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Theorie und Praxis

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Wir haben es uns angewöhnt, die eine Weise als ‚Praxis‘ zu bezeichnen, die andere als ‚Theorie‘. Die bisherigen Ausführungen dürften bereits auf eine Schieflage in dieser Unterscheidung, zumindest aber auf eine Interdependenz zwischen den beiden Bereichen aufmerksam gemacht haben: Auch die Hervorbringung von ‚Theorie‘ ist eine Praxis, und es ist umgekehrt keine ‚Praxis‘ vorstellbar, in der nicht ein wie auch immer geartetes ‚theoretisches‘ Denken verwirklicht würde. Festzuhalten bleibt immerhin, dass die Modi sich unterscheiden: Der eine ist konkret auf Realisierung musikalischer Praktiken gerichtet, wie es z.B. im schulischen Musikunterricht oder im Instrumentalunterricht der Fall ist, der andere verbleibt im Status des Wissens.

Auch die Alltagspraxen entbehren nicht einer Grundlegung durch ‚Theorie‘ – allerdings keiner wissenschaftlichen, sondern einer alltäglichen. Dies zeigen die drei Fälle, die eingangs geschildert wurden. Ihnen ist gemeinsam, dass in ihnen – mit unterschiedlichen Akzenten – nach Bedingungen der Möglichkeit von Förderung Anderer gefragt oder deren Klärung unterstellt wird. Dabei geht es um physische Bedingungen wie Alter und Kraft, um psychische Bedingungen wie Motivation, Interesse und Begabung sowie um musikkulturelle Bedingungen. Meine Zahnärztin bringt anthropologische und psychologische Beobachtungen – Alter und Begabung – in einen sozial-kulturellen Zusammenhang, aus dem sie eine Sollensaussage ableitet: Weil ihre Tochter jung und begabt ist und Musikausübung ihr kulturell und für das Kind selbst als wünschenswert erscheint, erkundigt sie sich nach optimalen institutionellen Bedingungen für musikalisches Lernen. Freilich denkt sie nicht in diesen Begriffen und den dazugehörigen Kategorien – sie denkt nur darüber nach, wie sie etwas Gutes für ihr Kind tun könne. Offen bleibt, worin für sie das Gute besteht: in der Förderung der Anlagen ihres Kindes und deren Vervollkommnung willen, in der Harmonisierung der seelischen Befindlichkeit, in der Ermöglichung einer spezifischen Teilhabe an Musikkultur oder an der Vermittlung spezifischer Erfahrungen. Insofern ist dies zwar ein Denken, das auf Lernen und Lehren von Musik zum Zwecke der Förderung des Kindes gerichtet ist – also ein musikpädagogisches Denken –, aber es verbleibt als Praxis im Status alltäglichen Handelns.

Auch im Fall der Konzertplanung werden Voraussetzungen Anderer reflektiert, ins Verhältnis zu wünschenswert erscheinenden Kompetenzen gesetzt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet, die jedoch auf spezifische Inhalte und nicht auf allgemeine Fähigkeiten bezogen sind. Indem Aktualität, Exemplarizität und kulturelle Relevanz bedacht werden, geht es primär darum, Anderen einen speziellen Bereich der Musikkultur zugänglich zu machen und dadurch zu ihrer musikalisch-kulturellen Bildung beizutragen.

Und das einstige Tun meiner Mutter erscheint fast wie eine Umsetzung neuerer neurobiologischer Erkenntnisse: Da wird Er,ziehung‘ – quasi im Sinne von ‚Aufzucht‘ – bereits in einem Stadium realisiert, in dem es noch um die Voraussetzungen von Wachstum geht: keineswegs unreflektiert, sondern im Horizont eines empirischen Wissens und mit Blick auf ein für erwünscht gehaltenes Menschenbild, damit unbewusst das anthropologische Paradigma verwirklichend.

Es zeigt sich, dass auch hier ein musikpädagogisches „Denken als Ordnen des Tuns“ stattfand; die handlungsbestimmenden ‚Theorien‘ bestehen jedoch weitgehend in umgangsmäßig gewonnenen Erfahrungen, Meinungen und Überzeugungen. Eine auf wissenschaftliche Weise gewonnene Theorie unterscheidet sich dadurch von ihnen, dass sie nach Maßgabe bestimmter Modalitäten, nämlich zumindest Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit, Komplexität- und damit im Streben nach Wahrheit – reflektiert, was in der alltäglichen Weise vollzogen wird.

Die Ziele und die Aufgaben wissenschaftlichen musikpädagogischen Denkens werden keineswegs einheitlich umschrieben. Hermann J. Kaiser umriss beides folgendermaßen:

„Überblickt man die gegenwärtige Diskussion, so will wissenschaftliche Musikpädagogik Wissen schaffen um das, was im musikalischen Aneignungsvorgang vor sich geht, besser, d.h. vollständiger und gesicherter verstehen zu können; um sagen zu können, wie zukünftige musikalische Aneignungsprozesse vor sich gehen können; um diese Aneignungsprozesse besser fördern, kurz: sie pädagogisch verantwortungsvoller und sachlich adäquater realisieren zu können“ (Kaiser, 1983, S. 218).

Beim Wort genommen, geraten damit Musik und Mensch nicht nur in ihren Eigenschaften und in ihrer Wechselbeziehung, sondern auch in ihren jeweiligen Kontexten in den Blick. Sigrid Abel-Struth betonte dagegen, wissenschaftliche Musikpädagogik diene ausschließlich dem Erkenntnisgewinn im Felde pädagogischen Umgangs mit Musik (Abel-Struth, 1983, S. 204). Sie abstrahiert damit von einer auf künftige Unterrichtspraxis gerichteten Perspektive und befürwortet eine Wissenschaft, deren Funktion darin besteht, der Wissenschaft zu dienen. Genau entgegengesetzt postulierte Christoph Richter, Musikpädagogik habe „Menschen die Teilhabe an Musik zu ermöglichen“, sie zur Musik als einem Medium für Lebensvollzug, Erziehung und Lebensgestaltung anzuregen (Richter, 1997, Sp. 1442).

Vergegenwärtigen wir uns hier die Eigenart von Musikpädagogik im Status von Wissenschaft, ohne über deren Funktion für außerwissenschaftliche Praxis zu urteilen.

Einführung in die Musikpädagogik

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