Читать книгу Die STASI nannte ihn "Betrüger" - Peter Schräpler - Страница 4
In der Gänsefüßchen - „DDR“
ОглавлениеZum Schreiben dieser Erzählung hat mich auch das Schicksal einer meiner Mitschüler aus der Abiturklasse sehr bewegt. Mit ihm habe ich oftmals beim jährlichen Abitreffen meine Gedanken ausgetauscht. Seine Familie ist noch bis heute aufgrund der Flucht- und Zuchthauserinnerungen sowie durch die staatlich verordnete Familientrennung beeinflusst. Ich kann sehr gut nachvollziehen, wenn er hier und da emotional „aus der Haut fährt“, weil öffentliche Darstellungen immer wieder in den noch nicht verheilten familiären Wunden kratzen. Einer seiner Leserbriefe an den Sender RTL wegen einer verkitschten „DDR“-Darstellung zeigt das noch deutlich.
„Die Show geht weiter (Zur TV-Sendung ‘Die DDR-Show, RTL, 3.9.2003)
Einfach „ostalgisch“ schön — die DDR als Show. Die frohen, volkseigenen Tanzveranstaltungen für die sozialistische Jugend. Wie harmlos und nett war es damals. Dazu noch die Erfindung des Lipsi-Tanzes, den viele erst durch die Sendung kennenlernten. Den meisten DDR-Insassen war er damals unbekannt. In der Sendung sagte Herr Stolpe dazu, dass dieser Tanz angenommen wurde — er musste es ja wissen. Auch Herr Gysi begleitete mit seinen Kommentaren die frohen Erinnerungen an DDR-Tage. Was wäre eine solche Erinnerung auch ohne Stasi-Begleitung? Da käme kaum Ostalgie auf. Und Frau Witt als frühere Sportlerin, die einst für ihr sozialistisches Vaterland kämpfte, durfte natürlich auch nicht fehlen. Zu DDR-Zeiten hat sich das für sie sehr bezahlt gemacht, die Show heute sicher auch. Ihre Erinnerungen an die Ulbricht- und Honeckerzeit versetzten sie in permanente Euphorie. Dann plötzlich Erika Riemann, Häftling der Russen, dann der Zone, ein sehr ernster Beitrag. Merkwürdig. Ist man noch im selben Programm? Aber ja, das Logo zeigt an, dass die Show weitergeht; nun mit über zehn Jahren Haft für Frau Riemann, weil sie als Schülerin auf einem Stalin-Bild eine Schleife auf seinen Bart gemalt hatte. Die Gräuel der DDR als Teil der Show — warum nicht? Der Moderator zeigt, wie man auch darüber locker, oberflächlich und ganz unverbindlich plaudern kann. Frau Riemann war kein Einzelfall. Mit ihr lehnte eine große Zahl von Bürgern dieses sogenannte sozialistische Vaterland ab, das vor wenigen Sekunden noch strahlend und lachend ins Gedächtnis gerufen worden war. Tausende Unschuldige litten in politischer Haft. Und es gab auch noch Zwangsadoptionen, Bildungs- und Berufsverbote, es gab das Reiseverbot, das Bücherverbot, das Meinungsverbot, den Kampf gegen die Kirchen, das Wirtschaftschaos, die Stasi-Bespitzelung, die Vorbereitung der Internierungslager für Systemfeinde, atomare Kriegsvorbereitungen, es gab die Mauer, die Mauertoten und die Toten an der innerdeutschen Grenze, und es gab viele politische Morde und noch so vieles andere — eigentlich das ganze Leben, das in diesem Staat nicht stimmte. Die meisten Opfer der DDR, die überlebt haben, schweigen bis heute — Frau Riemann und wenige andere ausgenommen. So bleibt die Ostalgie davon unberührt. Eine DDR-Show hält schon ein bisschen Übel aus. Macht sich auch gut als Kontrast und erhöht durchaus den Spaß. Irgendwo in der oberen Mitte der Sendung platziert, bügeln die nachfolgenden „Inhalte“ alles wieder aus. Eine dreiste Deplatzierung war die Inanspruchnahme des Erfolgsfilms „Der kleine Muck“ u. a. Märchenfilme aus dieser Zeit durch die DDR-Roten. Wie schön, RTL, dass uns das beschert wurde, und wie dankbar dürfen wir sein, dass Herr Marx sich seinerzeit das Arbeiter- und Bauernparadies ausgedacht hat, sonst gäbe es sie gar nicht - die DDR als Show, und wir wären um einen Witz ärmer.
[Quelle: Leserbrief von Dr. Werner Josef Gieffers / Gerhard Jahnson an RTL Köln]
Manchmal ertappe ich mich dabei, auch in eine solche Verklärungsneurose zu verfallen, wenn ich als Reminiszenz das eine oder andere aus dem Leben in der ehemaligen „DDR“ doch ganz gut finde. Wir sollten uns allerdings hüten, aus den unendlich vielen Einzelbeispielen des täglichen Lebens eine fälschliche Abstraktion herzustellen. Die alternden Mitglieder des in den 70er Jahren bereits mehr oder weniger verkalkenden Politbüros und die ganz und gar schizophrene MfS-Führung, die sich auf anbie- dernde, typisch deutsche Helfershelfer oder bedauernswerte, oft erpresste IM-Personen stützte, schufen einen Staat dauerhafter Repressionen mit vielen Toten an der Grenze und hunderttausenden politischen Häftlingen in den martialischen mitteldeutschen Gefängnissen. 150.000 „DDR“-Bürger riskierten bei der Flucht in den Westen ihr Leben. Nur für 40.000 war die Flucht erfolgreich. Alle anderen wurden gefasst. 71.000 mussten wegen „Republikflucht“ ins Gefängnis. Mein Freund und dessen Ehefrau gehörten dazu. Sie leiden noch immer unter diesen Ereignissen und beanspruchen bis heute psychotherapeutische Hilfe. Wen wundert das, stelle man sich nur einmal vor, dass die sympathische junge Mutter, der man grundlos die Kinder wegnahm, durch die Staatssicherheit gezwungen wurde, in der Haftanstalt stundenlang bis über die Knöchel in eiskaltem Wasser zu stehen. Das einzige „Verbrechen“ dieser jungen Frau: Sie wollte wegen ihrer christlichen Einstellung die Zukunft ihrer Kinder nicht mehr in diesem atheistischen Staat sehen.
Für die Staatssicherheit verwende ich nachfolgend den femininen Begriff „die STASI“. Oftmals wird auch die maskuline Abkürzung vom Wort „Staatssicherheitsdienst“ genutzt. Unabhängig von diesem Unterdrückungssystem entwickelte sich in der „DDR“ - offen und unter der gesellschaftspolitischen Decke – eine durchaus humanistische Parallelgesellschaft. Das ehrliche Bestreben vieler „DDR“-Bürger, SED-Mitglieder, Offiziere und Verantwortlicher soll nicht vergessen sein, weil es sichtbar an sozialen Zielen orientiert war. In dieser Parallelgesellschaft gründeten sich lebenswerte Vorzüge zwischenmen- schlicher Beziehungen. Oftmals waren sie auch nur aus der bedingten Mangelwirtschaft entstanden. Noch heute empfinden viele Ex-„DDR“-Bürger diese Vorzüge als angenehme historische Erinnerungen in der nicht immer so „Sozialen Marktwirtschaft“ der Bundesrepublik Deutschland und lassen sich zu einer ungewollten Nostalgiebetrachtung verführen. Meines Erachtens dürfen wir keinesfalls die politische „DDR“ mit der damals existierenden „Unter-dem-Deckel-Gesellschaft“ zusammen in einen Topf werfen! Das pauschale und richtige Urteil für die politische „DDR“ muss heißen: Sie war ein brutaler Unrechtsstaat!! Sie verstellte den genannten Zugang zur Lebenswirklichkeit und bedeutete für viele auf diesem deutschen Gebiet lebende Menschen noch heute einen Angriff auf ihr Lebenswerk und Zerstörungen ihrer Lebensbiografien. Deshalb missfällt mir bei der Definition Unrechtsstaat nur der Schlagabtausch über diesen Begriff. Vielfach verstecken Diskutanten ihre eigene Unfähigkeit oder Unwilligkeit, wenn sie auf den sogenannten real existierenden Sozialismus als gefälschte Wirklichkeit des Lebens in der „DDR“ angesprochen werden. Gefühlsmäßiges und intellektuelles Versagen in der Beurteilung des Unrechtsstaats-Charakters der „DDR“ verbergen in sich die Gefahr eines falschen Urteils. Ich denke, mit dem Terminus Unrechtsstaat sollte sich der Leser ausschließlich auf die politische Führung und hunderttausende bewusster Helfershelfer fokussieren.
Aber Achtung bei der Definition meiner „DDR“-Parallelgesellschafts-Theorie. Wenn ehemalige politische Mittäter vorgeben, nur für den Schutz ihrer bröselnden Gesellschaftsordnung in sozialistischer Klassenkampfmanier gehandelt zu haben, dann ist das oft auch die Kategorie Mitläufer, die schon einmal dafür verantwortlich war, dass Deutschland in eine falsche Richtung marschierte. Wir sollten diesen Mittätern nicht die Plattform geben, sich zu sozialistischen Märtyrern zu profilieren! Sie tragen die wesentliche Mitverantwortung für die zerstörten menschlichen Schicksale, für unschuldige Menschen, die Jahre ihres Lebens als politische Gefangene in Gefängnissen verbringen mussten. Viele zu Unrecht Verurteilte konnten die brutalen politischen Zuchthäuser erst aufgrund der politischen „Wende“ verlassen. Ihre Schicksale wurden durch die Medien erst viele Jahre später einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hüten wir uns also vor einer „DDR“-Verklärung, sie endet in „DDR“-Schizophrenie. Wer noch Herr seiner Sinne ist, kann nur zu einer schlüssigen Erkenntnis gelangen: Die „DDR“ war – gemessen an der staatlichen Verfolgung, an den psychischen und physischen Qualen sowie der Tötung seiner politisch anders Denkenden - ein brutaler Unrechtsstaat! Nicht die hoffnungslosen Flüchtlinge waren die Täter. Der nicht legitimierte Staat war es, der unschuldige, wehrpflichtige junge Menschen in den Uniformen der Grenzsoldaten dazu benutzte, um seine bereits von Anbeginn an zum Scheitern verurteilte Politik durchzusetzen. Ich weiß, wovon ich spreche, weil ich selbst schleichend und fast ungewollt 1961 zu einer derartig uniformierten Marionette mutiert war.
Meine ungarische Frau und ich suchten in der „DDR“ lange nach einer sicheren Möglichkeit, uns ohne Gefahr für Leib und Leben und mit persönlicher Verantwortung für die sichere Zukunft unseres zehnjährigen Sohnes diesem politischen System zu entziehen. Über Jahre hatten sich die staatlichen Verhältnisse zur Unerträglichkeit entwickelt und immer mehr Familien flüchteten bis 1961 über die noch offene Grenze – insbesondere in Berlin - in den Westen.
Ich erzähle nachfolgend über unsere lange geplante Übersiedlung nach Ungarn und über die fast legale Flucht von dort mit einem Touristenvisum, sowie über den holprigen, anfangs sogar noch von der „STASI“ beobachteten Neubeginn in der Bundesrepublik. Vielleicht wird der eine oder andere traurig oder schmunzelnd an ein ähnliches Schicksal erinnert. Mein Wunsch ist es, jungen Menschen zu helfen, mehr über die Zeit des Alltags nach der Gründung der „DDR“ zu erfahren und ihnen kleine Denkanstöße zu ihrem noch unfertigen Geschichtsbewusstsein zu geben. Ich habe das Thema wie im normalen Leben nicht nur erzählend, sondern auch analytisch, ernsthaft, teils logisch und auch locker spaßig aufgebaut in die digitale Welt gestellt. Manchmal tendiere ich auch zu leichter Ironie, steigere mich bis zum Zynismus, um schlussendlich im politischen Sarkasmus zu landen. Man verzeihe mir.