Читать книгу Die STASI nannte ihn "Betrüger" - Peter Schräpler - Страница 10
Der Bau der Berliner Mauer
ОглавлениеImmer öfter überraschte ich mich dabei, dass ich während des Unterrichts beim Gedanken an den „Genossen Spitzbart“, Staatsratsvorsitzender und zugleich Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats der „DDR“, Walter Ulbricht, mit der fistelnden Eunuchenstimme, von vielen Lügenbaron genannt, widerwärtige Empfindungen verspürte. Dieser proletarische Einfaltspinsel erzeugte in meiner Magengegend immer jenes unangenehme Kribbeln, diese Mischung aus latenter Resignation, Angst und Hoff- nungslosigkeit, die ich in der „DDR“ immer öfter fühlte. Mit seiner hinterhältigen Lüge im Juni 1961 beteuerte Walter Ulbricht am 15. Juni vor der internationalen Presse: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten...“. Dabei begann er die Silbe „nie“ eine halbe Oktave höher, um die zweite Silbe des Wortes wieder in tieferer Tonlage zu beenden. Wenn ich mich Jahre später auch nicht mehr an den exakten Wortlaut seiner Erklärung erinnern konnte, den Satzteil „niemand hat die Absicht“ in der Tonlage seiner Fistelstimme kann ich noch heute als „humoristischer Kleinkunstdarsteller“ meinen Bekannten vortragen und ihnen oft ein Lächeln entlocken.
Der verlogene Satz war in den Köpfen der Bevölkerung kaum vom Kurzzeit- und Arbeitszeitgedächtnis in die Windungen des analen Netzes des Langzeitgedächtnisses einsortiert worden, da passierte es: Maurerbrigaden, Kampfgruppen und Angehörige der NVA begannen in Berlin Absperrungen zu ziehen und die ersten Hohlblocksteine zu platzieren. Die Machtprobe des sich politisch hoffnungslos verfahrenen Politbüros gipfelte beinahe in einer Auseinandersetzung der beiden Systeme, als sich am Checkpoint Charlie gefechtsbereite russische T 54 und amerikanische Pershing-Panzer nur wenige Meter voneinander entfernt, waffenstrotzend gegenüberstanden.
Während ich mit meinem Freund am 22. August 1961 zum Tanz in Stolberg/Harz im FDBG-Ferienheim des Schlosses war, hatte auch uns der Mauerbau erreicht. Vom bevorstehenden Bau einer Mauer zwischen der Bundesrepublik und der Ostzone [genannt: „DDR“] wussten wir bis zu diesem Abend allerdings nichts. Wir forderten zwei flotte „Urlaubsmiezen“ zum Tanz auf. Am Dialekt erkannten wir unschwer, es sind Berlinerinnen. Meine Tanzpartnerin war etwas wortkarg und antwortete kaum auf meine Fragen. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht, da lag etwas sehr Unangenehmes in der Luft, das fühlte ich. Plötzlich lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter und fing leise an zu weinen. „Auch das noch“, dachte ich, „bestimmt Liebeskummer, den ich jetzt ausbaden darf“. Das fehlte mir noch. Schließlich begann sie zu erzählen, dass die Ideologen des Politbüros veranlasst haben, in Berlin eine Mauer zu errichten. Die Übergänge seien schon alle gesperrt. Sie könne jetzt ihre in Westberlin lebende ältere Schwester nicht mehr sehen, geschweige denn besuchen und sei deshalb sehr, sehr traurig. Ich war in meinen wackligen sozialistischen Grundfesten erneut erschüttert. Was müssen sich diese geisteskranken „Politgruftis“ nur dabei gedacht haben? Fast bekam ich Mitleid mit ihnen. Das Volk lief ihnen weg. Zuletzt an einem Tag bis zu 3000 Menschen in Richtung Westen. „Ein Volk einzumauern konnte doch keine Alternative sein“, dachte ich. Weit gefehlt. Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich noch siebzehn Jahre im Zustand einer seelischen Schockstarre verbringen sollte, dann wären mir auch die Tränen gekommen. Wir beendeten den Tanz und sprachen zu viert am Tisch über die Hoffnungslosigkeit der neuen Situation in diesem Lande. Kein erotischer Gedanke mehr bei fröhlichem Tanz. Dieser Tag war gelaufen.