Читать книгу Weißer Schnee - Petra Saf - Страница 4
1 Anne
ОглавлениеAnne sitzt in einem dieser Cafés, die kein Café sind, zumindest nicht so eines, wie sie es aus Europa kennt. Die Nacht war kurz, die Notlandung am gestrigen Abend heftig, das Wetter grauenvoll, wie das eben oft so ist in den Monaten der Winterstürme an der amerikanischen Ostküste.
Glück im Unglück, sie hat in letzter Minute eines der wenigen, noch verfügbaren Hotelzimmer in Manhattan gefunden. Nicht im Waldorf wie sonst, sondern in einem neuen Boutique Hotel in einer Seitenstraße. Moderner und nicht so modrig wie das noble alte Waldorf, das sich mit seinen Kristalllustern in den Gängen immer ein wenig wie die Titanic anfühlt. So zumindest empfindet sie das jedes Mal, wenn sie dort durch die verwinkelten Gänge geht.
Anders in diesem neuen Hotel. Die Lobby riecht frisch gestrichen, die Rezeptionistin auch. Alles ist, als sei es noch nie berührt worden. Der Front Desk, der Lift, der Teppichboden im Zimmer - weniger modern, aber so amerikanisch - das Bad und alles übrige auch. Aber an einem Tag wie diesem ist alles Neue eine Wohltat auf der Seele.
Das Wetter soll sich in den nächsten Tagen weiter derart verschlechtern, dass eine Totalsperre aller Flughäfen verordnet worden sei, teilt ihr die Rezeptionistin mit. Was für eine Willkommensnachricht gleich beim Check-in, sozusagen Hand in Hand mit der Magnetkarte fürs Zimmer. Sie bucht ohne langes Nachfragen gleich vier Nächte, das ist die durchschnittliche Verweildauer von heftigen Schneestürmen über New York. Anne weiß das, sie ist nicht zum ersten Mal in der Stadt. Dann folgt Routine, wie immer gleich ins Zimmer, Dusche und schlafen.
Um 7h weckt sie das Geräusch des Aufzuges, das klingt, als würde sich die Tür gleich neben ihr öffnen und wie angenehm, der Zimmerservice mit dem Frühstückswagen hereinrollen. Allein das bleibt ein Wunschtraum, denn es gibt keinen Zimmerservice an diesem chaotischen Wintermorgen, der die Stadt, ihre Einrichtungen und Bewohner lähmt. Der Zimmerservice geht nicht einmal ans Telefon und die Rezeption erklärt ihr, dass viele Mitarbeiter heute morgen nicht zum Dienst erschienen seien, da verkehrstechnisch gar nichts mehr geht.
Anne wird also auswärts frühstücken müssen.
Die Straßen sind nicht geräumt, der Schnee liegt fast kniehoch, es gibt kaum Taxis und eines der wenigen Zeichen von Leben sind die Warmluftschwaden, die aus den Kanaldeckeln emporsteigen.
Anne liebt den Schnee, seitdem sie denken kann, aber warum, das weiß sie nicht so richtig. Sie umrundet mehrere Blöcke, die meisten Coffee Shops sind noch geschlossen, aber dann nach fast einer halben Stunde, ist da eine kleine Bäckerei, die gerade als sie vorbeigehen will, die Lichter anmacht und in der, sie traut kaum ihren Augen, ein alter Mann mit weißer Bäckerschürze in diesem Moment einen Mohnstrudel in eine der Vitrinen stellt.
Richtigen Mohnstrudel, saftig, dick und goldbraun gebacken, überzogen mit einer dichten Schicht aus Puderzucker, weiß wie der Schnee. Mohnstrudel wie er in Polen oder besser gesagt im schlesischen Teil Polens Tradition ist. Mohnstrudel wie ihn der Vater liebt, als wäre darin die Süße der Kindheit verpackt. Immer wieder verlangt er danach, frisch gebacken, und sehr süß muss er sein. Denn es ist wohl in Wirklichkeit keine süße Kindheit gewesen, glaubt sie. Das ist ihre Annahme, ein Verdacht, denn er hat nie wirklich von seiner Kindheit erzählt.
Anne findet, dieses Café ist der richtige Ort für Ihr Frühstück und tritt ein. Da sitzt sie nun vor einem halben Liter schwarzem Kaffee und einem Stück lauwarmem Mohnstrudel.
Der Duft des warmen Mohns steigt ihr in den Kopf und mit dem Duft wirre Gedanken, wie es gewesen sein könnte, damals als eine Familie sich auf den Weg machte, um eine Familie zu werden, deren einzelne Mitglieder sich dann wiederum auf den Weg machten, um keine Familie mehr zu sein.
Das Leben ist seltsam.
Man wird geboren, wächst heran, beginnt auf eigenen Füssen zu stehen und zu gehen, betritt und bereist die große weite Welt, kennt fast alles und nie
genug, erlebt vieles und will immer mehr.
Aber wo man herkommt, das wissen viele nicht, denkt Anne. Das trifft auch für sie selbst zu.
Ihre Geschichte und Zeitzählung beginnen mit den Eltern und den Großeltern mütterlicherseits. Die Zeit davor hat irgendjemand geschwärzt. Antworten auf Fragen bekommt sie nicht, man solle die Vergangenheit ruhen lassen.
Das ist es, was die Vergangenheit am besten kann, sagen die Eltern.
Wie kann man nur so ignorant, uninteressiert, unreflektiert sein, so banal im Jetzt dahinleben? Wie kann man die nächste Generation über frühere Generationen im Unwissen lassen? Haben die Eltern denn nicht verstanden, dass Vergangenes Teil der Gegenwart ist und die Vergangenheit die beste Lehrerin der Zukunft ist?
Manchmal kann Anne nur schwer glauben, dass ihre Eltern so sind wie sie sind.
Und nachdem sie weiß, dass es den ganzen Tag schneien wird und es selbst in New York für sie nichts zu kaufen gibt, was sie nicht schon besitzt, beginnt sie zu träumen.
Davon wie es gewesen sein könnte, wozu es geführt haben könnte, warum es nicht anders kommen konnte und was von allem geblieben ist.
Wovon nie erzählt wurde, weil die Worte nicht gefunden werden konnten oder wollten.
Annes Traum von der Geschichte einer Familie beginnt an einem verschneiten Dezembertag des Jahres 2008 in New York City.
Wo und wann er enden wird?
Das wird man sehen.