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5 Malbec

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Ja, himbeer-hölzerner Malbec, erzähl mir von der Liebe, oder nein, lass mich besser dir von ihr erzählen.

Anne nimmt einen kräftigen Schluck Wein, es ist ihr zweites Glas. Und mit jedem Tropfen werden die Gedanken freier. Es ist Mittag und während der Wein sich um ihre Seele kümmert, befriedigt frisch gebackenes Brot mit geschmolzenem Käse in einem Staubgefäß ihren Magen. Das ist eine ihrer Leibspeisen, wenn sie in Buenos Aires ist, geschäftlich versteht sich von selbst, denn für Urlaubsreisen fehlt ihr die Zeit oder besser gesagt die Bereitschaft, schon wieder in ein Flugzeug zu steigen.

Also liebe Liebe, hier sitzen wir nun im tierverschneiten New York und endlich kannst du mir einmal nicht davonfliegen und musst dir in Ruhe anhören, was ich von dir denke.

Während ich fortwährend versuche, mich mit dir um dich und mich und die anderen zu drehen und zu winden, scheinst du eine ganz klare, wahrscheinlich rote, Linie zu haben. So eine Art Drehbuch für jeden Menschen und manchmal für Familien.

Aber vielleicht sehe ich das jetzt durch den Wein zu emotional, denkt Anne vor sich hin.

Tatsache ist, der Vater sagte einmal »Anne, du hast wie ich einfach kein wirkliches Glück in der Liebe«.

Falsch, lieber Vater - ich wünschte, ich hätte dir damals schon so antworten können - die Liebe hat kein Glück mit mir, weil keines ihrer Drehbücher meinen Ansprüchen und Vorstellungen gerecht wird.

So zumindest sehe ich das heute und es hilft, die Dinge anzunehmen und im Lauf des Lebens die Leichtigkeit des Seins zu bewahren.

Trotzdem liebe Liebe, ich denke, Du solltest dein Repertoire an Drehbüchern breiter fächern und vielleicht das ein oder andere zum Vorteil von komplexen, komplizierten Menschen schreiben, zumindest in einem Ausmaß, dass sie glauben, jetzt hätten sie endlich auch einmal Glück mit dir.

Anne erinnert sich an die endlosen Eifersüchteleien, Diskussionen, wortlosen Tage zwischen Vater und Mutter.

Sie ist als die Ältere von zwei Kindern bis heute zuhause wohnen geblieben, es ist ihr kein Detail der Elternbeziehung erspart geblieben. Die Eltern haben das als selbstverständlich erachtet, dem ältesten Kind darf man das zumuten.

Sie hat jedes Detail der elterlichen Ehe registriert, analysiert, und hat vielfach dem Vater die Schuld gegeben, denn sie war ja als Mädchen erzogen worden.

Damals schon hat sie die Liebe nicht verstanden. Wen sie wann und warum trifft, wann sie wieder geht und warum zwei Menschen nicht mit ihr gehen, nur in verschiedene Richtungen versteht sich, jeder mit seiner Portion Liebe.

Das Unverständnis für die Liebe ist geblieben, das richtige Verständnis für die eigentliche Rolle der Mutter und des Vaters hat sich mit den Jahren eingestellt, wenn auch etwas langsam.

Ja und was hat das ganze Verstehen ihr gebracht?

Anne ist 38 Jahre alt, beruflich erfolgreich, hat ein komfortables Leben und war ihr ganzes Leben lang mit wenigen Unterbrechungen Single beziehungsweise Beinahe-Single. Denn wirklich bei ihr war keiner ihrer Partner, ob er nun bei ihr oder parallel weiter bei seiner Ehefrau lebte.

Aber das alles ist kein Grund zur Klage, liebe Liebe, denn nicht du hast es für sie so ausgesucht, sondern die Wahl war stets ihre gewesen.

Malbec, mit dir fließt so scheint es die Wahrheit, du machst milde, lässt verstehen und verzeihen.

Und da ist auch kein weinerlicher Moment verklärter Romantik. Wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, dann hat sie jede Partnerwahl ganz bewusst getroffen, um nicht in einer Situation wie Vater und Mutter zu enden.

Auch den Wunsch nach Kindern hat sie bis heute nicht wirklich verspürt.

Es ist nur erstaunlich, dass man für diese Einsicht um den halben Globus fliegt, um sich die Fakten in einem gottverlassenen Restaurant ohne getrübten Blick einzugestehen.

Damit hat der Zwangsaufenthalt im amerikanischen Winter seinen tieferen Sinn, denkt Anne.

»Darf ich ihnen noch eine Karaffe Malbec bringen?«, fragt eine männliche Stimme.

Anne denkt, Wasser wäre langsam besser, leert ihr Glas und blickt auf.

Wieso sieht man einem Mann auf den ersten Blick an, dass er Argentinier ist? Nein, es ist nicht der Akzent, es ist vieles mehr.

Die Augensprache, die Gestik, das sich Umdrehen, die subtile Art der Verehrung, der tänzelnde Gang, als wäre Tango als Rhythmus in den Muskelreflexen eingebaut. Für die Wortwahl, den Satzbau, gibt es keine Beschreibung.

Anne ruft sich selbst zur Ordnung, sie hat bereits ein existierendes Problem und ist nicht in der Verfassung, sich ein weiteres ans Bein zu binden.

»Danke, aber ich nehme lieber ein Wasser und dann bringen sie mir doch bitte auch die Rechnung.«

Sie blickt auf die Uhr, es ist spät geworden, die Dämmerung setzt ein und der Schneefall hat nicht nachgelassen

Langsam füllt sich das Restaurant. Am Tisch neben der Lounge nimmt ein Paar Platz. Sie um die Fünfzig, er jünger, aber schwer schätzbar, beide offensichtlich sehr verliebt. Sie europäisch blond, er wie könnte es anders sein, unverkennbar Argentinier.

Als das Wasser und die Rechnung kommen, bestellt sie spontan doch noch ein Glas Malbec. Sie will die Unterhaltung am Nachbartisch verfolgen. Das ist wie Kino, nur gemütlicher und sozusagen in Echtzeit.

Das Paar spricht Spanisch, die Blondine erstaunlich akzentfrei und doch verrät der ein oder andere Ton sie als Österreicherin. Anne kann das beurteilen, sie hat ihr Studiumspraktikum damals in Madrid zusammen mit österreichischen Studenten gemacht. Die klangen ähnlich.

Die Beiden sind gestern angekommen, sie aus Wien, er aus Madrid. Beide sind geschäftlich in New York und haben sich das abgelegene Lokal ausgesucht, um nicht gesehen zu werden. Er blickt nervös um sich, sie versucht ihn zu beruhigen.

Oh Gott, wie sich Geschichten wiederholen. Der nervöse Part ist mit Sicherheit verheiratet, denkt Anne.

Sie sieht sich seine Hände an. Korrekt, kein Ehering, also verheiratet.

Die Österreicherin tut alles um ihn zu beruhigen, um ihm zu gefallen sowieso.

Ihre Unterhaltung ähnelt einem Tango, sie umtanzen sich mit Worten, steigern die Spannung, entladen sie in einer Berührung, und beginnen den Worttanz von vorne. Erotik der hohen Schule. So geht Vorspiel, denkt sich Anne.

Und sie weiß, was sie denkt.

Plötzlich ein wenig Drama, auch das gehört dazu.

»Immer wenn ich bei dir bin, will ich bei ihr sein. Und wenn ich bei ihr bin, will ich bei dir sei«, sagt er.

Klingt langweilig, denkt Anne, wie oft hat sie das gehört. Ist aber so eine Art ein Enzym im Prozess des Vorspiels, gehört also dazu.

Und sie weiß um die Wirkung.

Das Paar isst, trinkt - wie sie Malbec - bezahlt und verlässt mit bereits eindeutigen Berührungen das Lokal.

Anne blickt ihnen ein wenig wehmütig nach, ihnen und den bittersüßen Stunden, die nun folgen, zwischen dem, was sich nicht gehört, und dem, das sich so unverschämt richtig anfühlt. So wie es sich eigentlich gehört.

Sie zahlt ein zweites Mal, zieht sich an und beginnt ihren Weg in Richtung Hotel. Es gibt keinen Grund länger zu bleiben.

Unterwegs aktiviert sie ihr Mobiltelefon, ihre Eltern warten auf einen Anruf. Sie wählt durch, und richtig, der Vater hebt sofort ab.

Ob es ihr gut gehe, ja, dann ist ja gut. Bis morgen also. Wieso morgen, sie ist in New York und nicht in Hamburg. Er ist immer kurz angebunden, fragt nie wirklich, was sie gerade macht oder sich geschäftlich zugetragen hat.

Dann kurz die Mutter, oberflächlich wie immer.

Weiter alles Gute, sagt sie.

Von welchem Guten spricht sie?

Als sie auflegt, denkt sie, wieviel die Liebe doch mitgenommen haben muss, als sie die beiden verließ.

Sie steckt das Handy in die Manteltasche, vergisst es abzudrehen und bereut es in diesem Moment. Das Gerät klingelt mit einem Spezialton, sozusagen ein Alarmton, den sie nun für seine Anrufe eingestellt hat.

Sie schaut auf das Display. Sie lässt es läuten und läuten und drückt ihn dann weg.

Anne ist nicht in der Stimmung, hat keine Lust auf ein bedrückendes Gespräch über Ängste und Erwartungen.

Nicht jetzt, sie will die Geschichte des Paares aus dem Restaurant fertig denken, sie will in Gedanken Tango tanzen.

Alles andere kann warten.

Danke, liebe Liebe, dass du kurz vorbeigeschaut hast, wenn auch nur mit Erinnerungen.

Komm noch mit mir auf einen Winterspaziergang in den weißen Schnee der schwarzen Nacht, denkt Anne.

Weißer Schnee

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