Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 63

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Die S-Bahn ist voll, aber Benedict erwischt mit seiner „Berliner Zeitung“ doch noch einen freien Platz. Natürlich beschäftigt die Verhaftung von fünf weiteren RAF-Terroristen auf dem Staatsgebiet der DDR die Medien, und am gestrigen Sonntag ist in dieser so unerhörten Zeit wieder mal Unerhörtes geschehen: die NVA-Ehrenposten am Mahnmal für die Opfer des Faschismus Unter den Linden verweigerten ihren Dienst wegen eines Kranzes, den die hierzulande verbotenen Republikaner dortselbst niedergelegt hatten. Aber das alles scheint die Menschen in dieser merkwürdigen Halb-Hauptstadt wenig zu interessieren. Die Gespräche der DDRler bewegen sich hauptsächlich in eine Richtung: Wie ruble ich meine gesparten Alu-Chips in blankpolierte D-Mark um? Und während die Massenmedien den Balanceakt zwischen Aufklärung über Quoten und Kontenumstellung und Anprangerung des Goldenen-Kalb-Getanzes versuchen, drängen sich die Ost-Berliner in langen Schlangen vor Sparkassen, Postämtern und Banken. Auch das Geschubse bei den „freien“ Devisenhändlern mit den gigantischen Umtauschquoten wird von Tag zu Tag hektischer. Die ganze Hauptstadt der DDR scheint zu einer monströsen Wechselstube verkommen zu sein.

Als Benedict den sicheren Hafen in der Normannen-Straße erreicht hat, schnauft er erleichtert vor sich hin. Froh, den gierigen Geldwechslern da draußen entronnen zu sein, beginnt er mit dem Studium der neuen Raschke-Vorgänge auf seinem Tisch. Die Routine hat ihn wieder, und er notiert fein säuberlich Namen auf seinen Schreibblock, den er beim Verlassen des Hauses wieder von den Bürgerkommiteelern kontrollieren lassen wird.

Ganser in Düsseldorf wird sich freuen, denn dieser Raschke hat sich ziemlich effektiv in den Kreisen der DDR-Opposition bewegt. Wie ein Fisch im Wasser, kommt Benedict der Leitsatz aus Maos Brevier über den Partisanenkrieg in den Sinn. Aber der hatte das wohl etwas anders gemeint. Wenn die Leute alle wüssten, wer sie da ans Messer geliefert hat... wem sie so manche schicksalhaft scheinende Wende in ihrem Leben zu verdanken hatten ...

Während des Essens in der Stabskantine setzt sich der Hauptkommissar etwas abseits und blättert, über den Teller gebeugt, in Diana Meißners Buch über Dean Sanger. Gestern Abend hatte er zwar müde noch ein wenig in dem schmalen Bändchen herumgeblättert, sich aber hauptsächlich die Fotos betrachtet.

Dean Sangers Posen.

Der Cowboy mit Gitarre, der Fußballspieler, der Motocross-Rider auf der MZ, Dean Sanger hoch zu Ross, auf einer Hängematte am Amazonas, als kerniger Rodeo-Reiter und als „lonesome“ Gunman. Hey, I’m the American hero!

Und dann wieder diese ganz anderen Bilder. Vor der US-Botschaft in Chile wäscht er 1970 symbolisch das Sternenbanner und wird von chilenischen Soldaten verhaftet. Pressefotografen natürlich dabei. Dean Sanger mit dem Ersten Sekretär des ZK des sowjetischen Komsomol, mit Präsident Allende, Daniel Ortega, Yasir Arafat und Ernesto Cardenal.

Wie geht das alles zusammen? Hier das aufstrebende Schlagersternchen von Capitol-Records mit dem typisch amerikanischen Hang zur Selbstdarstellung und da der Kämpfer für die Rechte der Unterdrückten und Liebling der sozialistischen Massen. Der Überläufer. Verräter am American way of Life.

Und auch Ramona Sanger ist auf den Fotos. Ein pummeliger Teenager. Mit smiling Dean vor dem amerikanischen Traum aus Chrom und Weißwandreifen. Er kann kaum eine Ähnlichkeit mit der aufgeregten jungen Dame aus dem Los Angeles des vergangenen Novembers entdecken.

Nach den Fotos zu urteilen, war das doch ein ziemlich sportlicher Typ gewesen. Und der soll so einfach ertrunken sein? Für Meißner jedenfalls war die Sache klar. Aber wie weit kann man dem Leiter der MUK da trauen? Andererseits, welche Gründe sollte er haben, ein eventuelles Fremdverschulden oder gar eine Beteiligung des MfS zu verschleiern? Jetzt noch?

„Ich habe ihn noch persönlich erlebt, 1973, bei den Weltfestspielen. Unsern Dean! Draußen in Weißensee!“

Erschrocken sieht Benedict auf und in die glänzenden Augen der Staatsarchivarin.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Natürlich, gerne.“ Kann er der Dauergewellten wohl schlecht abschlagen. Immerhin sorgt sie für ständigen Nachschub an Raschke-Akten in der Zentralkartei. In den Augen der etwa Fünfzigjährigen liegt immer noch dieser Schimmer. So hatten auch Ingeborg Meißners Augen geglänzt, als sie über Dean Sanger sprach.

„Das gleiche Buch habe ich auch zu Hause. Sogar mit Widmung!“

Mein Gott, hatte der denn jedem in diesem Lande persönlich ein Buch gewidmet?!

„Was ich nicht verstehe, Sie sind doch von der West-Polizei, was interessiert Sie denn an Dean Sanger?“

„Sie werden lachen, ich bin zufällig in Ihren Akten auf ihn gestoßen und ... ich finde, dass er ein bemerkenswerter Mensch gewesen sein muss ..."

Als hätte er eine Schleuse geöffnet. Die Archivarin scheint ihn wirklich persönlich gekannt zu haben. „Damals in Weißensee haben wir ihm bei strömendem Regen zugejubelt. Er hat uns mit seinen Liedern alle mitgerissen. Kennen Sie ,We shall overcome‘? Alle haben mitgesungen, so feierlich war das. Wissen Sie, was er mal zu mir gesagt hat? ,Ich weiß, dass ich nicht die Welt ändern kann, aber ich bin der Meinung, dass jeder Mensch alles tun sollte, was in seinen Kräften steht, um dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf der Welt in Glück und Frieden leben können!'“

Benedict findet das reichlich plakativ und propagandistisch, aber er möchte den Mitteilungsdrang der Frau nicht blockieren und nickt daher interessiert mit dem Kopf.

„Ich fand Dean Sanger nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen großartig. Besonders gefiel mir seine Bescheidenheit und Freundlichkeit. Er war ein so sensibler Mensch. Manche Kollegen hatten ja was gegen sein politisches Engagement, aber wenn sie ihn dann persönlich sahen, änderten sie ihre Meinung. Wissen Sie, dass in Potsdam sogar eine Schule nach ihm benannt wurde?“

Als Benedict später mit Marianne Theuerkorn zusammen die Stabskantine verlässt, scheint es, als habe er eine Freundin gewonnen.

––––––––


„Na, kommen Sie mit unseren neuen Kollegen zurecht?“

Mit dieser Telefoniererei ist das aber auch jedes mal ein Kreuz. Immer muss er dazu über den LKA-Beyer gehen und immer wieder dessen blöde Fragen beantworten, bevor er endlich Zugang zu dessen Funktelefon erhält.

Ganser hat zum Glück Stallwache im Düsseldorfer Präsidium.

„Seid ihr schon auf was gestoßen?“

„Du bist gut. Liefer erst mal genügend Material! War ja reichlich dünn in der letzten Woche. Wir

wollten dich beinah schon zur Fahndung ausschreiben!“

„Hab dir doch gesagt, was los war. Also notiere, oder kannst Du das auch nicht?!“

„Ich höre!“

„Günther Gronwald, geb. 12.9.1941 in Werneuchen ...“

„In was?“

„Werneuchen!“

„Sind das Namen“, stöhnt der Rheinländer am anderen Ende der Leitung gequält auf.

„Gudrun Hindemith, geb. 10.5.1934 in Leipzig. Das wirst du ja wohl kennen!“

Am Ende sind es elf Namen, die Benedict zur Abgleichung an die Kollegen vom K1 durchgegeben hat. „Und sonst? Gibt’s was Neues bei euch?“

„Nö. Die Düsseldorf Panther haben die Red Barons mit 11:0 besiegt, aber das wirst du schon wissen!“ Weiß er nicht. Der Sieg des Düsseldorfer Football-Teams ist an ihm vorbeigegangen.

„Hat Mel Crandell bei den Kölnern mitgespielt?“

„Woher soll ich das denn wissen? Ich war mit Angela zum Gedenktags-Picknick, und außerdem weißt du doch, dass ich mit American Football nichts am Hut habe!“

„Gedenktags-Picknick?“

„17. Juni, Mensch, wo lebst du denn?!“

„Ach ja, der...“

Auch davon hatte er draußen in Rauchfangswerder nichts mitbekommen.

Als Littbarski in der 89. Minute doch noch das Tor für Deutschland schießt, haut ihm Meißner so fest auf die Schulter, dass er sich fast die gesamte Bierflasche über die Hose schüttet.

„Jaaa!“, brüllt Meißner laut und tanzt vor seinem Stuhl herum. „Das ist es! Na endlich, der kleine Littbarski! Und das kurz vor Schluss, Mensch!“ Benedict versteht Meißners Aufregung nicht. Schließlich war die deutsche Mannschaft sicher im Achtelfinale und das Spiel gegen Kolumbien in Mailand reine Formsache. Ja, wenn das die Super Bowl gewesen wäre. Aber diese Kickerei ... Und wieso echauffiert sich der Meißner überhaupt so? Da spielt doch die BRD. Und warum ist der zum Fußballgucken hierher ins VP-Heim gekommen, wird doch wohl ’n Fernseher zu Hause haben.

Minuten später hat sich dann auch der MUK-Lei-ter wieder unter Kontrolle. Die Kolumbianer haben in der letzten Spielminute doch noch den Ausgleich geschafft und die Verhältnisse wieder geradegerückt.

„Ist ja von den Spielanteilen her auch gerecht“, meint er, als sie den Fernsehraum verlassen und zu Benedicts Zimmer gehen. Während der sich im Badezimmer eine neue Hose anzieht, grübelt er immer noch darüber nach, warum Meißner diesen Abend ausgerechnet im Fernsehsaal des VP-Gästeheims verbringen wollte. Wieder zurück, sieht er Meißner in dem Buch über Dean Sanger blättern.

„Immer noch auf heißer Fährte?“, fragt er den Eintretenden spöttisch und legt das Buch aus der Hand. „Sagen wir mal so: immer noch interessiert.“

„Hab Sie wohl nicht so ganz überzeugt?“

„Ja, das trifft es wohl.“

„Mm. Wär ja auch gelacht, wenn’s anders wäre. Na, dann habe ich Ihnen hier was mitgebracht, das Sie wohl endgültig überzeugen wird!“

Erstaunt blickt der Hauptkommissar auf den Umschlag, den der Leiter der MUK aus seiner Jackentasche genestelt hat.

„Vertraulich und zu treuen Händen. Ich erwarte, dass Sie mir den Bericht morgen wieder persönlich zurückgeben. Er muss wieder dahin ... wohin er gehört. Sie verstehen hoffentlich!“

Dann ist Meißner ganz plötzlich aus dem Zimmer verschwunden, und Benedict reißt den Umschlag auf. Als er das oberste Blatt des mehrseitigen Berichts gelesen hat, weiß er, was Meißner mit seinen letzten Worten sagen wollte. Adressiert an den General-Staatsanwalt von Berlin, Hauptstadt der DDR und mit Datum 01.07.1986, 7.30 Uhr handelt es sich um nichts weniger als das Sachverständigengutachten der Professoren Dr. med. O. Gropol und G. Madar vom Bereich Medizin (Charité) der Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Gerichtliche Medizin, in der Leichensache Sanger, Dean, gestorben 12.06.1986!

Das ’n Ding. Der Meißner, dieser volkseigene Stiesel! Und dann bringt der ihm klammheimlich den Sangerschen Sektionsbericht. Den Klassenfeind mit geheimen DDR-Unterlagen zu versorgen! Was mochte darauf früher gestanden haben? Lebenslänglich wegen Landesverrat und Konspiration? Warum macht er das? Was verspricht sich der Meißner davon? Oder wirklich doch nur kollegiale Hilfe? Was hatte der am See noch gesagt: ein Freundschaftsdienst...

Kein Zweifel, das Gutachten stützt Meißners Angaben zum Tode Dean Sangers ganz gewaltig, wenn es auch nur als Vorläufiges Gutachten gekennzeichnet ist. Gibt es vielleicht aber doch noch ein Endgutachten mit abweichenden Ergebnissen? Das geht aus diesen Unterlagen nicht hervor. Und was soll das heißen, die Befunderhebung ist erschwert und stark eingeschränkt. Nur eine der üblichen, vorsorglichen Absicherungen gegen den späteren Nachweis professoralen Fehlgutachtens oder mehr?

Prof. Gropols achtseitiges Gutachten wirft jedenfalls Fragen auf, die ein medizinischer Laie wie Benedict nicht beantworten kann. Morgen früh würde er doch mal nach West-Berlin rüber fahren müssen, denn für dieses Gespräch möchte er jeden Mithörer ausschließen.

*


„Haben Sie ein bisschen Zeit für mich, Herr Professor?“

Er kennt Prof. Fenner, den Leiter der Rechtsmedizin der Universität Düsseldorf, seit 1986 und weiß, dass der ihm seine Bitte nicht abschlagen wird.

„Ich bräuchte Ihre Expertise, ein medizinisches Gutachten aus der DDR betreffend. Können Sie mir da weiterhelfen?“

„Wer hat das Gutachten denn gemacht?“, fragt der Rechtsmediziner zögernd zurück.

„Ein Prof. Dr. Prof. med. O. Gropol von der Humboldt-Universität in Berlin. Kennen Sie den vielleicht?“

„Prof. Gropol?“ Noch deutlichere Zurückhaltung liegt jetzt in der Stimme des Düsseldorfer Spezialisten. „Eine international anerkannte Kapazität. Na ..., und worum geht’s da genau?“

Das wird doch schwieriger, als er angenommen hat. Er weiß, dass die Mediziner sich mit bewertenden Aussagen zu Untersuchungsergebnissen ihrer Kollegen sehr schwer tun, trotzdem... er muss es versuchen.

„Post mortem Sektion einer männlichen Wasserleiche.“

„Schon wieder? Sie haben uns doch erst im letzten Monat eine gebracht. Ja ... und?“

„Wenn da steht: häufiger Befund bei Vorliegen eines Diabetes mellitus, was heißt das? Kann man auf eine medikamentöse Behandlung schließen?“

„Nein... nicht unbedingt. So was ist auch mit diätetischen Mitteln behandelbar, war es das?“

„Tut mir leid, aber ich muss das wirklich wissen, Herr Professor. Punkt Alkoholbestimmung: Venenblut 0,2, Urin 0,1 und Liquor (Rückenmarksflüssigkeit) 0,2. Hat das was zu bedeuten?“

„Gaschromatisch ermittelt?“

„Ja.“

„Und wie lange nach dem Eintritt des Todes bestimmt?“

„Zirka fünf Tage.“

„Ohne Bedeutung ... nach meinem Dafürhalten. Sie finden einen gewissen Alkoholgehalt ja in allen Körperflüssigkeiten, und das hier liegt empirisch durchaus im Bereich des Normalen.“

Zwanzig Minuten später legt Benedict den schweißnassen Hörer erleichtert auf die Gabel und verlässt die drückende Hitze der Telefonzelle hinter der ehemaligen Sektorengrenze. Seine Erleichterung hat weniger mit Fenners Antworten zu tun, denn diese waren von ähnlich windelweicher Natur gewesen wie die des Ost-Professors, als mit der Art des Gesprächsverlaufs. Eine Krähe hackt der anderen eben kein Auge aus. Sicher war er voreingenommen. Seine bisherigen Erfahrungen im Umgang mit diesen Leuten gaben ihm auch allen Grund dazu. Es sollte ihn nicht wundern, wenn Fenner sich gerade in diesem Augenblick mit seinem Kollegen in Ost-Berlin in telefonische Verbindung zu setzen versucht. Sei’s drum.

Viel weiter hat ihn das Telefonat jedoch trotzdem nicht gebracht. Was hatte er aber auch erwartet? Formulierungen wie etwa: Die Befunderhebung ist erschwert und stark eingeschränkt, soweit bei fortgeschrittenen postmortalen Veränderungen feststellbar, oder Gutachten nach Kenntnis aller Ermittlungsergebnisse nachdrücklich Vorbehalten, waren nach Fenners Aussagen international übliche Standardvorbehalte zum Schutze des Gutachters und nichts, was auf etwaige Unregelmäßigkeiten bei der Erstellung hinweisen könnte. Zu Radedorm, einem DDR-Psychopharmakon, von dem Gropol im toxischen Bereich liegende Wirkstoffmengen in Sangers Körper gefunden hatte, wollte oder konnte sich der West-Professor nicht äußern. Insbesondere wollte er nicht auf Benedicts Frage eingehen, wie dieses Zeugs wohl bei jemandem wirken könnte, der es regelmäßig nahm. Schließlich hatte der DDR-Mediziner daraus den Schluss gezogen, dass nach Einnahme solcher Dosen in der Regel stark sedative (=dämpfende) bis hypnotische Wirkungen auftreten, die ein Ertrinken fördern und beschleunigen können.

*


Über zwei Wochen ist er nun schon in dieser Stadt, aber das nahezu mühelose Überqueren der ehemals undurchdringlichen Grenzsperren in jedweder Richtung verursacht ihm noch immer Gefühle mit dem prickelnden Reiz des Ungewohnten. Aus dem ehemaligen „Palast der Tränen“, wie oft war er selbst dort wieder Richtung Berlin (West) verschwunden, soll ja nun eine Disco werden. Vielleicht gar nicht mal die schlechteste Verwendung. Und der Intershop im „Metropol“ versucht seine letzten schäbigen Restbestände an Valuta-Waren loszuwerden. Die einstige Edelabsteige für West-Besucher macht heute einen eher heruntergekommenen Eindruck. Aber vielleicht hatte sie auch früher schon ihren Talmiglanz einzig und allein aus dem herunter gewirtschafteten Umfeld und den geparkten West-Autos bezogen ... und den bunt verpackten Sendboten einer exotisch fernen Konsumwelt.

Was mochte einen Mann wie Dean Sanger nur hierher gelockt haben? Und was hatte ihn hier festgehalten? Weder Diana Meißners Büchlein noch die schwärmerische Begeisterung der ältlichen Staatsarchivarin hatten ihm darüber genügend Aufschluss gegeben. Dazu war das Buch auch zu sehr eine Auftragseloge. In wessen Auftrag auch immer. Immerhin kennt Benedict jetzt aber doch einige Daten seines Lebenswegs. Daten, an die er sich halten kann. Auch einige Fakten eben, die, ungefärbt von Politschwärmereien, dem Hauptkommissar etwas mehr Sicherheit geben. An sich war da doch alles geregelt und reichlich vorbestimmt gelaufen im Leben des Mittelklasse-Sprösslings Dean Sanger aus Denver, Colorado.

Lehrer-Familie mit gutem Auskommen und drei Söhnen, alle sportliche Freilufttypen. Dean lernt reiten, soll Offizier werden und kommt mit zehn Jahren auf eine Kadettenschule. Hier beginnt die bis dahin gradlinige Biographie des Jungen erstmals zu verschwimmen. Angeblich, so steht es jedenfalls in diesem Buch, hätte ihn der stumpfsinnige Drill dort abgestoßen und mit Hilfe der Mutter setzt er bei seinem Vater durch, dass er die Kadettenschule verlassen kann. War das wirklich sein Wille gewesen, oder wollte die Mutter, die in seinem Leben später eine so dominierende Rolle spielen wird, ihn einfach wieder bei sich haben? Jedenfalls setzte sie sich gegen den Willen des Vaters durch, und das Ganze schien ja auch keinen nennenswerten Bruch in Jung-Deans Lebensweg verursacht zu haben. Wie viele andere Gleichaltrige verdient er sich neben der Schule Geld dazu und kauft sich davon sein eigenes, erstes Pferd. Er reitet hervorragend, schwimmt, treibt Langlauf. Als er zwölf wird, schenkt ihm sein Vater eine Gitarre, und bald spielt Dean so gut, dass er auf Partys und Schulfeiern singt. Alles ganz normal für einen jungen Teenager aus Denver, Colorado. Und selbst dieser ominöse Wettlauf mit einem Muli über eine Strecke von immerhin 110 Meilen, den er nach 47 Stunden Dauer knappe drei Minuten vor dem Muli gewinnt, passt doch immer noch zu der „fighting spirit“- Mentalität der Amerikaner. Nichts, was auf den späteren Ausbruch hindeutet. Eher auf einen besonders ausgeprägten Sinn für Publicity, denn wer anders als er selbst hatte einen Artikel über dieses Wettrennen im nationalen Nachrichtenmagazin „Newsweek“ lanciert? Aber auch das scheint nichts Besonderes in diesem so PR-süchtigen Land. Nein, da musste einfach mehr passiert sein, um ... „Was ist los? Du wollen Ärger?“

Er hat gepennt, ist mitten in die auf dem Bürgersteig hockenden Hütchenspieler rein gerannt. Sieht sich plötzlich von schwarzlockigen Jugendlichen umringt, deren böse zusammengekniffene Augen nichts Gutes erwarten lassen. Schon blitzt eine Messerklinge im Sonnenlicht, als eine Hand ihn am Arm packt und eine bekannte Stimme in barschem Ton „Volkspolizei! Ausweise, aber dalli!“ ruft. Binnen Sekunden hat sich der Straßenspuk in alle Himmelsrichtungen verflüchtigt.

*


„Na, Sie haben Nerven! Wollen Sie sich mit denen anlegen?“

Oberleutnant Engel zieht ihn schnell auf die andere Straßenseite hinüber, wo der MUK-Wartburg leise Zweitakt-Wölkchen von sich gibt.

„Da haben Sie aber Glück gehabt. Wenn Sie ins Präsidium wollen, kann ich Sie direkt mitnehmen!“ Mit einiger Verwunderung stellt Benedict fest, dass der Oberleutnant der MUK den Dienstwagen in den letzten Tagen zu einem Privat-Taxi umfunktioniert zu haben scheint. So ganz unglücklich ist der Hauptkommissar darüber im Moment aber nicht.

„Haben Sie’s dabei?“, empfängt ihn Meißner und zeigt Erleichterung, als Benedict ihm den Umschlag mit dem Gutachten der Charité auf den Schreibtisch legt.

„Und?“, meint er, nachdem er ihn wieder in einem Aktenschrank aus Stahl verschlossen hat.

„Tjaaa ...“, erwidert Benedict lang gedehnt und reibt sich das Kinn.

„Ist doch wohl eindeutig! Tod durch Ertrinken ohne Fremdverschulden!“

„Ja, sieht danach aus ...“

„Aber?“, runzelt der MUK-Leiter die Stirn.

„Na ja, einige Formulierungen lassen ja doch Platz für gewisse Spielräume und ...“

„Wollen Sie etwa ein Gutachten von Prof. Gropol anzweifeln? Der Mann ist eine internationale Kapazität auf seinem Gebiet!“

Ja, so ähnlich hatte er das heute schon mal gehört. Fast das gleiche hatte Prof. Fenner am Telefon geäußert. Musste es aber deshalb richtig sein?

„Wissen Sie, Herr Meißner, wir haben da in der Vergangenheit auch schon gewisse Erfahrungen mit Gutachten aus dem... Osten gemacht. Ein Leipziger Professor, auch so eine .Kapazität', hat ein nachweislich falsches Gutachten erstellt. Natürliche Todesursache, Herzschlag. Dabei war der Mann, ein BRD-Bürger, an einem DDR-Grenzkontrollpunkt von ... Ihren Leuten brutal misshandelt worden. Also, Sie werden verstehen, dass ich auch dieses Gutachten mit... einer gewissen Zurückhaltung zur Kenntnis nehme. Wie übrigens auch so manches unserer Gutachten im Westen!“

„Finden Sie nicht trotzdem, dass Sie sich da ein bisschen verrennen?“ Meißners Finger trommeln nervös auf der Schreibtischplatte herum. „Was macht denn eigentlich Ihr ... Nebenfall?“, fragt er

schließlich mit dem Versuch, Spott anklingen zu lassen.

„Ach, das geht seinen Gang ... wie ist es denn zu den im Gutachten erwähnten canutoschen ,Probierschnitten' an Dean Sangers Unterarmen gekommen? Haben Ihre Ermittlungen dazu damals was ergeben?“

„Sie wollen das Offensichtliche wohl nicht wahrhaben, was? Dean Sanger hatte in seinen letzten Jahren ziemliche Probleme gehabt. Überwiegend privater Natur. Vielleicht ja auch mit der DDR, aber da kann ich nichts drüber sagen. Meistens ging’s da um Frauen. Eifersucht. Kurz vor seinem Tod hat er versucht sich umzubringen. Mit einer Machete aus seinem Privatbesitz. Ziemlich laienhaft und uneffektiv das Ganze und demonstrativ vor Publikum. In seinem Haus in Rauchfangswerder. Soll eine reichlich hysterische Angelegenheit gewesen sein. Also, es gab genügend Zeugen dafür, falls Sie das auch anzweifeln wollen!“

„Nein, nein. Ganz sicher nicht, wenn Sie das so genau wissen!“

„Übrigens, was ich Ihnen da am Sonntagabend gesagt habe, eine gewisse Person betreffend, das habe ich ziemlich ernst gemeint, Herr Benedict!“

Auch Benedict hatte Meißners Worte vor dem VP-Heim noch lange nachwirken lassen und sie durchaus nicht auf die leichte Schulter genommen. Eingedenk dessen hatte er auch Engels süffisant gestellte Frage, eben auf der Fahrt ins Präsidium, „Na, wandeln Sie noch immer auf den Spuren unseres sozialistischen Sangesbarden aus Amerika?“, mit angelegentlichem Schweigen beantwortet.

„Ja natürlich, aber ich verstehe nicht..."

„Nu, weil Sie heute offensichtlich schon wieder mit dieser Person zusammen waren, oder?“

„Der hat mich rein zufällig in der Nähe vom Alex aus einer ziemlich bedrohlichen Situation befreit. Wäre fast mit einer Bande Hütchenspieler aneinander geraten.“

„Ich will ja gar nicht fragen, was Sie da zu suchen hatten, aber ... was hat der Engel da gemacht?“

„So wie er sagte, zwecks Aufklärung.“

„Ach ja?“, sagt der Ost-Kommissar und fügt mit einem warnenden Unterton in der Stimme noch hinzu: „Ich kann Ihnen versichern, dass diese Art von Aufklärung auch unter den neuen Verhältnissen nicht in den Aufgabenbereich der MUK fällt, Herr Benedict!“

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

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