Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 37

15

Оглавление

»Das ist aber sehr plötzlich gekommen! Hat sie gesagt, was sie hat?«

»Nein«, meint Läppert und zuckt mit der Schulter, »aber wenn es am Montag noch nicht besser ist, schickt sie die Krankmeldung vom Arzt rein!«

Kriminalhauptmeister Ganser wäre an diesem Freitagvormittag viel lieber mit seiner Kollegin zu Michael Helbig nach Gerresheim gefahren. Er hätte sich den Helbig vorgenommen, sie die Mutter. Oder umgekehrt. Aber gegen plötzliche Unpässlichkeiten kann man nichts machen. Er überlegt kurz, ob er vielleicht Läppert fragen soll ... Oder den Chef? Besser noch keine Pferde scheu machen. Ist danach noch Zeit genug.

In den Straßen hält sich zäher Frühnebel. Ganser fährt mit seinem roten >Spezial< die Grafenberger Allee hoch. Der Staufenplatz ist endlich fertig, heißt also nicht mehr der Stau-Fan-Platz. Den rotgesichtigen Verkehrsschupo wird er vermissen. Vor dem Atlantic biegt er rechts in den Pöhlenweg. Links fängt die grüne Hardt an. Ein paar vereinzelte Apartmenthäuser stehen auf der rechten Seite, bevor der Pöhlenweg in die Torfbruchstraße übergeht. Die Gegend ändert sich. Links gibt es zwar immer noch herbstliches Grün, aber rechts erscheinen rotbraun verklinkerte Legokästen, fünf Stockwerke hoch, alle gleich. Der Wagen springt auf der Torfbruchstraße wie auf einem Rallyekurs. Ganser schüttelt sich in Erinnerung an seine Schreckensfahrt neben Angela. Dieser Straßenbelag könnte mal eine Erneuerung vertragen.

Dann kommt das Poststadion auf der Dreherstraße. Da hat er auch schon oft Fußball gespielt, lange her. Noch weit vor ihm sieht er die Lierenfelder Schlote. Da ziehen sich die Nebel als Industrieabfall in nicht mehr lichte Höhen. Vor der Bahnbrücke biegt er links ab: Siedlerweg.

Auch das noch. Am abgasverpesteten Rand von Düsseldorfs innerstädtischem Industriegebiet, das feine Grafenberg ist noch weit, sieht er sich einer putzigen Idylle gegenüber. Häuschen mit eingezäunten Gärten; Gartenzwerge und Fußmatten.

Siedlerweg 69. Er parkt den Wagen gegenüber, bleibt einige Minuten im Fahrzeug sitzen und steckt sich eine Zigarette an. Hoffentlich nimmt man das hier nicht übel. Er beobachtet die Umgebung, ohne besonderen Grund. Das macht er immer, wenn die Umstände eines Einsatzes es erlauben. Aus der Innentasche seiner Lederjacke zieht er das mittlerweile arg zerknitterte Stück Papier und prägt sich nochmals jedes Wort von Kriminalhauptmeister Dunklenbroich ein. Dann öffnet er entschlossen die Wagentür, schnippt den Zigarettenstummel auf die Straße und tritt ihn sorgfältig mit dem Absatz aus.

Das Haus von Mutter und Sohn Helbig hat schon bessere Zeiten gesehen, was man allerdings auch von den anderen Häusern der Straße behaupten kann. Es ist ein sehr großes Einfamilienhaus oder ein zu klein geratenes Zweifamilienhaus, wie Ganser findet. Am Dach müsste vielleicht bald mal was gemacht werden. Vorne gibt es einen schmalen Vorgarten hinter dem grünen Zaun. Hinter dem Satteldach kann Ganser hohe Bäume aufragen sehen. Da gibt es bestimmt einen großen, alten Garten. Ein wirklich großes Haus für zwei Leute, denkt der Polizist und drückt auf die Klingel.

Hinter der braunen Holztür rührt sich nichts. Ganser drückt nochmals auf den weißen Knopf. Immer noch nichts. Aber über seinem Kopf wird ein Fenster geöffnet. Er tritt aus dem Eingang zurück und reckt den Kopf nach oben.

Eine Frau mit streng geschnittenen Haaren sieht auf ihn herunter und fragt abweisend: »Was wollen Sie?«

So passt das Ganser überhaupt nicht. Er tritt von einem Fuß auf den anderen und dreht verlegen den Kopf nach links und rechts. »Kann ich Ihnen das vielleicht unten an der Tür sagen?«

Widerwillig betrachtet ihn die Frau und sagt dann herrisch: »Gut, stellen Sie sich an die Tür!«

Ganser geht an die braune Haustür zurück und hört drinnen Schritte, die Holzstufen hinunterklappern. Dann öffnet sich ein ovales Milchglasfensterchen hinter dem Ziergitter der Eingangstür. »Ja?« Sehr helle Augen mustern ihn scharf.

Auf so etwas hat sich der Beamte des 1. K inzwischen vorbereitet. Mit kaum verhohlener Wut klatscht er seinen Dienstausweis an das kleine Fenstergitter. Die Habichtsaugen fahren erschrocken zurück. Bitte, wenn die das so haben will.

»Kriminalpolizei!«, brüllt Ganser lauter als nötig. »Ich komme wegen Ihres Sohnes!«

Ruckartig geht die Tür auf. Die Frau reißt den stolpernden Polizisten fast in den Hausflur hinein. »Nun schreien Sie doch nicht so!«

Ganser folgt der stattlichen Dame die Treppe hoch. Als der knöchellange Wollrock von Frau Helbig beim Aufstieg etwas hochrutscht, bemerkt der Kriminalhauptmeister den Rand eines roten Brandmals an der Wade des linken Beins.

»Bitte. Setzen Sie sich da hin!«

Nur keinem Streit aus dem Wege gehen, denkt Ganser amüsiert, nimmt aber folgsam Platz.

»Ich mache Kaffee!«

Das Weib duldet keinen Widerspruch.

»Nehmen Sie Milch oder Zucker?«

»Ja, gerne, Frau Helbig.«

»Was? Zucker? Oder Milch?«

»Beides, Frau Helbig!«, sagt der Beamte fest.

Der Kaffee ist erstaunlich gut, und die Frau ist auch im Sitzen noch ein Monument. Ganser sucht er nach einem passenden Ausdruck für diese Art Frau. Stramm, das ist es, eine stramme Person: in der grünen Bluse große, straff gehaltene Brüste, die Schultern aufrecht nach hinten gedrückt. An den Wänden hängen viele Pferdebilder; gemalte Köpfe und Fotografien, Reiterstandbilder. Vielleicht passt der Begriff Herrenreiterin noch besser. Fehlen nur noch Stiefel und Reitgerte. Aber sie hat ein Laster, das verbindet: die gleiche Zigarettenmarke. Erleichtert legt er seine angebrochene HB-Packung vor sich auf den Glastisch.

Und es verbindet wirklich. Die Frau in der grünen Bluse zündet sich mit einem silbernen Tischfeuerzeug eine Zigarette an und inhaliert den ersten Zug tief ein. Dann schiebt sie mit einer kleinen, fast schon intimen Geste Ganser das Feuerzeug hinüber.

»Wie ist Ihr Name?« Mal keine Anordnung.

»Ganser. Erstes Kommissariat.«

»Ich dachte, die Sache wäre erledigt!?«

Halb Feststellung, halb Abtasten.

»Warum?«

»Ich habe dem Polizisten gesagt, dass mein Sohn hier war. Bei mir! Und ein Sexualverbrecher ... ist mein Sohn schon gar nicht!«

Ganser sagt nichts.

Frau Helbig drückt die Zigarette hart im Zinnteller aus, fährt sich mit der ringlosen Rechten durch das streng gescheitelte Kastanienhaar und legt die kräftigen Beine übereinander. Als der dunkle Rock den großen Flecken verbrannter Haut freilegt, stellt sie die Beine hastig wieder nebeneinander auf den Boden.

»Trägt Ihr Sohn einen Ring? Einen großen mit einem bunten Stein?« In einem der Berichte hatte er so etwas gelesen.

»Wieso?«

»Ich würde ihn gerne selbst sprechen«, sagt Ganser sanft.

Die schwere Frau steht auf und stellt sich ans Fenster. Ein starkes, herbes Profil. Dunkle Haut, klare Konturen, festes Kinn unter gerader Nase. Ein Standbild.

»Er ist nicht da!«

»Ich werde auf ihn warten.«

Die geraden Schultern in der grünen Bluse fallen leicht herunter. Ob sie wohl Leberflecken hat? Was ist das für ein rotes Mal an ihrem Bein? Ständig ist sie bemüht, es zu verbergen.

»Das kann dauern. Er ist bei irgendwelchen Computerfreunden. Da kommt er immer erst spät nachts zurück!«

»Ihr Sohn ist nie da, wenn wir mit ihm sprechen wollen.« Eine bewusste Lüge. Nur einmal ist Dunklenbroich dagewesen. »Vielleicht schicke ich ihm eine Vorladung ins Präsidium!«

Erleichterung? Die Frau am Fenster wendet ihr Gesicht zu ihm. »Ja, tun Sie das!«

»Oder sollte ich lieber nachts kommen?«

Die roten Lippen formen einen dünnen Strich.

»Wo lebt Ihr Sohn?«

»Hier im Haus natürlich! Wo sonst?«

Nie eine einfache Antwort. Immer eine Gegenfrage.

»Kann ich mal sein Zimmer sehen? Ich habe keinen Durchsuchungsbefehl!«

Zögernd sagt Frau Helbig: »Kommen Sie!«

Wieder Stufen. Ein Zimmer unter dem Dach. Sehr aufgeräumt. Ein Bett mit einer bunten Decke. Blaue und gelbe Bärchen. Eine Regenbogenbettwurst. Schlittschuhe am Nagel. Farbige Poster von Filmen, an die sich Ganser kaum erinnern kann. Ein Stapel Perry-Rhodan-Hefte. Plattenspieler. Stapelweise Singles. Kinderbücher in einem Holzregal. Alles sehr ordentlich. Jedenfalls ist es nicht das Zimmer eines dreißigjährigen Mannes!

»Ist die Sache damit erledigt?!«

»Nein, Frau Helbig. Erst wenn ich mit Ihrem Sohn gesprochen habe!«

Draußen steigt Ganser in den Wagen. Oben am Fenster sieht er es grün schimmern. Hinter der Ecke, mehrere Häuser weiter, hält er den Wagen an und steigt wieder aus. Er geht auf dem schmalen Weg zwischen Bahngleisen und Gartenzäunen entlang, bis er hinter Bäumen das Dach des Helbigschen Hauses sehen kann. Über die sauber gestutzte Hecke hinweg sieht er zwischen Büschen und Obstbäumen ein gelbes Holzhäuschen stehen. Die Fensterläden sind vorgeklappt.

Er setzt sich auf die Böschung des Bahndamms, lässt sich ein paar Sonnenstrahlen auf die Nase scheinen und wartet. Fünf Zigaretten und sieben vorbeiratternde Züge später sieht er Frau Helbig mit einer Thermoskanne in der Hand durch den Garten gehen. Sie verschwindet im Sichtschatten des Holzhauses. Seine Position ist ungünstig. Die Tür zur Laube liegt auf der abgewandten Seite. Aber nach knapp drei Minuten kommt Mutter Helbig wieder aus dem Schatten der Laube heraus und verschwindet im Hintereingang des Vorderhauses. Ihre Hände sind leer.

Ganser steht leise pfeifend auf.

Die Nebel haben sich verzogen. Mittägliche Herbstsonne wärmt ihn durch die Windschutzscheibe, als er zurück ins Präsidium fährt.

*


»Ich dachte schon, Sie wären krank!«

Stocksauer knallt der Hauptkommissar den Hörer auf die Gabel. Da hat er sich wohl zu früh gefreut. Jetzt gingen die Anrufe aus dem Bundeskanzleramt doch wieder los.

Polizeihauptmeister Liszt starrt mit geistesabwesendem Blick zu ihm herüber. Er hört konzentriert den Funkbericht einer seiner Beobachtungsstationen ab. Seine linke Hand liegt direkt neben dem mattierten Schaft einer Maschinenpistole.

Heute morgen musste Captain Hart mit Alpträumen aufgewacht sein, was vielleicht an dem unbequemen Feldbett lag. Er wartete mit dem, was er zu sagen hatte, nicht mal bis nach dem Zähneputzen. Entsprechend roch die Idee des Engländers auch.

»Die RAFs haben doch sehr früh schon von sämtlichen Planungen in dieser Sache gewusst. Da sind doch Informationen auf höchster Ebene ausgetauscht worden. Wer sagt uns, dass nicht plötzlich McCann und Savage hier in der Tür stehen und uns einen schönen Gruß Splitterbomben hier reinschmeißen!«

Aus diesem Grund haben Liszt und Herrmann neben ihren normalen Dienstpistolen noch zwei Heckler & Koch mit Reservemagazinen auf ihren Arbeitstischen liegen. Die Haltung zum vorgeschlagenen Anlegen von gepanzerten Westen ist allgemein ablehnend gewesen, aber die Westen liegen zumindest seit zwei Stunden griffbereit auf den Schreibtischen. Auf dem Flur steht jetzt ein zusätzlicher Beamter Wache. Ausweiskontrolle. Auch die Leute von der Bildauswertung haben ihre Wagenburg aufgerüstet. Und Benedict hat sich widerstrebend seine Sig-Sauer aus dem Schreibtisch im Präsidium bringen lassen, den Lauf des Mechanismus geprüft und das knarrende Lederholster angelegt. Es ist nicht so, dass Benedict das Schießen oder Waffen allgemein verabscheuen würde. Nein, er gehört nicht zu den idealistischen Spinnern, die stolz mit ihrem Butterbrot in der Pistolentasche herumlaufen. Er schießt sogar gerne, wenn auch nicht besonders sicher. Sein Widerwillen gegen das Tragen und den Gebrauch der Dienstwaffe hat andere Ursachen: Sie ist schwer, unbequem, beult teure Kleidung aus und hinterlässt häufig schmierige Spuren von Waffenfett auf exklusiven Van-Laack-Hemden. Außerdem macht der Gebrauch im Ernstfall immer das umständliche Abfassen eines Berichtes notwendig, und nie ist man wirklich davor gefeit, selbst Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens zu werden.

O’Connell und McGrath sehen reichlich bekümmert drein, als ihnen Benedict das Tragen deutscher 9-mm-Polizeipistolen strikt abschlägt. »Dazu seid ihr hier nicht befugt. Bei Jerry ist das anders. Der gehört zur Special Investigation Branch, und die Engländer haben hier eben andere Rechte!«

Captain Hart zwinkert den beiden Männern von GARDA und RUC zu. Soll er doch, denkt Benedict. Immerhin habe ich damit verhindert, dass sie hier mit Waffen rumlaufen, an die sie nicht gewöhnt sind. Wenn der Engländer ihnen Waffen verschafft, bitte.

Aber dann sind es wenigstens die englischen Brownings, mit denen sie sich auskennen. Außerdem muss dafür Jerry dann ganz allein die Verantwortung tragen.

»Präsidium Köln, Herr Hauptkommissar!«, winkt Liszt mit der Hand zu ihm rüber und stellt durch.

Nein! Bloß nicht noch eine Wohnung aus Köln! Aber es ist nicht der kölsche Singsang des K-Leiters vom Waidmarkt.

»Kolzow. Ingeborg Kolzow. Kriminalrätin!« Eine kühle Frauenstimme.

»Ja? Benedict. Kripo Düsseldorf. Was ...?«

»Frau Staatsanwältin Meerkämper aus Berlin hat mit mir gesprochen. Über Ihre ... Probleme mit Maria ... Maria Leiden-Oster! Sie war nämlich ein paar Jahre unter meinen Fittichen. Früher ... als ich noch das Zwote bei uns geleitet habe!«

Was mache ich bloß mit der? Ausgerechnet jetzt ...

»Ja, ich verstehe, Frau Kollegin. Es gibt da nur für mich ein Problem ... im Moment bin ich mit anderen Sachen sehr beansprucht. Könnten wir das vielleicht, sagen wir, in zwei Wochen ...«

»Ich weiß, was Sie meinen, Herr Kollege! Allerdings ... nach allem, was mir Frau Meerkämper mitgeteilt hat ... es wäre sehr tragisch, wenn da was passiert!«

»Tragisch? Passiert? Übertreiben Sie da nicht ein wenig, Kollegin?«

»Mir wäre wohler, wenn dem so wäre. Damit Sie sich eine Meinung bilden können, müssten Sie sich erst ... etwas ansehen. Hier in Köln!«

Diese Stimme klingt zu ruhig und abwägend, um für blinden Aktionismus zu stehen. Benedict hört echte Sorge aus der Stimme am anderen Ende. Was ist nur gestern Abend gewesen? Irgendwas hat die MLO doch zu ihm gesagt, als er sie nach Ganser gefragt hat.

»Wie lange würde das dauern, bei Ihnen in Köln?«

»Ungefähr eine Stunde.«

Benedict sieht auf die Wanduhr. Viertel vor zwölf. Dreiviertel Stunde bis Köln. »In Ordnung. Bin gegen halb eins am Haupteingang!«

Von der Fahrbereitschaft aus ruft er noch mal kurz im Ersten an und versucht Ganser zu erreichen, aber der ist unterwegs. Von Läppert erfährt er, dass sich die Kommissarin krank gemeldet hat. Für einen Augenblick hat er ein flaues Gefühl im Magen.

Bedingt durch die üblichen Schwierigkeiten auf den Kölner Ringen schafft es Benedict bis zwanzig vor eins. Am Haupteingang wird er nur vom Pförtner empfangen: »Kommt sofort, die Kriminalrätin!« Solange vertritt sich Benedict auf ungewohntem Terrain die Beine. Trotz allem ein schöner Tag heute. Wasser plätschert in einem Brunnen auf der anderen Straßenseite. Die kleine St.-Georg-Kirche gegenüber stiehlt mit ihren wuchtigen Kalksandsteinen dem dreizehnstöckigen Polizeipräsidium die Schau. Trotz des immensen Größenunterschiedes scheint die kompakte Kirche größere Macht auszustrahlen. Da nützen auch die großen Antennen auf dem Dach des Präsidiums nichts.

Es hupt. Eine Tür in dem grün-weißen Polizeiwagen steht offen.

»Wir können mit dem Einsatzfahrzeug fahren!«

Die Frau ist wie ihre Stimme. Freundlich, besonnen und bestimmt, mit der Sicherheit einer berechtigten Position.

»Wo fahren wir hin, Kollegin?«

»Nach Köln-Merheim. In die Rheinische Landesklinik.«

»Da müssen Sie mir was zeigen? Um was geht es? Was hat das mit der Kommissarin Leiden-Oster zu tun?«

Darüber möchte Ingeborg Kolzow jetzt noch nicht reden. So verläuft die fünfzehnminütige Fahrt schweigend. Sie überqueren den Rhein über die Severinsbrücke und kommen durch Kalk. Auf den Straßen allgegenwärtiges, kölsches Grinsen. Uralt-Granadas und Ascona-Wracks. Dann biegen sie von der Olpener Straße rechts ab und fahren neben der Autobahn durch freies Feld, bis ein weißes Hinweisschild auftaucht: Rheinische Landesklinik. Sie erreichen die modernen Hochgebäude in grüner Kunstlandschaft. Ein großes Schild. Landschaftsverband Rheinland. Rheinische Landesklinik Köln. Fachklinik für Psychiatrie.

Hauptkommissar Benedict wirft der Kölner Beamtin einen unruhigen Blick von der Seite zu und runzelt betont die Stirn. Die Frau sieht weiterhin bewegungslos nach vorn.

Eine elektronische Schranke öffnet sich vor dem Polizeiwagen. Das Fahrzeug halt vor einem hohen Gebäude mit vielen Fenstern. »Wir sind da«, sagt die Frau neben ihm und steigt aus. »Ungefähr zwanzig Minuten!«, weist sie den Fahrer an.

Neben den breiten Glastüren des Eingangs ein neues Schild. Allgemeine Psychiatrie. Rehabilitation. Wie ruhig es hier ist. Benedict folgt still seiner Begleiterin, die sich hier auszukennen scheint. Sie werden erwartet.

»Das ist Herr Benedict von der Kripo Düsseldorf. Können wir sie jetzt sehen?«

»Natürlich.« Die Ärztin im weißen Kittel geht vor ihnen zum Aufzug. Benedict denkt während der kurzen Fahrt an das Paternoster-Monstrum im Düsseldorfer Präsidium und schüttelt sich.

»Ist Ihnen kalt?«

Bevor die Ärztin im dritten Stock auf den Türsummer drückt, wendet sie sich nochmals an Benedict. »Bemühen Sie sich bitte, ganz locker und normal zu reagieren!«

Der Hauptkommissar dreht sich hilfesuchend nach seiner Kollegin um, schaut aber nur in ein verschlossenes Gesicht. Verkrampft betritt der Kriminalbeamte daraufhin die Station.

Aus einem kleinen Raum mit einem Glasfenster kommt ein junger Mann in Jeans und Pullover, der sie freundlich begrüßt. In dem Zimmer sitzen zwei weitere, ebenfalls junge Männer und trinken Kaffee. Der Freundliche schließt eine andere, dicke Milchglastür auf und lässt sie ein.

Nach der Ruhe draußen könnte der Gegensatz nicht krasser sein. Eine Hand zupft an seinem Jackenärmel, zerrt dann heftiger an ihm. Erschrocken sieht er in ein aufgedunsenes Gesicht mit den hin und her rollenden Augen, »’ne Aktive? Haste ’ne Aktive da? Nur eine einzige Lulle. Bitte, bitte, bitte!«

Ein weißgekleideter Mann fasst die Frau mit der Reibeisenstimme beruhigend um die Schulter und drängt sie weg. »Lass den mal, Else, der hat bestimmt keine!«

»Hab' doch aber ganz schön bitte, bitte gemacht ...«, wimmert die Frau jetzt ängstlich vor sich hin und lässt sich willig wegführen.

Sie stehen in einem weiten, hellen, freundlichen Saal mit großen Fenstern auf ein parkähnliches Rasengelände. Es gibt mehrere kleine Rundtische mit grauen Kunststoffsesseln, auf denen unruhige Menschen sitzen. Frauen. Nur Frauen. Bis auf die zwei weißgekleideten Männer. Laute Stimmen bilden eine an den Nerven zerrende Geräuschkulisse unterschiedlichster Tonlagen. Auf der anderen Seite steht eine Schwarzhaarige in einem sackartigen Pullover vor der nackten Wand. Sie legt den Zeigefinger an die gespitzten Lippen, macht »pssst«, streckt den Finger gegen die Wand und sagt laut »Du!« Dann wieder zurück mit dem Finger vor den Mund. »Pssst. Du! Pssst. Du! Pssst. Du!«

Eine magere Rothaarige umrundet in kurzen eiligen Schritten das große Geviert. Immer eng an der Wand entlang. Bei der Frau mit dem Zeigefinger bleibt sie stehen und macht ein Geräusch wie eine pfeifende Lokomotive: »Hhüüüt!« Die Fingerfrau tritt einen Schritt zurück, vorbei ist die Rothaarige und macht wieder einen Schritt an die Wand. »Pssst. Du! Pssst. Du! Pssst. Du!« »Hhüüüt!« - »Pssst. Du! Pssst. Du!«

»Schöööner blonder Mann!«, kreischt eine dicke Blonde von einem der kleinen Tische herüber. »Willst du an meiner Muschi spielen?« Die anderen Frauen bei ihr geben kreischende Töne von sich, hysterisch aufgeregtes Gelächter.

»Nu, nu. Ist aber gut!«, sagt einer der stämmigen Männer und tritt an den Tisch heran.

Die Frauen in dem Saal verursachen Benedict starkes Unbehagen. Was soll er hier? Das Gesicht der Ärztin ist dicht an seinem rechten Ohr. »Wenn Sie bitte dorthin sehen wollen!«

Auf einem Rollstuhl in der hinteren Ecke des Saales sitzt zusammengekrümmt eine magere Gestalt. Leerer Blick aus schwarzumränderten Augen. Strähnig verklebtes, ungepflegtes Haar. Lang zur Seite herunterhängend. Graue Strähnen. Dünne, fest verschlossene Lippen. Knochige Arme über Kreuz vor den zusammengesunkenen Oberkörper gepresst. Weiße Hände zu kleinen

Fäusten geballt. Die Füße eng beieinander auf dem Stützbrett des Krankenstuhls. Totenstarre inmitten des Chaos. Keine Reaktion auf die Menschen, die herantreten.

»Sie kann nicht allein sein!«

Benedict schüttelt ärgerlich den Kopf. Kriminalrätin Kolzow sagt leise: »Sie ist erst zwanzig!«

Benedict schluckt.

»Wir gehen besser wieder!«, sagt die Ärztin zu einem der Pfleger. Aus dem Lautsprecher neben der Milchglastür quäkt es. »Ja?«

»Lassen Sie uns bitte heraus?«

Im Zimmer der Ärztin stehen drei Tassen mit dampfendem Kaffee.

»Jetzt erwarte ich aber endlich eine Erklärung«, sagt Benedict zu den beiden Frauen und setzt sich auf den angebotenen Stuhl.

Dr. Mertens sieht kurz auf den schmalen Einhefter in ihrer Hand. »Die Patientin, die wir Ihnen gerade gezeigt haben, ist bei uns in ununterbrochener Behandlung seit August 1983. Also fast vier Jahre. Ihr Zustand hat sich seitdem nur unwesentlich verändert!«

»Sie wollen sagen, dass sie seit vier Jahren in diesem Rollstuhl sitzt? In diesem Zustand?«

»Ja. - Die körperlichen Folgen des an ihr begangenen Verbrechens bewältigte sie innerhalb weniger Monate. An den seelischen Zerstörungen werden wir wohl noch sehr lange zu arbeiten haben.« Die Ärztin bläst in den heißen Kaffee. »Nach dem jetzigen Zustand der Patientin - wahrscheinlich erfolglos!«

»Ein Vergewaltigungsopfer?«, fragt der Polizist noch immer mitgenommen von dem eben Erlebten.

»Ja«, ist die knappe Antwort der Ärztin. »Das Mädchen wurde im Alter von 16 Jahren in ihrem Elternhaus von zwei dort eingedrungenen Männern roh zusammengeschlagen und mehrmals vergewaltigt. Soviel ich weiß«, ihr Blick geht hinüber zur Kriminalrätin, »wurden die Täter bis heute nicht gefasst. Aber ein Fahndungserfolg hätte an dem Zustand der Patientin auch nichts geändert, vermutlich. Nein, sicher nicht! Das Mädchen befand sich an dem Abend allein im Haus. Vielleicht wollten die beiden einbrechen und stießen dabei auf sie. Die Eltern waren zu Bekannten gegangen und erst viel später zurückgekommen als eigentlich geplant. Und da war alles schon vorbei. Die ältere Schwester der Patientin, die nicht mehr im Elternhaus wohnte, hatte sich an diesem Abend mit der jüngeren Schwester verabredet, wurde aber wegen einer dringenden Angelegenheit an dem Treffen gehindert. Ein tragisches Zusammentreffen ungünstiger Umstände, wenn Sie so wollen. Sie erfuhr erst am nächsten Tag von dem schrecklichen Vorfall im Haus der Eltern. Die schweren seelischen Störungen der Patientin setzten ein, nachdem die körperlichen Wunden geheilt waren: eine totale Blockade gegenüber der gesamten Außenwelt, die engsten Verwandten eingeschlossen. Der Verlust der grundlegenden und anerzogenen Sicherheit ihres jungen Lebens, die Zerstörung des Bewusstseins von Menschenwürde, Stolz, der Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Der grausame Einbruch in die intimsten Bereiche hat zu Chaos, Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Furcht und Misstrauen gegen jeden geführt. Diese Reaktion richtete sich ganz besonders gegen die Eltern und die größere Schwester, die die ihnen zugewiesenen Rollen als Vertrauens- und Schutzpersonen nicht erfüllt hatten. Aus der Sicht der Patientin! Folge dieser Blockade ist: Apathie, Sprachverlust, Lähmung der unteren Extremitäten ohne diagnostizierbare Ursachen, Appetitmangel, Schlafstörungen, Alpträume, Schreikrämpfe, Bedrohungs- und Verfolgungsphobien. Ein besonders schwerer Fall.«

Schon während des nüchtern gegebenen Berichtes der Ärztin hat es begonnen: Die drei Eisklumpen in Benedicts Rücken senden pulsierende Kälteschauer aus. Steif fasst sich Benedict in den verspannten Nacken und fragt heiser: »Und wie ist der Name der Patientin?«

Die Stimme der Kölner Kriminalrätin lässt eine weitere Welle der Vereisung seinen Rücken herunterrollen.

»Die Frau dort oben heißt Ruth ... Ruth Leiden.«

Den Rest der Geschichte erfährt der Hauptkommissar erst im Büro der Kriminalrätin.

Maria Leiden - damals führte sie noch nicht den durch Heirat erworbenen Doppelnamen - ist die ältere Schwester des unglücklichen Wesens in der Rheinischen Landesklinik. Sie musste an dem bewussten Abend wegen eines dringenden Polizeieinsatzes die Verabredung absagen. Im Nachhinein legte sie sich eine Mitschuld an dem Zustand ihrer Schwester auf, genau wie die Eltern, die bald danach aus der mit so schrecklichen Erinnerungen behafteten Gegend fortzogen.

Maria Leiden heiratete dann sehr plötzlich. Ebenso schnell wurde die Ehe wieder geschieden. Den Schuldlasten der Maria Leiden waren die Eheleute nicht gewachsen. Mit sturer, fast fanatischer Verbissenheit stürzte sich Maria Leiden-Oster in die Bekämpfung und Aufdeckung von Sexualstraftaten. Sie fand in Ingeborg Kolzow eine Vorgesetzte, die vor dem eigenen Wissenshintergrund die oftmals übertriebenen Anstrengungen der jungen Beamtin zu mäßigen und zu lenken wusste.

So schien nach einigen Dienstjahren die Karriere von Maria Leiden-Oster bei der Kripo Köln einen normalen Verlauf zu nehmen. Ingeborg Kolzow befürwortete die Versetzung nach Düsseldorf sogar selbst.

»Allerdings habe ich nicht berücksichtigt, dass die Düsseldorfer Verhältnisse sich für Maria derart ... schwierig gestalten würden!«

Benedict hat es plötzlich sehr eilig.

*


»Ist der Ganser immer noch nicht da?«, faucht er Läppert im Ersten aufgebracht an.

»Nein, der observiert einen Tatverdächtigen in Gerresheim!«

»Das ist mir völlig egal. Lassen Sie ihn ablösen! Er soll sich unverzüglich bei mir drüben melden!«

Eine halbe Stunde später erscheint der Gesuchte mit empörtem Gesicht im ISAT-Büro. »Mensch, Chef, was ist denn los?«

Dann allerdings reagiert er gewohnt schnell. »Verflucht! Wenn die man wirklich krank ist. Hoffentlich dreht die jetzt nicht durch!«

Zusammen fahren sie zu der kleinen Wohnung im Düsseldorfer Stadtteil Vennhausen.

Die Vermieterin schließt den ungeduldigen Beamten freundlicherweise die Tür auf, als sich auf Klingeln und Klopfen nichts in der Wohnung rührt. Von der Kommissarin keine Spur.

»Die ist heute Morgen schon aus dem Haus gegangen. Hatte eine große Tasche bei sich.«

Benedict gibt ihr seine Karte und schreibt noch die ISAT-Nummer auf. »Rufen Sie mich an, wenn sie zurückkommen sollte!«

Aber daran glauben die beiden Männer nicht mehr, als sie in Gansers rotem Flitzer zurückfahren.

Wieder und wieder stellt sich Benedict die gleichen zwei Fragen. »Wo ist Maria Leiden-Oster? Wo ist das Kommando?«

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

Подняться наверх