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3 Viktoria

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»Mam, darf es noch ein Refill sein?«, fragt der Kellner.

Die schwarze Brühe ergießt sich in ihre leere Tasse, vom Mohnstrudel sind nur noch ein paar Krumen Zucker geblieben. Sie weiß nicht, wie lange sie so gesessen hat, ob sie im Tagtraum gesprochen hat oder wer in all der Zeit neben ihr gesessen hat. Aber wahrscheinlich niemand, denn ein Blick auf die Uhr sagt ihr, Manhattan schläft noch und wird bei dem Wetter weitere ein bis zwei Stunden die Straße meiden.

Ihr Telefon meldet eine E-Mail. Ihre Freundin aus Maine fragt, ob es ihr gut gehe. Der Wetterbericht habe sich noch weiter verschlechtert, sie solle Manhattan auf keinen Fall verlassen. Eigentlich schade, denn Anne hatte an einen Ausflug in die Hamptons gedacht.

Und dann ist da noch eine Mail, von gestern, die ihr wohl im Chaos der Anreise entgangen ist. Von ihm. Er findet das alles gar nicht gut, ausgerechnet eine Notlandung und nun tagelang in New York, wieso das denn sein müsse. Sie wisse doch, dass er von seiner damaligen Freundin eben in diese Stadt betrogen und verlassen worden sei. Er ertrage das kaum, wisse nicht wie er diese Tage ohne Hilfe überstehen solle, die Angst steige wieder in ihm auf, sie solle ihn sofort anrufen, das Hotel nicht verlassen und auf keinen Fall ausgehen. Er warte, es gehe um ihn.

Natürlich, es geht immer um ihn.

Keine Frage, wie es ihr denn gehe, ob alles den Umständen entsprechend gut sei, sie noch ein Zimmer bekommen habe, er irgendetwas für sie tun könne. Alles dreht sich ausschließlich um ihn, das geht nun schon seit zwei Jahren so. Seine Bedürfnisse, seine Ängste, seine sexuellen Vorlieben, seine Ehe, seine Mutter, seine Kinder, seine Geschäfte und überhaupt ausschließlich alles, was in diesem Orbit so um ihn kreist.

Aber heute nicht. Sie drückt die Ausschalttaste, diese Tage gehören ihr und nur ihr.

Am Nebentisch hat sich eine ältere Dame Platz genommen. Schlank, schwarz gekleidet, rote Nägel, das lange graue Haar zu einem Zopf gebunden, auffallend geschminkt, am Handgelenk eine silberne alte Uhr und eine Zahl, dick tätowiert, viel zu breit für das zierliche Gelenk.

Sie bestellt Kaffee und Mohnstrudel, wie Anne, und bemerkt Annes Blick auf der Zahl.

»Sie sind aus Deutschland mein Kind, nicht wahr?«, sagt sie.

Anne nickt wortlos, ist wie vom Blitz getroffen, fasst sich dann aber rasch und stellt sich kurz vor.

»Ja, Anne ist mein Name, guten Morgen!«

»Ach schön, wie meine verstorbene Schwester, guten Morgen! Ich bin Viktoria!«, sagt die würdevolle Dame.

Anne nimmt einen Schluck Kaffee, weiß nicht wie und ob sie die Unterhaltung fortsetzen soll. Vielleicht will Viktoria ja ihren Frieden.

Viktoria nimmt ihr die Entscheidung ab.

»Sie haben die Nummer auf meinem Handgelenk so angesehen. Das ist meine Erinnerung an zuhause, an Schlesien, an Auschwitz. Eigentlich wurden die Tätowierungen stets weiter oben am Arm gesetzt, aber ich war zu der Zeit an der Elle verletzt, trug einen Verband und so hat sich der Mann in der Uniform eben mein Handgelenk als Platz für die Zahl ausgesucht«, erklärt Viktoria.

Und sie beginnt zu erzählen.

Nein, sie sei nicht verhärmt. Sie habe in einem kleinen, armen Dorf in Schlesien namens, Weißbach gelebt, mit ihrer Mutter Bertha - einer Jüdin - und ihrer Zwillingsschwester Anne. Die Mutter sei Näherin gewesen. Einen Vater habe es nicht gegeben.

Eine alleinstehende Frau mit unehelichen Zwillingen zu der Zeit, das muss hart gewesen sein, denkt Anne, will aber nicht unhöflich sein und lässt es dabei bewenden.

Es sei schwer gewesen, in einer jüdischen Familie noch dazu ohne Vater aufzuwachsen, in einem Land, in dem sich fast alle feindselig begegneten.

Polen gegen Deutsche, Deutsche gegen Polen, Katholiken gegen Protestanten, ja und alle gegen die Juden.

Und so viele Familientragödien bis zum Krieg, den sie aber nur noch teilweise vorort erlebt habe, denn eine wohlhabende Verwandte in Amerika hatte sie im Jahr 1941 zu sich geholt, warum das wolle sie nicht erzählen. Die Mutter und die Schwester seien geblieben und früh verstorben. Warum darüber wolle sie ebenso wenig sprechen. Nur soviel, es sei kein freiwilliger Tod gewesen und auch kein schöner. Hätten die beiden damals doch nur auf sie gehört.

»Seien Sie froh und dankbar, Kind, dass sie so leben können, wie sie das heute tun. Wir hätten das auch gerne getan, zuhause in Schlesien« sagt sie. Dann entschuldigte sie sich, sie wolle nun ein wenig lesen, was sich in der Welt zutrage. Nach einer Weile zahlt sie, streift sich lange schwarze Handschuhe über die zarten Hände und die schwarze Nummer, lächelt Anne an, bedankt sich für das kurze Gespräch, besser gesagt das nette Zuhören und verlässt anmutig das Café.

Anne blickt ihr nach, dieser Gang, diese Gestik, dieses Gesicht, faszinierend und irgendwie vertraut.

Es gibt sie diese Momente, in denen wir Menschen begegnen, in die wir mehr hineininterpretieren, als da ist.

So erklärt sich Anne eben diesen Moment. Sie hat zufällig eine Dame getroffen, die sie berührt, aus welchem Grund auch immer.

Der Schneefall ist stärker geworden, ein starker Wind weht um die Häuserblöcke und lässt die Schneeflocken seitwärts durch die Straßen peitschen. Weniger einladend kennt Anne New York nicht, aber noch ein Kaffee ist auch keine Option und ein wenig durch die leeren Straßen zu schweifen, das grenzt bei dieser sonst so hektischen Stadt an ein kleines Wunder. Also wird sie ein wenig durch die Stadt streifen.

Sie zahlt an der Theke, packt sich warm ein und taucht ein in das Winterwunderland New York. Zuerst Lexington, dann Fifth Avenue, die ersten Geschäfte öffnen und Bloomingdales singt den Tag mit I am dreaming of a White Christmas ein, des Vaters liebstes Weihnachtslied.

Anne weiß nicht, ob und wie idyllisch seine Kindheit und seine Weihnachtsfeste waren. Sie weiß nur, dass das Lied wohl dafür steht, wie er sich Weihnachten vorstellt.

Oh nein, das Telefon klingelt, sie hatte zwar die Emailfunktion deaktiviert, aber nicht den Handyempfang. Das Display zeigt keine Nummer, sie nimmt ab und realisiert binnen Sekunden, dass sie das wohl besser nicht getan hätte.

Er, für ihn vier Uhr morgens, für sie das Ende der Winterromantik. Wieso sie denn keine Nachricht gesendet habe, verschlüsselt versteht sich von selbst, warum sie denn nicht sofort auf einen neuen Flug umgebucht habe, ob sie denn allein sei, was sie so mache und ob sie überhaupt wüsste, wie schlecht es ihm gehe.

Ja, weiß sie, und versucht die Ruhe zu bewahren. Was sagt man einem Menschen, zu dem nichts durch dringt außer die Dramatik des eigenen Seins?

Sie testet die Wahrheit, es gebe für mindestens zwei Tage keine Flüge nach Deutschland, das liege nicht an ihr.

Sie wird nicht gehört, es folgt der übliche Monolog, endlos, in allen Details, bis die Verbindung abreist.

Es muss der Wind gewesen sein oder der niedrige Batteriestand oder ….

Es ist Anne, sie hält das Mobiltelefon mit gestrecktem Arm in den Wind bis die Tastatur voller Schnee ist, der geduldig zuhört. Dann drückt sie die Aus-Taste, für alle Funktionen, marschiert weiter, orientierungslos, von einem weihnachtlich dekorierten Schaufenster zum nächsten.

Sie muss mindestens zwei Stunden so durch die Straßen gestapft sein, ihre Stiefel sind nass, die Sohle beginnen einzufrieren, alle Zeichen stehen auf Rückzug an einen warmen Kamin.

Sie geht am Waldorf vorbei, das diese Art von Gemütlichkeit in den Lobbies leider nicht bietet, biegt die nächste Straße links ab und geht eine Weile ostwärts. Die Geschäfte, Sushi Restaurants, Deli Läden und Steakhäuser werden weniger, der Eindruck der Gastfreundlichkeit passt sich dem Wetter an und sie will bereits umkehren, als sie ein Fenster sieht, umrahmt von dunkelrotem Stoff, in dem sich ein Kaminfeuer spiegelt.

La Patagonia steht da über dem Eingang geschrieben, also ein Stück Argentinien, mutterseelenallein in einer Seitenstraße New Yorks, ohne Bäume, ohne Berge, ohne Seen und wohl auch ohne Gäste, wie sie beim Betreten feststellt. Vor dem Kamin ein altes, braunes Ledersofa, schon etwas abgesessen, darauf Flanellkissen mit Forellemotiven, am Tisch neben der Speisekarte eine Teekarte mit einer langen Liste von Mate Teesorten.

Vor zwanzig Jahren hätten vermutlich auch noch ein Aschenbecher auf den Tischen gestanden. Heute zieren rote Kerzen diese Plätze. Sie entledigt sich ihres Mantels, der Haube und Handschuhe, und macht es sich auf dem Sofa gemütlich.

Ihre Gedanken wandern nach Argentinien, an einen sehr ähnlichen Platz, zu schönen Stunden mit einem Glas Malbec und guten Gesprächen.

Für ein Glas Wein ist es noch zu früh, aber warum eigentlich? Sie bestellt den Hauswein, einen Malbec, was sonst, hört wie der Korken gezogen wird und da ist er, dieser süße Himbeerduft, diese Note von trinken und versinken, in diesem dunklen Rot, das alles verspricht und vieles nicht hält.

Gerade so wie die Liebe, denkt sie, und träumt weiter.

Weißer Schnee

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