von Gegenmaßnahmen, wie mir scheint!«, sagte O’Connell, und somit waren sich die drei mal wieder einig. Nur Benedict starrte verständnislos seine Kollegen an.
»Ich hab’ darüber doch schon in Berlin gesprochen. Das alles sieht verdammt nach einer mehrfachen Irreleitungstaktik vonseiten der Provos aus!«
»Und was hat das mit diesem ELINT zu tun?«
»ELectronic INTelligence! Seit mehreren Jahren haben unsere Fernmeldeeinheiten in Nordirland in Verbindung mit ähnlichen Einheiten in der Republik nicht nur die Kommunikation zwischen den Verbänden aufrechtzuerhalten. Sie werden gleichzeitig mit ihren Hochleistungsempfängern und einem flächendeckenden Netz von Abhörstationen zur Ausspähung von IRA-Aktivitäten benutzt. Natürlich bedienen sie sich der Richtmikrofontechnik genauso wie des Abhörens von Telefongesprächen, die über Mikrowellen laufen. Ein zentraler Computer in ... na, ist egal ... sucht diese Mikrowellenübertragungen nach bestimmten, programmierten Codewörtern ab. Das kann der Name eines Terroristen sein, seine Telefonnummer, die Anschrift seiner Freundin oder der Name eines potentiellen IRA-Opfers. Wenn dieses Wort dann während eines Telefongesprächs fällt, schaltet sich automatisch das Aufzeichnungsgerät ein, und das Gespräch wird auf den Bildschirm eines IntCorps-Spezialisten gelegt. Der zieht dann seine entsprechenden Schlüsse und veranlasst Maßnahmen.«
»Und das nennt ihr ELINT?!«
»Korrekt.«
»Aber wenn die nicht dumm sind, dann werden sie sich darauf einstellen. Und außerdem, was hat euer ELINT mit unserem Elend hier zu tun?« Dabei wies Benedict auf die Computerlisten.
»Darauf komme ich gleich. Ja, sie haben versucht sich darauf einzustellen. Nach unseren ersten Erfolgen mit ELINT haben sie vermutet, dass die Verräter aus den eigenen Reihen kommen. Die gibt es auch noch, aber das tut hier nichts zur Sache. Es gab auf jeden Fall reichlich Verwirrung in der Organisation. Dann haben sie als erste Konsequenz die sogenannten Special Active Service Units gebildet, deren personelle Zusammensetzung und Operationsziele nur einem sehr kleinen Personenkreis bekannt sind. Als unsere Erfolge in Verbindung mit raschem Zugreifen der SAS-Truppe bei den >normalen< IRA-Operationen weitergingen, haben sie das erkannt und neue Interkommunikationsrichtlinien erlassen. Seitdem hängen zum Beispiel in den Sinn-Féin-Büros in der Falls Road Plakate mit der Aufschrift >Dieses Telefon wird abgehört<. Dass ELINT immer noch zu einigen guten Erfolgen führt, liegt an der sattsam bekannten ... Beredsamkeit der Iren ...« Jerry Hart warf einen schnellen Blick auf O’Connell, der aber nur fest mit den Zähnen auf seine qualmende Pfeife biss. »... und der Tatsache, dass sie sich oft keinen Deut um solche Anweisungen kümmern. Das betrifft aber nur die mittlere und untere Organisationsebene. Auf der höchsten Kommandoebene hat man ELINT jetzt schon bei zwei Operationen ausmanövriert, indem man die Scannertechnik gegen uns eingesetzt hat! Wir wurden zweimal mit bestimmten Passwörtern in die falsche Richtung gelenkt, ganz gezielt, während die eigentliche Operation gegen ein anderes Ziel durchgeführt wurde. Erfolgreich, wie ich zu meinem Bedauern anfügen muss!«
»Und das hier«, die Hand des Hauptkommissars war auf den dünnen Papierhaufen gefallen, »soll auch so eine Art Irreleitungsgeschichte sein?«
»Genau«, Rory McGrath hatte den Tabak einer neuen Zigarette auf der Tischplatte festgeklopft, »nur, dass sie hier nicht auf elektronische Überwachung reagieren, sondern auf unsere mögliche Aktionskenntnis durch die Informationen eines IntCorps-Sergeanten in Düsseldorf.«
»Der ja leider erschossen wurde«, sagte O’Connell mit Leichenbittermiene und fügte dann überflüssigerweise noch hinzu: »Im Aaper Wald. Mit seiner hübschen Freundin!«
In der folgenden Stunde notierten und erklärten die drei abwechselnd die Beweise für ihre Thesen auf dem Flipchart. Selbst Benedict fand kaum Lücken in der Indizienkette und beugte sich der Schlüssigkeit aus Erfahrungen und Beweisen. Über das weitere Vorgehen erzielten sie schnell Einigkeit.
Vom heutigen Sonntag an würde das ISAT auf zwei Ebenen operieren. Halb öffentlich, um den unbekannten Gegnern den Eindruck zu vermitteln, dass ihre Finten Wirkung zeigten. Halb verborgen, um die Terroristen da zu treffen, wo nach gemeinsamer ISAT-Auffassung der Angriff gegen die Staatsbesucher erfolgen würde. Ihre gemeinsame Position beim folgenden Mittwochs-Krisenstab im Düsseldorfer Innenministerium würde diesem heutigen Beschluss entsprechen.
»Vergatterung!«, nahm anschließend der Hauptkommissar die beiden Polizeihauptmeister ins Gebet. »Ihr seid jetzt Geheimnisträger!« Liszt und Herrmann platzten fast vor Stolz.
»Man kann es aber auch wirklich übertreiben!«, murmelt Benedict in Gedanken halblaut vor sich hin, als er daran denkt, wie der englische Captain vorhin noch die Flipchart-Aufzeichnungen durch den Reißwolf gejagt hat.
Dann packt er gähnend Stativ und Fernrohr zusammen. Der Himmel draußen hat sich zugezogen.
Wieder einmal fordert die PDV 130 Opfer.
In der Mittwochsfrühbesprechung aller Kommissariate wird die Absurdität einer überforderten Einsatz- und Personalplanung zum wiederholten Male in diesem Jahr klar. Einerseits fordert der Leitende Kriminaldirektor von der SpriKo endlich Ergebnisse, andererseits zieht er Läppert, Bernwart Neumann und zwei weitere Beamte zu den Sicherungsmaßnahmen im Vorfeld des Besuches von Staatspräsident François Mitterand ab.
»Der Mann wird Gast auf Schloss Benrath sein. Das ist unsere Generalprobe für den heißen Novemberanfang, Kolleginnen und Kollegen! Da können wir gleich üben, wie die Zusammenarbeit zwischen Schutz- und Bereitschaftspolizei, GSG 9, BKA und Kripo Düsseldorf klappt! Dann haben wir für den Besuch der Engländer alles im Griff. Aber es versteht sich von selbst, dass an den anderen Fronten weitergearbeitet werden muss!« Der Leitende Kriminaldirektor, ansonsten ein Mann eher zivilen Zuschnitts, hat sich in den vergangenen Wochen eine militärische Ausdrucksweise angewöhnt. »Und das gilt besonders für die Beamten von der SpriKo, Herr Doemges! Kollegin Leiden-Oster!«
Die Beamten der Kommissariate 3 bis 10 und 14 feixen. Sie sind für heute aus der Schusslinie.
Doemges kaut nervös auf einem Vivil herum. Die Anspannung der letzten Wochen hat tiefe Schatten unter seinen Augen entstehen lassen. Maria Leiden-Osters Gesicht färbt sich zum wiederholten Male in der letzten Zeit hochrot. Ganser befürchtet einen unkontrollierten Wutausbruch seiner Arbeitskollegin und zieht den Kopf zwischen die Schulterblätter. Aber sie beherrscht sich vor dieser großen Kulisse.
Nein, Fortschritte haben sie bisher noch keine gemacht. Am Wochenende sind sie mühsam durch den Ermittlungswust weiterer sechs Spritzer-Fälle gegangen, ohne etwas wirklich Entscheidendes zu finden. Bei den Kollegen der SpriKo macht sich langsam Unduldsamkeit bemerkbar. Offensichtlich halten sie das schritt«weise Aufarbeiten der Vergangenheit für ein sinnloses Unterfangen. Oder haben sie vielleicht Angst vor der Aufdeckung eigener Schlampereien? Die Frustration wurde in dieser Woche noch zusätzlich verstärkt durch den Mordprozess gegen zwei Ex-Kollegen von der Wache Garath, die einen sechsundfünfzigjährigen Mann in einem Wald bei Hilden umgebracht hatten. Im Prozessverlauf kamen einige Zustände auf dieser Wache ans Tageslicht, Zustände, die dem Image der Düsseldorfer Polizei nicht gerade zuträglich waren. Sie waren Tagesgespräch auf den Dienststellen. Dazu gab es einen Erlass des Polizeipräsidenten. »In Zusammenhang mit ... weise ich aus gebotenem Anlass nochmals darauf hin, dass der Genuss von Alkohol auf den Dienststellen ... strikt untersagt ist. Zuwiderhandlungen werden disziplinarisch geahndet und sind mir unverzüglich zur Kenntnis zu bringen!« Die bösartigen Kommentare in der Presse überschlugen sich.
»Es wäre gut, wenn wir dem möglichst schnell einen Ermittlungserfolg in der Spritzer-Sache entgegensetzen könnten«, meinte Pressesprecher Stüchow gestern auffordernd zu Ganser. »Dann hört auch dieses blöde Theater um diese Frauengruppe auf!«
Ganser denkt auch an seine Gespräche mit ehemaligen Kumpels und kleinen V-Leuten aus der Düsseldorfer Ganovenszene. Die waren ganz schön aus dem Häuschen wegen dieser Mordfälle. Allesamt aber gaben zu verstehen, dass das nur so ein Psychopath sein könne. Sie selbst würden nichts lieber tun, als den Typen ans Messer zu liefern. »Nachdem wir ihn ordentlich aufgemischt haben, dieses Schwein!«, hatte >Nutten-Louis< Brandel letzte Woche im Chateau zu ihm gesagt.
Während der Leitende sich vorne durch die Einsatzplanung für die kommenden Tage durchquält, bewegen Kriminalhauptmeister Ganser in der vierten Reihe des Saales ganz andere Probleme. Vielleicht ist unsere ganze Aufgeregtheit um diese Frauenflugblätter ja völlig überflüssig. Vielleicht hat sie ja sogar dieser Spritzer selber produziert, um ein Höchstmaß an zusätzlicher Verwirrung bei der Polizei zu stiften! Für diese These spricht, dass bis heute von den angekündigten Racheaktionen noch nichts zu bemerken ist.
Gernot Ganser sieht auf seine Digitaluhr und beginnt, unruhig auf dem glatten Stuhl hin und her zu rutschen. Über dem Leitenden hängt der riesige Plan von Düsseldorf. Unwillkürlich versieht der Kriminalhauptmeister ihn in Gedanken mit bunten Stecknadelköpfen. Zwei freie Flächen bleiben: Benrath und Gerresheim.
Benedict, der normalerweise ein gutes Gespür für kommende Gefahren besitzt, hat mit nie erlebter Dringlichkeit in jener eiligst anberaumten Abendbesprechung nach dem ersten Auftauchen der Flugblätter auf die Konsequenzen dieser Flugblätter hingewiesen. »Wenn wir dem Treiben dieser Frauen nicht Einhalt gebieten, können wir als Polizei einpacken! Wir haben das in jedem Fall zu unterbinden! Entweder dadurch, dass wir den Spritzer-Mörder vorher fassen oder dass wir diese Frauenmiliz festsetzen!«
Und damit war das erste Mal dieses Wort gefallen, Miliz. Ein Ausdruck, den sie bisher nur in Verbindung mit den Kämpfen im Libanon gehört hatten.
»Am besten wäre natürlich beides!«, setzte der Chef des 1. K damals nach.
»Sonst haben wir über kurz oder lang hier bald Bürgermilizen der Tierschützer, des Kinderbundes und der Mietervereine!«
Bei diesen Gedanken knirscht Ganser so laut mit den Zähnen, dass Pollocky vom 4. K ihn erschrocken ansieht, aber dann ist das Mittwochsmartyrium zum Glück zu Ende.
Wäre die Situation nicht so verdammt ernst und ungemütlich, würde Benedict sagen, dass es im Krisenstab kriselt.
»Sie scheinen sich überhaupt nicht darüber im Klaren zu sein, was ein gelungener Anschlag auf den englischen Thronfolger und seine Gemahlin für Konsequenzen für uns hätte!«
»Auf deutschem Boden!«, ergänzt der Mann aus dem Auswärtigen Amt die Worte des nordrhein-westfälischen Innenministers.
»Im Bereich der britischen Schutzmacht«, fügt der Persönliche Referent des Innenministers fast weinerlich hinzu.
Der schmale, ein wenig asketisch wirkende Innenminister wirft seinem Zuarbeiter einen strafenden Blick zu. Als ob sie das nötig hätten!
»Ich fasse noch mal zusammen«, sagt der Chef der Haroldstraße trocken.
»Die ISAT-Gruppe hat vor genau 15 Tagen ihre Arbeit in Düsseldorf aufgenommen. Aufgabenstellung der Gruppe: erstens, Feststellung, ob bereits ein irisches Terrorkommando auf deutschem Boden eingesickert ist. Dieser Teil scheint mir nach den bisher vorliegenden Ergebnissen erfüllt zu sein: Ein solches Kommando bereitet einen wie auch immer gearteten Anschlag vor! Irgendwelche gegenteiligen Meinungen zu diesem Punkt?« Der Habichtsblick des Innenministers trifft über den Rand der rechteckigen Brillengläser jeden Einzelnen der hier Versammelten. Neuner vom BKA, Oberst Hopf von der GSG 9, Ministerialrat Ziemer aus Bonn, Mr. Smith vom IntCorps in Düsseldorf, der Polizeipräsident in seiner buntkarierten Jacke, David Casson vom englischen Hauptquartier in Mönchengladbach, Jerry Hart, Rory McGrath, Patrick O’Connell und Vitus H. Benedict vom ISAT, Dr. Nüssing, der Persönliche Referent des Innenministers, gleichzeitig für die Abfassung des Protokolls zuständig.
Alle so Anvisierten geben ihren Gesichtern einen verhalten zustimmenden Ausdruck. Dr. Nüssing würde das in seiner Gesprächsaufzeichnung mit der Formulierung »die Teilnehmer bestätigten diese Auffassung des Innenministers« wiedergeben.
»Zweitens, Lokalisierung und möglichst Feststellung der Identität der Angreifer. Dieser Teil der gestellten Aufgabe ist nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht erfüllt! Die Zeit wird dafür immer knapper!«
Wer in der Runde wollte dem widersprechen.
»Die bisher gesammelten Hinweise ...«, versucht der Hauptkommissar nochmals die Position von ISAT zu erläutern, aber der Leiter des Krisenstabes unterbricht ihn harsch. »Geschenkt! Wirklich! Wir alle hier sind sehr wohl in der Lage zu erfassen, dass Ihre bisherigen Bemühungen ... zumindest nicht dem entsprechen, was wir uns von der Zusammenziehung dieses Expertenteams versprochen haben! Also, die bisherigen ... Erfolge in diesem Aufgabenteil sind dürftig.«
Der knochige Fünfziger mit den dünnen, streng gescheitelten Haarsträhnen nimmt die Brille ab und presst sich mit einem gequälten Ausdruck Daumen und Mittelfinger an die geschlossenen Augen.
»Soll ich Ihnen ein Aspirin besorgen, Herr Minister?«, beeilt sich der Referent zu fragen.
Gott, was für ein Schleimer, denkt Benedict angewidert.
»Nee, nee. Lass man, Nüssing! Also, wir müssen alles versuchen. Sie müssen alles versuchen!«, korrigiert er sich sofort. »Ich werde in Köln Anweisung geben, dass man alle verfügbaren Leute auf diese Schmitz-Spur ansetzt. Außerdem erwarte ich auch Hilfestellung vom BKA in dieser Sache. Damit kann ich doch rechnen, Herr Neuner?«
Der zuckt mit den Schultern. »Klar. Aber viel wird das nicht sein. Sie kennen doch unsere Personalsituation!«
Alle sehen, wie sich der Innenminister zu beherrschen versucht. Die rechte Hand, schon zum donnernden Schlag auf den Konferenztisch erhoben, krampft sich noch in der Luft zur Faust zusammen. Zeitlupenhaft legt er diese dann, betont ruhig, auf den Stapel seiner Notizen. Sehr beherrscht dann: »Verdammich noch eins! Wir wissen doch alle, wenn das in die Hose geht, werden wir unseres Lebens nicht mehr froh! Also bringt alles auf die Beine, was noch laufen kann. Bitte!!!« Fast erschöpft zieht er ein Taschentuch aus seiner Jacke und wischt sich die Schweißperlen vom Gesicht. »Mit dieser Kölner Geschichte haben wir doch wenigstens einen handfesten Hinweis. Dank Ihren Kollegen aus Berlin. Und dem müssen wir nachgehen, so schnell wie möglich und mit so vielen Leuten wie möglich! Die Punkte 3, Verhinderung des Anschlages, und 4, Festnahme, stehen hier ja wohl im Moment nicht zur Debatte.«
Das klingt müde. Fast hoffnungslos.
Aber dann holt er mit einer letzten Kraftanstrengung Optimismus-Reserven aus seinem Wahlkampffundus heraus. »Mensch, Leute, seht zu, dass ihr das noch hinbiegt. Ich gebe euch jede Unterstützung. Das packen wir noch! Da hängt so viel von ab.«
Den letzten Satz hätte er nicht mehr sagen dürfen. Der klingt in Benedicts Ohren schon wie der Abschied eines Mannes, der im Grunde seines Herzens weiß, dass die Katastrophe nicht mehr zu verhindern ist.
Zwei Stunden ringt der von Sorgen und Ängsten geplagte Mann mit sich, nachdem der Krisenstab auseinandergegangen ist.
Auch die Pillen, die ihm der Arzt >nur für ganz besondere Fälle< gegeben hat, zeigen wenig Wirkung.
Dann, es ist kurz nach 14 Uhr, wählt der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen die Telefonnummer des Bundeskanzleramts in Bonn.
Zur gleichen Zeit, als im Düsseldorfer Fernmeldeamt die Relais klicken, um eine Verbindung zwischen dem Innenministerium und dem schwarzen Bau in der Hauptstadt herzustellen, wählt Group Captain David Casson vom englischen Hauptquartier in Mönchengladbach ebenfalls eine Telefonnummer.
Den Group Captain bewegen ähnliche Sorgen wie den kleinen Mann im Düsseldorfer Innenministerium. Bei der Telefonnummer, die er deshalb wählt, handelt es sich um einen Anschluss im Londoner Verteidigungsministerium. Die Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldet, sagt: »SAS Joint Operations Centre, what can I do for you?«
*
Die im Krisenstab erzeugte Hochspannung entlädt sich dann am Nachmittag im ISAT-Büro in einem gewaltigen Knall. An Benedict, der mit Liszt und Herrmann die Beschaffung verschiedener Geräte bespricht, ist der Auslöser des Krachs zwischen Hart und O’Connell völlig vorbeigegangen. Nur das Ende des kurzen, aber heftigen Zusammenstoßes bekommt er völlig konsterniert mit. Der abschließende Knall der laut von Captain Hart zugeschlagenen Tür ist schließlich nicht zu überhören.
Die beiden Polizeimeister verschwinden sehr schnell, um die Dinge zu besorgen, die ihnen Benedict aufgetragen hat.
Der Hauptkommissar hört bis zu seinem Schreibtisch am Fenster, wie O’Connell wütend auf seiner kalten Pfeife herumbeißt. Als würden Knochen splittern! McGrath hat seinen Pferdekopf tief in einen Aktenordner gesteckt und mimt Abwesenheit.
Nicht die Tatsache an sich ist es, die Benedict verwundert. Nein, dieser Zusammenprall hat sich schon lange angekündigt. Die mit Nonchalance und Herablassung immer wieder eingeflochtenen antiirischen Spitzen des englischen S.I.B.-Mannes mussten ja irgendwann eine entsprechende Reaktion O’Connells provozieren. Aber was war jetzt der Anlass gewesen?
Nach einer Weile fragt Benedict dann doch: »Was war los?«
»Nothing! Mind your own business!«, belfert es in wütender Abwehr hinter der inzwischen wieder qualmenden Pfeife hervor.
»Mein Gott, sei nicht kindisch! Wir müssen das doch klären. Schon wegen unserer zukünftigen Zusammenarbeit!«
Dieses Argument scheint vorerst nur bei Chief Inspector McGrath auf Resonanz zu stoßen, denn der erklärt nach einer Pause: »Er hat O’Connell ziemlich arg beschimpft. Wenigstens indirekt. Ihr verdammten ... Macs hat er gesagt.« Auch jetzt geht ein vorsichtiger Blick auf O’Connell, aber der verschanzt sich hinter demonstrativem Pfeifengepaffe. Mut fassend, fügt der Belfaster Ire noch hinzu: »Das ist ungefähr so, als würdest du zu einem Farbigen >Bimbo< sagen. Nur noch schlimmer!«
»Ach so«, meint Benedict kopfnickend, ist aber noch weit davon entfernt, die Sache wirklich zu verstehen. Na gut, ein Schimpfwort. Sicher nicht das Passende. Aber deshalb so ein Aufstand?
Nach zwanzig Minuten gemeinsamen Vorsichhinschweigens öffnet Patrick O’Connell endlich seinen Mund. »Also gut. Ich will versuchen, dir das zu erklären. Wegen der Zusammenarbeit. Die Macs, das ist die von den englischen Kolonialbesetzern für die Iren gebrauchte Schimpfbezeichnung. Das kam von den bei uns gebräuchlichen Namen, die meistens entweder mit einem O wie O’Flaherty oder mit einem Mac wie ... MacGrath begannen. Schon in der Anglo-Normannen-Zeit waren die Iren in den besetzten Gebieten des Landes rechtlos.« Mit aufgesetzter Stimme, das Näseln des englischen S.I.B.-Captains kopierend, deklamiert der Dubliner: »That neither O' nor Mac shall strutte ne swagger thro' the streets of Galway.« Dann wieder mit normaler Stimme: »Mit anderen Worten, das von den Kolonialisten besetzte Galway durften Iren nicht betreten! Seitdem ist das Wort Mac, von einem Engländer gebraucht, Inbegriff der Abwertung und Nichtachtung der Iren. So wird es auch heute besonders von den englischen Soldaten in Nordirland gebraucht. Fuck'n Macs!«
»Und das hat der Jerry zu dir gesagt?«, wundert sich Benedict.
»Ach Quatsch! Er hat doch gar nicht mich persönlich gemeint!
Es ging um diese verdammten Provisionals, die wir hier aufspüren sollen!« O’Connell scheint sich nicht besonders wohl in seiner Haut zu fühlen. »Irgendwie ist da ’ne Menge zusammengekommen heute. Und da ist bei mir die Sicherung durchgebrannt. Immerhin haben wir eine gemeinsame, wenn auch sehr unangenehme Geschichte. Sieh mal, ich komme zwar nur aus kleinen, katholischen Verhältnissen, Vater Polizeisergeant in Cork und Mutter vollauf mit dem Großziehen von sieben Kindern beschäftigt, aber ich konnte meinen Abschluss als Bachelor of Law am Cork University College machen, bevor ich zur GARDA ging. Meine Frau ist Lehrerin am Loretta Convent in Dublin. Natürlich sind wir praktizierende Katholiken, wer ist das nicht bei uns, aber ich würde meine Familie als liberal-republikanisch-aufgeklärt bezeichnen. Uns würde nie im Traum einfallen, Sinn Féin unsere Stimme zu geben. Wir wählen Fianna Fail! Aber trotzdem, irgendwo stecken der ganze Ballast unserer unglücklichen Verkettung mit England und die Erinnerung an die Opfer, die wir in unserer Geschichte bringen mussten. Ich weiß auch, dass einige meiner Kollegen von der Special Branch absichtlich weghören, wenn sie von einem Waffentransport der IRA erfahren. Wie gesagt, manchmal singt man selbst ganz tief drinnen auch die alten Lieder der Volunteers aus den Befreiungskämpfen gegen die Engländer mit. Und manchmal kommt es dann eben aus einem rausgekotzt! Na, ich werde heute Abend mit Jerry ein, zwei Gläser Whisky trinken und die Sache wieder bereinigen. Ausnahmsweise schottischen!«, fügt er schon wieder augenzwinkernd noch hinzu.
Erleichtert atmet der deutsche ISAT-Leiter auf. »Danke, Patrick. Für deine Erklärung und für deine ... Saufbereitschaft!«
Nachdenklich lässt auch McGrath wieder von sich hören. »Wie sich die Bilder doch manchmal gleichen. Ich würde meine Familie auch als aufgeklärt bezeichnen. Natürlich royalistisch-aufgeklärt. Keine Fanatiker. Wir haben katholische Freunde. Aber wenn am 12. Juli die Orangemen zum Gedenken an die Schlacht am Boyne ihre großen Trommeln schlagen, dann kriecht auch in meinen Eingeweiden dieses Steinzeitfeeling hoch, und ich muss mich mit aller Macht gegen den Wunsch stemmen, im Gleichschritt mitzumarschieren. Ja, ja. Aufgeklärt nennen wir uns. Wissen um viele Zusammenhänge. Aber die Tünche scheint ziemlich dünn!«
Auch für den Hauptkommissar gestaltet sich der Rest des Nachmittags eher grüblerisch. Bilderfetzen aus seiner Vergangenheit, losgerissen von den Erzählungen der beiden Iren, setzen ihm heftig zu. Mit welcher Sehnsucht er die blinkenden Fanfaren und flatternden Seidenwimpel der Pioniere damals betrachtete, wie er der Erste in der Klasse sein wollte, der das FDJ-Hemd überstreifte, um in der blauen Kolonne dem peitschenden Vorwärtsklang der silbernen Schalmeien zu folgen. Und die anderen Millionen? Jahre vorher. Andersfarbig. Und heute? »Wie dünn ist sie wohl, meine Tünche?«
Mittwoch, der Wochenteiler.
Tschüss, blue monday. Hallo, rosa weekend!
Im Disco-Club Yuppi Du, nahe der Stadtgrenze von Düsseldorf, zeigen die jungen Leute ihre Träume, Träume von Individualität finden ihren Ausdruck in glitzernden Fassaden aus Make-up, gestylten Frisuren und Neon Couture. Queen for one night. Der Michael Jackson aus der Itterstraße. Selbstvergessen tanzen die meisten einsam auf der bunt flackernden Laserfläche vor sich hin. Lassen sich bis ins Mark volldröhnen mit den lockenden Kunstprodukten der Plattenindustrie. Und nicht nur damit. Was soll’s, der müde Arbeitstag kommt früh genug.
Das Mädchen in dem glänzenden Stretchanzug unter dem knallgelben Mini hebt sich etwas von den anderen Traumtänzerinnen im Yuppi Du ab. Nicht in ihrem Outfit, nein, da kann sie es mit jeder der anderen Selbstdarstellerinnen aufnehmen. Der schwarz glänzende, enganliegende Anzug bringt ihre jugendlichen Formen zur Geltung. Ihr aufreizender Hüftschwung während des Tanzens wird durch das gelbe Röckchen zusätzlich betont, und das neonfarbene Trägerleibchen lenkt begehrliche Blicke immer wieder auf die im Takt wiegenden Brüste. Aber unter dem modisch geschnittenen Blondhaarpony funkeln zwei hellwache blaue Augen. Und das unterscheidet sie von den meisten Tänzerinnen in der lärmerfüllten Disco. Trotz der Lautstärke der großen Boxen hat sie den ganzen Abend über versucht, mit anderen ins Gespräch zu kommen, und sie hat auch nicht nur mit sich selbst getanzt.
Ihre Bemühungen sind auf fruchtbaren Boden gefallen.
Jedenfalls wechseln sich zwei junge Männer, Freunde offenbar, als ihre Tanzpartner ab. Sie haben ein paar Gläser zusammen getrunken, ein paar Takte gequatscht, auch schon mal zwei, drei langsame Sachen zum Stehendschmusen genutzt. Ganz locker alles.
Mittlerweile ist es schon Donnerstag geworden. Es ist drückend heiß und laut in dem immer noch vollen Schuppen.
»Ich glaub’, ich geh’ mal 'n bisschen an die frische Luft, eh!«, versucht Blondie den Höllenlärm zu übertönen. Die beiden Freunde werfen sich einen kurzen Blick zu.
»Klar! Is’ ja auch heiß hier. Aber gehst besser nicht alleine um diese Zeit!«
»Sonst passiert dir noch was an der frischen Luft!«
Die Stimme des anderen jungen Mannes hat einen raspelnd rauen Klang. Aber das merkt bei dieser Musik niemand. Und außerdem kennt man sich doch. Sieht sich ja fast jede Woche hier oder da. Was soll da schon sein!
Draußen ist es erfrischend kühl. Das Wetteramt Essen meldet für die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag 7 bis 10 Grad Celsius.
Aber nicht kühl genug, um die hitzigen Gedanken der beiden jungen Männer wieder auf Normalpegel zu bringen. Sie nehmen ihre bunte Tänzerin in die Mitte. »So kann dir überhaupt nichts passieren!«
Das Mädchen ist von der plötzlichen Enge nun doch irritiert - schließlich ist man ja nicht mehr auf der Tanzfläche versucht einen befreienden Scherz: »Ja, klar. Zwei Schmalspur-Tarzans aus Wersten. Auch ’n Schutz!«
Als die beiden Nachtbegleiter sich mit ihr zielsicher nach links wenden wollen, bleibt sie abrupt stehen und sagt fest: »Nein, da will ich nicht lang! Das ist mir ... zu dunkel!«
Dort, hinter der Autobahnbrücke, liegt der Stadtwald. Und ein kleiner Parkplatz, der gerne von Pärchen in ihren Autos benutzt wird. Wenn es dunkel ist.
Wieder dieser Blick zwischen den jungen Männern. Hier, direkt vor der Tür des Yuppi Du, wollen sie nichts riskieren. Ein eingespieltes Team mit vielen Erfahrungen. »Logisch! Nehmen wir doch die andere Richtung!« Erleichtert akzeptiert sie den neuen Weg. Wenn auch die beiden erhitzten Männerkörper sich fester und fester an das Mädchen zu drängen versuchen.
Gegenüber, in der dunklen Einfahrt zum Werksgelände von Krupp wird ein Motor angelassen.
Die zwei Disco-Jungen fangen an, einen gerade gängigen Hit zu singen. Das Ablenkungsspiel beginnt. Das Mädchen singt mit. Im Takt marschieren drei ausgelassene, junge Menschen die nachtdunkle Straße hinauf, lachend und singend, Blödsinn machend. Ein Spiel. Das blonde Mädchen verliert seinen lila Lackschuh bei den immer schneller werdenden Taktschritten auf dem holprigen Fußgängerweg. Bevor es sich danach bücken kann, hat einer der Begleiter sich den Schuh geschnappt. Ein Pfand. Der zweite Teil des Spieles.
Aus der Krupp-Einfahrt biegt ein VW-Bus in gemächlicher Fahrt auf die Hildener Straße Richtung Benrath ein. Der Fahrer hat vergessen, die Scheinwerfer einzuschalten. Sicher ein übermüdeter Spätschichtler auf der Heimfahrt.
Das Spiel wird hitziger. Die beiden Männer spielen >Bäumchen Wechsel dich< mit Mädchen und Schuh. Ohne es aus der engen Umklammerung zu lassen, stecken sie sich gegenseitig das Beutestück zu. »Und was bekomme ich, wenn ich ihn dir wiedergebe? Einen Kuss, ja?«
Die junge Frau ist des Spielens schon mehr als überdrüssig, willigt aber doch ein. Es muss endlich Schluss sein! Kaum dass sie sich gegen die schnelle, klebrige Zunge in ihrem geöffneten Mund wehren kann.
»Und jetzt den Schuh!«
Aber mit empörter Stimme kommt die raue Antwort: »Jetzt hat mir doch dieser verfluchte Hund dabei deinen Schuh geklaut! Gemein!«
»Her mit dem Schuh, du Mistkerl!«, versucht sich das Mädchen auf den anderen zu stürzen, aber während dessen Freund ihren Körper fest umschlossen hält, fühlt sie schon seine heißen Lippen auf ihrem Gesicht. Jetzt, als das Spiel vor der letzten Phase steht, versucht sie mit Weinen die Situation zu ihren Gunsten zu wenden. Zu spät. Das hitzige Geplänkel hat sie in die stockdunkle Sackgasse an der Telleringstraße verschlagen.
Auch der VW-Bus, immer noch ohne Scheinwerferlicht, hat hinter den dreien langsam die Hauptstraße verlassen und hält neben dem Gebäude der Firma Robot. Niemand steigt aus. Dünne Auspuffwolken zeigen Leerlauf an.
Nein. Das ist kein Spiel mehr. Hier geht es nicht mehr weiter. Vorne nur noch die Begrenzungsmauer der Bahngleise und rechts die finsteren Lagerschuppen des DB-Frachtgeländes.
Kein Hilfe versprechendes Licht aus dem lange geschlossenen Lignano. Das Mädchen fühlt sich urplötzlich von starken Männerkörpern an die Betonwand gepresst, harte Hände zwischen ihren Schenkeln, andere Hände an den schweißnassen Brüsten.
Sie öffnet den Mund zu einem aussichtslosen Schrei, ein Stofffetzen wird zwischen ihre Lippen geschoben und bringt sie zum Würgen. Tränen verschmieren die kunstvoll aufgelegten Farben.
»Jetzt!«, sagt ruhig die Frauenstimme auf dem Beifahrersitz des VW-Busses. Der Motor des Wagens kreischt übertourig auf. Räder drehen durch. Zentimeter vor der Mauer kommt das Fahrzeug hart zum Stehen. Fünf, sechs, sieben, acht Vermummte springen aus den aufgerissenen Wagentüren.
»Was ...?«
Der erschrockene Aufschrei wird durch einen gezielten Handkantenschlag erstickt. Dann stürzen sich sieben Gestalten lautlos auf die beiden Männer, die nach unzähligen Hieben und Fußtritten schmerzvoll stöhnend am Boden liegen.
Währenddessen führt die achte Vermummte das unter Schock stehende Mädchen in das Innere des Wagens.
Die zwei Männer am kalten Boden können nun auch nicht mehr stöhnen. Sie haben Pflaster über den blutverschmierten Mündern. Ihre Arme sind hart auf den Rücken gefesselt worden.
Die Frau, die das Mädchen zum Bus brachte, kommt jetzt mit zwei Eimern und großen Tapezierpinseln zurück.
Nach fünf Minuten ist die nächtliche Arbeit vollendet. Nun werden auch die Beine der beiden gefesselt. Zweimal flackert der blaue Schein eines Blitzlichtes auf. Dann verlässt der Bus das dunkle Ende der Straße und biegt mit jetzt eingeschalteten Scheinwerfern in die Hildener Straße ein. Mit vorschriftsmäßigen 50 km/h und unter sorgfältiger Beachtung der Verkehrsregeln entfernt sich das Fahrzeug mit den gardinenverschlossenen Seitenfenstern vom Ort des Geschehens.
Dort breitet sich langsam eine Wolke scharfen Geruchs aus. Eine üble Mischung aus ätzenden Lackfarbendünsten und übelkeiterregenden Gülleschwaden.
Donnerstagnacht, 1 Uhr 6, nimmt die Kriminalwache des Präsidiums den Telefonanruf einer Unbekannten entgegen: »In der Telleringstraße am Bundesbahngelände hat eine Massenschlägerei stattgefunden. Da liegen zwei, die sehen aus wie tot! Ende!«