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8 Ewald & Johanna
ОглавлениеDie Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind arbeitsreich. Jonas schläft wenig und wenn, dann träumt er von den Aufträgen, die noch unerledigt sind. Am Silvestertag ist in der Nähstube noch so viel zu tun, dass er beschließt, den Laden gar nicht erst zu öffnen. Er näht durch bis sich im Schaufenster die ersten Lichter des neuen Jahres spiegeln, er von der Straße her lautes Singen hört und er sich küssende Paare an seinem Laden vorbei schlendern sieht.
Der Anblick macht ihn traurig, also sieht er weg.
Es gibt noch viel zu tun.
Am Neujahrstag eine kurze Pause, er begleitet Andreas in die Kirche, nach dem Gottesdienst wird ein Wiener Streichorchester ein Konzert geben. Das wollen sie sich nicht entgehen lassen, denn obwohl sie jetzt das Geld für Konzertkarten hätten, fehlt ihnen unterm Jahr einfach die Zeit für solche Vergnügungen.
Die Kirche kann den Menschenandrang kaum aufnehmen, sie ergattern zwei der letzten Plätze auf der Männerseite, die nahtlos an die der Frauen anschließt, auch wenn das so gar nicht im Sinne der heiligen römisch-katholischen Kirche ist, unter deren Leitung das Haus steht.
Der Gottesdienst ist langweilig wie immer, alles nur Gerede, findet Jonas und nutzt die Zeit, um sich an diesem ersten Tag eines neuen, verheißungsvollen Jahres die Gesichter der Menschen anzusehen.
Aber viel Verheißung und Optimismus findet er nicht in den Antlitzen der Menschen. Viele wirken verhärmt und missmutig, wie nach einer langen Plage, nicht wie nach Weihnachtstagen. Das gilt für Männer und Frauen, Kinder sind nur wenige zu sehen.
Aber dann dieses Gesicht. Schneeweiß, glühende Wangen, noch glühendere dunkle Augen und schwarzes, langes Haar brav zu einem Zopf gebunden, fast ein wenig wie seine Arzttochter aus Schweden, findet Jonas. Sie kann keine Achtzehn sein, wirkt klein, aber kräftig, und schaut sofort verlegen zur Seite, als sich ihre Blicke treffen.
»Weißt du, wer das ist, Andreas?«, fragt Jonas und weist Andreas mit seinem Blick die Richtung.
»Ja, das ist die Tochter des feinen Herrn Kutscherer, aus zweiter Ehe, mit einer seiner ehemaligen Bedienerinnen im Geschäft, angeblich eine Polin. Das arme Kind, wohlhabend aber halt irgendwie ein Mischmasch aus allem und nichts. Entschuldige, ich sollte objektiv bleiben, aber immer, wenn es etwas geht, das in Verbindung zum Herrn Kutscherer steht, gehen die Pferde mit mir durch«, sagt Andreas.
Jonas ist das egal, ebenso wie die Herkunft des Mädchens, sollen die Leute doch reden, was sie wollen. Er starrt sie den ganzen Gottesdienst und das Konzert hindurch unentwegt an. Dann die Schlussmelodie und plötzlich ist sie verschwunden.
Das wird es wohl gewesen sein, er hat einfach kein Glück außer bei der Arbeit. Ein Leben für die Arbeit, Arbeit für ein ganzes Leben. Ende der Perspektiven, für die er aber dankbar sein will.
Nicht jeder ist für alles bestimmt, nicht alles für jeden. Mit diesem Schicksal ist er nicht alleine auf dieser Welt.
Im Januar und Februar werden es mehr und mehr Kunden. Und alle wollen das Cape, in unterschiedlichen Qualitäten.
In Biala stellt der andere Herr Beil Ende Januar fest, dass Jonas mittlerweile sein größter Kunde ist. Und ganz nebenbei auch der Kunde mit der besten Zahlungsmoral.
Frau Beil kränkelt seit Dezember stark, sie hat immer wieder Fieberschübe, Nachtschweiß, verliert stark an Gewicht und hat keinen Appetit. Er sieht dunkle Wolken heraufziehen in einem Leben, das ihnen bis auf wenige Ausnahmen - sie hatten keine Kinder bekommen - immer gut gesinnt gewesen ist.
Er unterbricht die Buchhaltung, seine Frau ruft. Wahrscheinlich möchte sie einen Tee und eine Kerze, damit sie weiterlesen kann. Er geht ins Wohnzimmer, dort sitzt sie meistens in ihrem Lesestuhl mit einem Buch in der Hand. Nicht so heute, sie liegt auf dem Kanapee, das sie sonst nur sonntags nutzen, ist kreidebleich und winkt ihn mit der Hand zu sich.
Nein, keinen Tee, sie wolle ernsthaft mit ihm reden. So wenig sie das beide wahrhaben wollen, aber sie spüre, dass sie sich von dieser Schwächephase nicht mehr erholen werde. Er müsse Vorkehrungen treffen, für die Zeit ohne sie, für die Zeit nach ihnen, denn da werde außer ihm niemand mehr sein.
Ewald will die Ohren schließen, taub sein, erblinden und nichts mehr fühlen, alles nur um das nicht wahrhaben zu müssen, was ihm seine Frau da gerade mitteilt. Insgeheim weiß er aber, dass es die Wahrheit ist. Sie ist schon immer die Stärkere von beiden gewesen.
Er nickt, holt nun doch einen Tee, streicht ihr übers Haar und geht nochmals in den Laden.
Als er nach Geschäftsschluss in die Wohnung zurückkehrt, um das Abendessen vorzubereiten, ist es dort dunkel, still und kalt. Es fröstelt ihn. Er holt Streichhölzer, zündet eine Kerze im Flur an und leuchtet damit den Weg zum Wohnzimmer.
Als er die Tür öffnet, glaubt er einen kühlen Wind auf der Wange zu spüren. Hat sie etwa das Fenster geöffnet? Ein kalter Schauer läuft ihm über den Rücken, er tritt ein und erstarrt.
Johanna sitzt im Lesestuhl direkt vor ihm, mit weit geöffneten Augen und halb offenem Mund, als wolle sie noch etwas sagen. Ein Buch liegt vor ihr auf dem Boden, die Hand geöffnet auf ihrem Schoss.
Es ist der Roman eines jungen Schriftstellers aus Bielitz, der Titel lautet «Von dem was war, was ist und was sein wird …. weiß ist der Schnee, schwarz ist der Mohn«.
Ewald bricht in Tränen aus und schließt seiner Frau laut schluchzend die Augen und den Mund. Noch ist keine Leichenstarre eingetreten, sie muss wohl wenige Minuten zuvor gegangen sein.
Er hebt das Buch vom Boden auf, klappt es zu und beschließt morgen wie sie es gewollt hatte, seine Zukunft zu regeln, damit auch das letzte Kapitel seines Lebensbuches geschrieben werden kann.
Dann macht er sich auf den Weg zum Bestatter, arrangiert eine ehrenvolle, kurze Zeremonie für Johanna und bittet um Bestattung gleich am nächsten Tag, denn sie haben ja keine Verwandtschaft, die anreisen werde.
Der Bestatter richtet es so ein und Ewald sagt dem einzigen Menschen Lebewohl, der seinem Leben je einen Sinn gegeben hat.
Bis zur Wochenmitte überlegt er die nächsten Schritte und verbindet den Schmerz mit dem Notwendigen. Er fährt nach Breslau, dort hat er einen Bruder, den er seit einem Zwist um eine Stelle nach der Lehre vor fünfzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie hatten sich geschworen, nie wieder miteinander zu reden. Was für ein erbärmlicher Schwur, denkt Ewald heute, aber das Nichtvergeben und lebenslanger Zwist haben schon immer in der Familie gelegen.
Das hat ihm der Großvater einmal erzählt.
Er weiß nichts vom Bruder, nur dass er wie er von der Schneiderei leben muss.
Er hat auch keine Anschrift, also geht er zum Stadtamt, um das Melderegister einzusehen. Da ist er, Andreas Beil, in der Ringstraße Nummer 18, auf der Rückseite des Rathauses. Die Anschrift kommt ihm bekannt vor, aber Ringstraßen gibt es in jeder Stadt und jedem Dorf, also unzählige. Er will sich vorsichtig nähern, um zu sehen, ob es wirklich eine Schneiderei ist oder eine Privatanschrift.
Er bleibt an der Ecke zur Straße stehen. Da sieht er das Schild. Schneiderei Beil, groß, goldfarben, nobel und einen Ladeneingang, in dem die Kundschaft rege verkehrt. Er nähert sich weiter, bis er vor dem Schaufenster steht und sieht denselben Walkstoff, den er vertreibt, und ein Kleidungsstück, das er so noch nie gesehen hat, einen Mantel ohne richtige Ärmel. Das Geschäft ist grösser und vornehmer als das seine, er zögert kurz und tritt ein. Das Fräulein am Kundenpult fragt, wie sie ihm helfen könne. Er wolle gerne Andreas Beil sprechen. Sie verlässt den Laden, seltsam, sein Bruder muss also hier sein, ist aber nicht im eigenen Laden.
Und dann steht da plötzlich Jonas Schneeberg vor ihm. Er versteht die Welt nicht mehr. Sein bester Kunde im Laden seines Bruders?
Ein Zufall, ganz sicher.
Jonas begrüßt ihn herzlich. Welch eine Ehre, er in seinem Geschäft, er solle bitte mitkommen, er wolle ihm alle Modelle zeigen, die er aus seinen Stoffen anfertigt. Aber sie kommen nicht mehr dazu. Da steht er, sein Bruder. Weißes welliges Haar, die grünen Augen von damals, nur etwas blasser, die Haut faltiger und die Statur kleiner. Aber eindeutig sein Bruder.
Andreas denkt ähnliches, es herrscht bedrückende Stille. Er bricht sie mit den Worten »Jonas, ich habe dir nie von ihm erzählt, aber das ist mein Bruder, der mich aus welchem Grund auch immer gesucht und gefunden hat. Du siehst keine Freude, denn die hat es zwischen uns nie gegeben.«
Jonas findet die Situation befremdend und versucht sie aufzulockern. Er holt drei Tassen, eine Kanne Tee und bittet die beiden mitzukommen, in der Werkstätte ließe es sich angenehmer plaudern.
Dort angekommen, schließt Andreas die Tür und Jonas rechnet mit dem Schlimmsten. Zuerst Stille, dann nichts, bis Ewald sagt: «Ich bin nicht gekommen, um meinen Platz in deinem Leben neu einzufordern. Ich bin hier, um die letzten Jahre meines Lebens zu regeln, besser gesagt, das was davon noch übrig ist.«
Er berichtet vom Tod der Frau und von ihrer letzten Bitte. Seine Schneiderei in Biala sei nichts Besonderes, aber jetzt da er wisse, dass Andreas seinen besten Kunden beschäftige, und Andreas ja immer noch irgendwie Familie, wenn auch nie wirklich - eine tragische Feststellung nach über siebzig Jahren - wolle er den beiden einen geschäftlichen Vorschlag unterbreiten. Er habe keine Nachkommen, die Schneiderei laufe gut, aber noch viel bessere Ergebnisse erziele er mit dem Handel der mittlerweile weltweit gefragten Walkstoffe. Und das in einem Ausmaß, dass er sich ohne die Hilfe seiner geliebten Johanna - war sie denn wirklich nicht mehr bei ihm? - nicht in der Lage sehe, die Geschäfte auf dem aktuellen Stand zu halten geschweige denn weiter auszubauen. Und sie bauen sich sozusagen selbst weiter aus, man müsse da gar nicht viel beitragen, nichts sei so gefragt wie Walkstoff und das ist erst der Anfang, da sei er ganz sicher.
Langer Rede kurzer Sinn, er biete ihnen seine Geschäfte gegen Leibrente, einen fixen Betrag, monatlich ausbezahlt, für seine bescheidenen Bedürfnisse, und das Wohnrecht in den drei Zimmern über dem Geschäft und die Zusicherung, dass man sich finanziell und persönlich um seine Pflege kümmern werde, sollte er ein alter Greis werden, der des Denkens, Handelns und Bewegens nicht mehr mächtig ist.
Das seien seine Bedingungen, nicht wenige, das wisse er, aber dafür biete er sein Lebenswerk, das er mit seiner verstorbenen Frau erwirtschaftet habe, das gesamte.
Ewald sieht während er spricht immer wieder den Bruder an und kann dessen Gesichtsausdruck nicht richtig oder nur schwer deuten. Ist da Betroffenheit oder gar Trauer? Es ist doch seine Frau, die verstorben ist.
Andreas nimmt sich schnell zusammen. Er ist erleichtert, ein unemotionales, rechnerisch nachvollziehbares Angebot, ohne wehmütiges Beweinen der gemeinsamen Vergangenheit und Gegenwart.
Jonas findet Ewald verkauft sich, seine Schneiderei und sein gesamtes Lebenswerk weit unter Wert. Aber am Ende des Tages ist auch er Geschäftsmann. Er fragt Andreas, ob er etwas sagen wolle. Andreas verneint, Jonas führe die Geschäfte.
Jonas sagt:
«Lieber Herr Beil, es mag sie erstaunen, dass nun ich spreche und mit ihnen verhandeln werde, aber Andreas hat mir seine Schneiderei gegen ähnliche Bedingungen übergeben.
Die Schneiderei trägt weiter den wohlklingenden, allerorts bekannten Namen Beil, während alle Rechnungen auf meinen Namen lauten. Also bin ich es, der ihnen nun mit großem Gefallen antwortet, dass wir das Angebot sehr schätzen und gerne annehmen. Wir verstehen ihre Situation und denken, auch rein geschäftlich betrachtet macht der Handel wie von ihnen vorgeschlagen Sinn, für beide Parteien. Ich sage das vollkommen losgelöst von familiären oder eben nicht familiären Aspekten. Ein kleine Zusatzbedingung hätte ich noch, wenn ich darf.
Wir halten in den Papieren fest, dass ein weiterer Bestandteil des Handels der Erlass meiner Restschuld der letzten zwei und der kommenden drei Monate sein wird. Denn so lange werden wir für die Verbriefung aller Rechte und Pflichten benötigen.«
Andreas erkennt Jonas kaum wieder, wann war der Junge zu einem zweiten Kutscherer geworden?
Respekt, darauf wäre er nie gekommen.
Ewald ist wenig überrascht, es gibt nichts mehr, das ihn noch überraschen kann, nachdem er in die starren, leblosen Augen von Johanna gesehen hat.
Er willigt ein. Jonas will noch am selben Nachmittag den Notar kontaktieren, um zu sehen, wann man denn einen Termin bekommen könne.
Ewald schlägt vor, die Verträge doch in Bielitz abzuwickeln, bei seinem Notar sei die Wartezeit mit Sicherheit kürzer.
Jonas und Andreas sind einverstanden. Jonas werde morgen mit Ewald nach Bielitz reisen und Andreas die Geschäfte in Breslau am Laufen halten.
So wird aus Jonas, dem blonden Jungen aus Schweden, mit den blaugrauen Augen, ein für damalige Verhältnisse recht großer Kleinunternehmer mit florierenden Geschäften in einer aufstrebenden Branche.
Ist das ein glücklicher Zufall?
Ein wenig vielleicht, aber im Grunde sind auch Zufälle zwar nicht das unmittelbare Ergebnis von Arbeit, aber in einer Verbindung zu ihr stehen sie immer.
Wer hart gearbeitet hat, weiß das.
Nachdem alle Verträge gezeichnet sind, besprechen Jonas und Ewald noch, welches und wieviel Personal in Biala einzustellen ist. Jonas genehmigt einen Schneider, eine Gehilfin und einen Lagerarbeiter für die Verwaltung der Stoffballen.
Dann reist er ab.
Zurück bleibt ein alter, trauriger und einsamer Ewald, der sich nur noch an Erinnerungen erfreut und mit letzter Lebenskraft die Geschäftsbücher führt.
Ewald betritt den Laden nur noch zu diesem Zweck, meistens aber blättert er den ganzen Tag in den Büchern seiner Frau, auf der Suche nach einem Zeichen von ihr.
Er ist erstaunt, was sie so alles gelesen hat. Darunter ist auch dreiste, verwegene, ja sogar frivole Literatur. Sie hat gelesen wogegen sie sich bei ihm immer gesträubt hatte. Er kann nur schwer glauben, was er sieht.
An einem trüben Tag im September findet er unter einem verstaubten Buchstapel ein Notizbuch mit schwarzem Ledereinband. Seltsam, das hat er noch nie gesehen. Er hebt es hoch und schlägt es auf.
Auf der ersten Seite steht in großen Buchstaben …. A N D R E A S ….der Name seines Bruders.
Auf der zweiten Seite stehen die Worte ,für immer und ewig’.
Er setzt sich in den Sterbesessel seiner Frau und beginnt zu lesen. Und mit jeder Seite wird es ihm enger ums Herz und weicht die Farbe mehr aus seinem Gesicht. Seine Augen lügen, sein Gehirn spielt verrückt. Anders sei das alles nicht möglich, sagt ihm seine innere Stimme.
Die Notizen beginnen ein Jahr nachdem sie geheiratet hatten.
Ob ihm nun wohler sei, jetzt da er in Breslau und sie die Frau seines Bruders sei? Warum er denn nicht den Mut gehabt habe, bei der Hochzeit laut zu rufen, ja er habe etwas einzuwenden? Warum all die Liebe nur bis zu dem Tag, an dem er entdeckte, dass sie Jüdin ist? Und warum ab dann nur noch Hass und Verachtung?
Er, er, er ….. nur gemeint ist nicht er, Ewald, sondern der Bruder Andreas. Er kann nicht glauben, dass all diese Worte wahr sein sollen und fliegt von einer Seite zur nächsten, in der Hoffnung, dass da irgendwann steht, dass alles nur der Versuch ist, einen Roman zu schreiben oder im schlechtesten Fall ein Wunschtraum oder bestenfalls ein Hirngespinst.
Aber nichts von alldem. Im Gegenteil, auf den letzten Seiten, geschrieben in der Woche vor ihrem Ableben, bekundet Johanna nochmals eine lebenslange Liebe. Sie habe all die Jahrzehnte die eheliche Körperlichkeit mit geschlossenen Augen in Erinnerung an ihn ertragen, jede Berührung sei seine gewesen, jedes Wort, jeder Atemhauch …. und jedes ungeborene Kind.
Andreas immer, überall und auf ewig.
Das tägliche Leben mit offenen Augen habe sie mehr recht als schlecht ertragen. Der Bruder sei zumindest ein anständiger Mann gewesen, er habe für sie gesorgt und sie so akzeptiert wie sie eben sei, auch ihre Abstammung. Und er habe sich so sehr Kinder gewünscht, nicht ahnend, dass sie sich mehrmals täglich heiß spülte. Ja und sie glaube, das hätte es gar nicht gebraucht, denn die Kinder müssen gespürt haben, dass sie von diesem Mann in ihrem Körper nicht willkommen sind.
Sie habe immer gehofft, dass er, Andreas, eines Tages zurückkommen werde, sie um Verzeihung bittet und sie gemeinsam neu beginnen. Jeden Abend dann die Gewissheit, dass es wieder nicht so gewesen ist.
Die Notizen helfen ihr, die Gedanken an ihn zu verarbeiten. Sie schreibe und schreibe und schreibe, auch nachts, wenn der Bruder schläft. Das Buch, ihr Buch, versteckt sie unter einem Stapel alter, vergilbter Bücher, von denen sie weiß, dass der Bruder sie nicht in die Hand nehmen wird. Zusätzlich hat sie das Buch schwarz eingebunden, damit es wie ein Haushaltsbuch aussieht, in dem gelangweilte oder gepeinigte Hausfrauen feinsäuberlich ihre Ausgaben notieren. Solche Bücher sind meist schwarz.
Aber innen ist das Buch hell, rein und ehrlich, all das was geschrieben steht ist so, ob er oder der Bruder es nun wahrhaben wollen oder nicht. Denn eines Tages wird einer der beiden das Buch finden. Das wisse sie.
Welch ein Segen, was für eine Erfüllung posthum dann doch noch gehört oder besser gesagt gelesen zu werden.
Ihr letzter Wunsch wird nicht der gewesen sein, den sie Ewald kurz vor dem Sterben auftragen wird.
Ihr letzter Wunsch ist es, endlich zu gehen, endlich frei zu sein, endlich nicht mehr mit Ewald zu leben, endlich nicht mehr hier auf ihn zu warten zu müssen. Aber dort, jenseits dieser Welt wird sie weiter auf ihn warten, dort wird er ihr kein zweites Mal entrinnen.
Dort jenseits dieser Welt gibt es keine Religionen, keine Hautfarben und keine Herkunft, die einander ausschließen. Ja und auch keinen Bruder mehr. Und wenn doch, dann würde sie ihm sagen, dass ihr zweites Leben, mit dem seinen nichts mehr gemein habe. Außer ihn, den Bruder Andreas, auf den sie ihr ganzes erstes Leben verzichten hat müssen.
Ewald schnürt es die Kehle zu, seine Augen treten aus den Höhlen, die Tränen laufen über seine Wangen und es entfährt ihm ein Schrei, wie in die Gasse und Nachbarschaft nie wieder hören wird.
So laut, derb, grausam und schmerzhaft wie seine Lesestunde, die er beendet, indem er das Buch zu Boden fallen lässt, die Hände offen in den Schoss legt, den Kopf hart nach hinten wirft, mit aller Wucht, gegen die Stuhlkante, immer wieder, solange bis es dunkel wird.
Am nächsten Morgen findet ihn die Haushälterin leblos im Sessel, den Blick zum Himmel gerichtet. Jetzt ist er bei ihr, denkt sie, nicht wissend, dass er dort wie auf Erden nicht willkommen ist.