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Musikpädagogisches Denken

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Statt schnell eine mehr oder weniger begründbare Antwort zu geben, wenden wir uns den Problemen zu, die mit der Begriffskombination „musikpädagogisches Denken“ aufgeworfen werden. Zumindest zwei Fragen ergeben sich daraus: 1. Begründet oder ermöglicht der Zusammenhang mit Musikpädagogik besondere Weisen des Denkens oder legt er diese nahe? 2. Wenn dies nicht der Fall ist, worin besteht dann das Spezifische des Musikpädagogischen, auf das ein Denken sich richtet?

Die Antwort auf die erste Frage erschließt sich durch einen Blick auf neurobiologische, kognitions- und erkenntnistheoretische Einsichten zur Funktionsweise des Gehirns sowie zu den Vorgängen der Wahrnehmung und des verarbeitenden Bewusstseins: Diese Wissenschaften machen deutlich, dass prinzipiell alle Gehirne gleich funktionieren – in allen Gehirnen ereignen sich bei den genannten Vorgängen dieselben Prozesse, das Denken selbst ist immer dasselbe. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass Denken anders als in anderen Zusammenhängen funktioniere, wenn es auf Musikpädagogisches gerichtet sei, dass also die Besonderheit, die das Adjektiv rechtfertigt, in den Strukturen subjektiven Denkens liege. Vereinfacht gesagt, bestehen diese in einem Abgleich von Wahrnehmung und gespeicherten Schemata sowie in deren Veränderung mit dem Ziel, Sinn hervorzubringen durch Unterscheidung und Zuordnung in Form u.a. von Urteilen, Positionierung und Handlungsbereitschaft. Allerdings beschreiben die oben genannten Wissenschaften nur die Funktionen, nicht die Inhalte. Und unter Berücksichtigung der inhaltlichen Dimension kommen wir denn doch zu Differenzen: Die Sicht auf die Gegebenheiten des Lebens ist je nach Maßgabe von Interessen, Intentionen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eine jeweils andere – wenn nicht in den Strukturen des Denkens, so doch in der Weise, wie die Erscheinungen als Wirklichkeit wahrgenommen und zu Aussagen, Erkenntnissen, Einsichten und Urteilen verarbeitet werden.

Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen: Ein Autofahrer denkt anders, wenn er einen Wagen mit Schaltgetriebe fährt als wenn ihm eine Automatik zur Verfügung steht, er reagiert wahrscheinlich auf der Fahrt zur Arbeit in seiner Limousine anders als bei einer Spazierfahrt im offenen Cabriolet – obwohl die fundamentalen Vorgänge, mit denen er der Umwelt Beachtung widmet, gleich sein dürften. Ein Verkehrspolizist, der die Einhaltung von Regeln beachtet, wird ganz anders über diese Autofahrten denken; noch anders ein Mediziner, den der Einfluss des Verkehrs auf die Herzfrequenz interessiert, ein Chemiker, der die Zusammensetzung der Abgase unter dem Einfluss des Verkehrsverhaltens untersucht, ein Politiker, der sich mit deren Auswirkungen auf die Umwelt befasst, oder ein Psychologe, der nach Wechselwirkungen zwischen Autotyp und Wohlbefinden fragt. Das jeweils Andere bei den genannten Personen liegt in den Weisen des Denkens – aber nicht in struktureller, sondern in formaler und inhaltlicher Hinsicht: Alle nehmen Wirklichkeit wahr und stellen das Wahrgenommene in bereits vorhandene Zusammenhänge; dasjenige aber, was sie an der Wirklichkeit wahrnehmen, ist unterschiedlich, und zwar deshalb, weil die Wirklichkeit unter verschiedenen Voraussetzungen erschlossen und in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Interessen und Arbeitsweisen verarbeitet wird. Juristisches Denken beispielsweise bezieht im Streben nach Gerechtigkeit seine Besonderheit – im Unterschied zum Alltagsdenken – aus dem Bemühen um größtmögliche Logik und Strenge in Bezug zu gegebenen Gesetzen und der größtmöglichen Abstraktion von Gefühlen und subjektiven Einschätzungen. Besonderheiten musikpädagogischen Denkens zu entfalten wird indes ein zentrales Anliegen der folgenden Ausführungen sein.

Schon jetzt aber kann festgehalten werden, dass ein Interesse, welches auf eine positive Beeinflussung des Bezugs zwischen Menschen und Musik gerichtet ist, dem Denken eine bestimmte Perspektive verleiht, indem es gerade diesem Bezug eine besondere Aufmerksamkeit widmet: Betrachte ich den Menschen unter dem Aspekt der tatsächlichen und möglichen Weisen seiner Zuwendung zur Musik, erscheint er mir in besonderer Form, und umgekehrt erscheint mir Musik als etwas Spezifisches, wenn ich sie unter dem Aspekt ihrer Zugänglichkeit für den Menschen betrachte.

Dasjenige, was an allen denkenden Gehirnen und bei allen Denkvorgängen gleich ist, hat in sehr einfacher und einleuchtender Weise der Schweizer Psychologe Hans Aebli herausgestellt. Es lässt sich bereits dem Titel seiner Hauptschrift entnehmen: Denken – das Ordnen des Tuns (1994). Einer der zentralen Gedanken dieser Schrift besagt, dass Denken sich auf ein Tun beziehe, welches vorausgegangen sei, und zwar im Modus des Ordnens – so dass umgekehrt Denken sich dadurch artikuliere, dass eine mentale Ordnung hergestellt werde. Eine solche Auffassung korrespondiert mit neueren musikpädagogischen Positionen, die – gestützt auf Arbeiten insbesondere aus der Kultursoziologie – die Praktiken des Menschen akzentuieren und von hier aus den Blick auf Möglichkeiten der Förderung richten. Allerdings geht es bei diesen Theorien weniger – wie bei Aebli – um das Individuelle des Denkens als um Handlungsperspektiven, die aus sozial geteilten Praktiken und deren Routinen erwachsen.

Um Ordnung herzustellen, benötigt man Kriterien – wie z.B. Gelungenheit oder Wohlgefallen –, mit deren Hilfe man die wahrgenommenen Phänomene unterscheiden kann, und man benötigt Kategorien – z.B. Musik, Kultur oder Bildung, soweit es um Musikpädagogik geht –, um die Bereiche des Wahrgenommenen zu beschreiben. Solche Kriterien und Kategorien sind nicht ein für alle Mal gegeben und sie stehen nicht für alle Menschen fest, sondern sie sind abhängig von den Intentionen, die Menschen in bestimmten Situationen verfolgen. Wenn ich also hier von musikpädagogischem Denken schreibe, richtet sich mein Denken auf ein bestimmbares, nämlich das musikpädagogische Tun, und zwar in der Absicht es zu ordnen sowie zugleich aufden Vollzug dieses Ordnens.

Einführung in die Musikpädagogik

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