Читать книгу Die STASI nannte ihn "Betrüger" - Peter Schräpler - Страница 7
Jeans und Radio Luxemburg
ОглавлениеMit dem Tragen von Jeans während der Internatszeit begann der Eklat mit dem verlängerten Arm der Partei. Etwa 1957 hatten die Jeanshosen der Marken Levis, Wrangler und Mustang auch den Osten Deutschlands flächendeckend erreicht. Für die Partei waren Westjeanstragende Jugendliche ein Zeichen für latente Renitenz. „Niethosen“ – wie die Staatstreuen die westlichen Jeans zu nennen pflegten - waren für sie wie das rote Tuch des Toreros für den Stier. Auch sie fühlten sich provoziert. Hatten diese Jugendlichen auch noch lange Haare, war der Kessel der verletzten Staatsraison am Überlaufen. Ich habe erlebt, wie Mitschüler der oberen Klassen auf dem Fußweg zur Schule in die Dienststelle der Volkspolizei geholt wurden. Dort schnitt man von ihren Jeans die hinten aufgenähten Markenzeichen aus Leder ab [damals waren sie noch aus Leder – das erhöhte ihren Marktwert für uns]. Wir empfanden das als eine unerträgliche Demütigung. Mit genau diesen Markenzeichen wollten wir zum Ausdruck bringen, dass es zur konformistischen Einheitsbekleidung „Made in GDR“ bessere Alternativen gibt, und wir zu den Andersdenkenden gezählt werden wollten.
Also begannen wir einen Handel mit Jeans-Lederzeichen, die von alten, verschlissenen Hosen abgetrennt und umgenäht wurden. Damals konnten wir im „DDR“-Handel nichts Vergleichbares kaufen. Glücklicherweise bekamen immer mehr Eltern von uns Westpäckchen, die auch mal eine Original-Jeans enthielten oder der Verwandtenbesuch aus dem Westen brachte eine mit. Erst später in den siebziger Jahren kam es zu einer gewissen Entspannung. In den Intershop-Läden konnten „DDR“-Bürger, die in den Besitz von DM kamen, problemlos West-Jeans kaufen, vorausgesetzt, sie konnten eine DM-Quelle anzapfen.
Zu Beginn der sechziger Jahre war es für uns Schüler der Oberschule, die etwas auf sich hielten, kaum denkbar, mit einer Jeans der „DDR“-eigenen Produktion in die Öffentlichkeit zu treten. Cottino-Hosen zu tragen [so nannte sich der „DDR“-Schlapper-Stoff] war in unserem Sinne nicht nur kulturell unerträglich, sondern vielmehr blamabel.
Zur Levis, die wir unter uns einfach „Jeans“ nannten - vergleichbar zum Papiertaschentuch, das grundsätzlich „Tempo“ hieß – wuchs unsere Begeisterung für westliche Musik. Schlager von Radio Luxemburg zu hören, wenn Camillo, der von 1958 bis 1963 Programmleiter war und mit seiner sonoren Bassstimme die Hitparade des Senders ansagte, wurde für uns zum unersetzlichen Pflichtprogramm. RIAS Berlin, der unter dem selbst gewählten Motto „eine freie Stimme der freien Welt“ sendete und zu dessen bekanntesten Chefredakteuren der spätere SPD-Politiker Egon Bahr zählte, der diesen Posten bis 1959 innehatte, wäre eine denkbare Alternative gewesen. Aber bedauerlicherweise hatte der damalige sowjetische Botschafter Semjonow mit einem dringlichen Wunsch an „Spitzbart“ W. Ulbricht und an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl appelliert. Sie sollten wirkungsvolle Maßnahmen im Kampf gegen das Eindringen des reaktionären Rundfunksenders RIAS ergreifen. Also wurde der Sender auf seiner Mittelwelle [Amplitudenmodulation AM] in Westberlin von allen Gebieten der „DDR“ aus mit einem unerträglichen jaulenden Heulton gestört. Die „DDR“ erkannte nur ihren Berliner Rundfunk mit Sitz im Osten als alleinig zuständigen Rundfunk für die Stadt Berlin an. Später proklamierte die Parteiführung der „DDR“ Ostberlin als Berlin und damit als die Hauptstadt der „DDR“. Sie deklassierte über ihre Medien den RIAS und den SFB [Sender Freies Berlin] als nicht rechtmäßige Sender. Als dann RIAS Berlin in vielen Gebieten auch auf UKW [Frequenzmodulation FM] sendete, konnten wir nur noch über die kostspieligen Störmanöver schmunzeln. UKW war nahezu immer störfrei und astrein im Empfang.
Eines Sonntags hatten sich mehrere Schüler der zwölften Klasse im Aufenthaltsraum des Internats vor dem gemeinschaftlichen UKW-Rundfunkgerät des VEB Stern-Radio Stassfurt eingefunden. Die meisten waren Schüler, die sich bereits in den Abiturprüfungen befanden. Sie hörten auf der Kurzwellenfrequenz 6090 kHz im 49m-Band Camillos Hitparade. Im Gegensatz zu uns Jüngeren, die wir - um nicht erwischt zu werden - sehr viel vorsichtiger waren, demonstrierten die „Großen“ eine gewisse Lässigkeit. Sie sollte ihnen kurz darauf zum Verhängnis werden.
Der ständig sichtbar frustrierte, ältere Internatshausmeister, zugleich Parteimitglied der SED [Sozialistische Einheitspartei], schlürfte auf seinem Kontrollgang durch die Räume und humpelte hörbar treppauf und treppab. Es gehörte zu seinen selbstgesteckten Pflichten, Internatsschüler zu erwischen, die Sender des „Klassenfeindes“ hörten. So passierte an diesem Tag, was passieren musste. Wir hörten den Alten bereits, als sein humpelnder Tritt die Holztreppe zum Quietschen und Knarren brachte. Nahezu allen gelang die Flucht in die umliegenden Zimmer. Etliche Türen fielen lautstark ins Schloss. Nur zweien von uns gelang es nicht mehr, sich vorher aus dem Raum zu entfernen. Als der verlängerte Arm der Partei in den Aufenthaltsraum tappte, sah er die Schüler und hörte die „dekadente Westmusik“. Es war keine Zeit mehr verblieben, den Sender wegzudrehen. Der Aufpasser wusste sofort Bescheid.
Unverzüglich meldete dieser überzeugte Wichtigtuer und Schleimer [er ist bereits verstorben; Gott oder wer auch immer, hab‘ ihn selig!] dem Schuldirektor dieses „fürchterliche Attentat“ auf den Staat. Dem nun unter Druck gesetzten und bedauernswerten Direktor blieb nichts weiter übrig, als ein abschreckendes Ritual zu vollziehen. Das Abhören von Sendern des „Klassenfeindes“ war nun einmal nicht tolerierbar. Die zwei Schüler, die der Hausmeister ertappt hatte, weil ihnen die Flucht aus dem Aufenthaltsraum nicht mehr gelang, wurden der Schule verwiesen. Das war - so glaube ich - im Jahre 1960. Wochen später erfuhren wir, dass sie über die noch offene Grenze in Berlin nach Westberlin gelangt waren - noch später, dass sie ihr Abitur in Westdeutschland nachgeholt hatten.
Unser missliebiger Hausmeister war aus unserer Schülerperspektive ein widerlicher Verräter. Ähnliches gab es nicht einmal im Ganovenmilieu. Jeden Abend hörten wir aus seiner Wohnung im Nebengebäude um 20:00 Uhr den Fernsehton des Norddeutschen Rundfunks [NDR] mit den darauf folgenden Nachrichten. Offensichtlich meinte er, dass wir diesen unverwechselbaren Senderklang der Westnachrichten, die er wegen seiner Schwerhörigkeit immer laut gestellt hatte, nicht hören würden. Selbst den NDR hören und parallel dazu jungen Menschen die Zukunft zerstören, so lernten wir die Falschheit vieler SED-Mitglieder kennen. Das war niemals wiedergutzumachen und blieb fest verwurzelt in unseren Gedächtnissen haften. Den amtierenden Direktor konnten wir später begreifen. Ihm waren die Hände gebunden. Er musste im Sinne der „allwissenden“ Partei entscheiden, wollte er sich nicht selbst bloßstellen. In der letzten Stunde des Staatsbürgerkundeunterrichts vor den Osterferien 1961 machte er zwischen vielen Bemerkungen auch die: „Meine Damen und Herren, eines sollten Sie sich merken, Wahlen sind überall Volksbetrug – egal ob drüben oder hier!“
Irgendwie waren wir schon geistig abstinent bereits in den Osterferien. Keiner machte sich zu dieser provokanten Bemerkung des Schulleiters ernsthafte Gedanken. Wir wussten nur, wenn ein Parteisprössling petzen würde, dann wäre der Direktor die längste Zeit an unserer Penne gewesen. Niemand wollte in diesem Moment mit anderen darüber reden. Wir befanden uns bereits gedanklich in unseren lang herbeigesehnten Ferien. Erst nach den Osterferien kam das Aha-Erlebnis. Die Direktion ließ mitteilen, dass der Direktor und die engagierte Musiklehrerin, zugleich Chorleiterin der Schule, den „Werbungen des Klassenfeindes“ erlegen und der „DDR“, und somit ihrem Volk in den Rücken gefallen seien. Das war das offizielle Credo. Wir wussten, Sie hatten sich gemeinsam, definitiv und langfristig vorbereitet nach Westberlin abgesetzt. Noch während der Osterferien hatte die Kreisleitung der Partei einen „Ersatz“ für den eigentlich unersetzbaren Direktor platziert: einen 100%ig überzeugten „Partei-Dödel“, der den Auftrag hatte, unsere ansatzweise westlich dekadente Schule wieder auf den rechten sozialistischen Weg zu leiten. Im Vergleich zu unserem bisherigen Direktor, der einen leicht aristokratischen Touch mit gefestigtem Charakter zeigte und eine integre Person darstellte, war die neue Gurke der Partei ein absoluter Tiefflieger. In unseren Augen hatte sich die Partei wieder einmal „ins Knie geschossen“.